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Stefan Hölscher: Schöne neue Lyrikwelt

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Stefan Hölscher
Schöne neue Lyrikwelt


Die kritische Diskussion, die sich hier in den vergangenen Tagen entfaltet hat, finde ich ausgesprochen wohltuend und erfrischend. Und so verschieden die vorgetragenen Meinungen von Amadé Esperer, Timo Brandt und Jan Kuhlbrodt klingen mögen, ich kann jeder zunächst mal eine ganze Menge abgewinnen: Die kritischen Punkte von Esperer, bezogen auf den untersuchten Gedichtband von Thilo Krause, finde ich durchaus nachvollziehbar und auch einige seiner allgemeinen Statements zu Qualitätsanforderungen von Lyrik. Das offenherzig formulierte Plädoyer von Brandt für mehr Toleranz und Offenheit gegenüber verschiedenen poetologischen Ansätzen und Rezeptionskriterien finde ich geradezu wunderbar. Und den Hinweis von Kuhlbrodt, dass es nicht reichen könne, alles dem bloß subjektiven Gefallen anheim zu stellen, sondern dass es im Zusammenhang mit der jeweiligen Form quasi interne Qualitätsanforderungen gibt, finde ich mehr als berechtigt. Gleichzeitig sympathisiere ich in dieser Debatte gerade am stärksten mit dem Anliegen von Timo Brandt, und zwar nicht, um nun doch der subjektiven Beliebigkeit das Wort zu reden – so verstehe ich Brandt auch gar nicht –, sondern einer größeren Offenheit. Und das meine ich im Kontrast zu dem, was in der Sozialpsychologie In-group-Denken genannt wird, ein durch die Maßstäbe der eigenen Gruppe zentriertes und verzerrtes Wahrnehmen, Denken und Handeln, das Abschottungen und Polarisierungen Vorschub leistet. Um es vorweg zu sagen: Einen solchen Bias erlebe ich in der gegenwärtigen deutschsprachigen Lyrikszene als nicht gerade wenig ausgeprägt.

Im Einleitungskapitel seiner, wie ich finde, sehr lesenswerten Abhandlung „Poetisch denken“ beschreibt Christian Metz mit deutlicher Bewunderung den Kosmos der „neuen Leute“ der deutschsprachigen Lyrik: In diesem Kosmos wird Lyrik geschrieben, in von Lyriker*innen gegründeten Kleinstverlagen (wie etwa kookbooks) verlegt, von Lyriker*innen gelesen, von Lyriker*innen rezensiert und zumeist auch von Lyriker*innen gepreiskrönt. Obendrein gibt es Hochschulen und Institute, an denen Lyriker*innen nachfolgende Lyriker*innen ausbilden. Ein kleines Universum für sich! Und all das verdient, wie ich finde, tatsächlich und ganz unironisch gemeint, Bewunderung, weil es mit so viel Engagement, Mut, der Bereitschaft zum materiellen Verzicht und vitaler Konsequenz gelebt wird. Allerdings geht dabei auch, und dieser Aspekt kommt mir in Metz‘ Buch entschieden zu kurz, der Außenbezug zu anderen sozialen Universen ein wenig verloren. Man/frau orientiert sich vor allem an seines-/ihresgleichen, vor allem in der Art, wie geschrieben wird und welche explizit oder implizit angelegten Kriterien der Lyrik zugrunde gelegt werden. Bei aller Offenheit für unterschiedlichste inhaltliche Referenzpunkte von Lyrik entsteht so eine, wie ich finde, heftige Selbstbezüglichkeit, die man um ein Heideggerwort etwas abzuwandeln und in die gendergerechte Gegenwart zu befördern, als eine existenzielle Leser*innenvergessenheit allererster Güte bezeichnen könnte. Die wunderbare Befriedigung unablässiger Selbstbefummelung.  

Wenn Christoph Buchwald als der Dauerherausgeber des Jahrbuchs der Lyrik im Nachwort zum Band 2018 feststellt, dass die Auflage dieses Jahrbuchs von 8000 [auch schon nicht gerade viel!] auf 2000 geschrumpft sei, so könnte man dies als schrilles Alarmsignal verstehen. Wenn selbst die Sammlung der von Lyrik-Profis als am besten / kreativsten / originellsten erachteten Gedichte eines ganzen Jahrgangs nur 2000 von über 80 Millionen potenziellen Leser*innen erreicht, dann könnte man meinen: Dies ist ein absolutes Fiasko. Ich habe aber den Eindruck, dass man/frau im kleinen Lyrikkosmos sich damit längst abgefunden hat, wie auch mit anderen Phänomenen krassen Publikumsverlusts.

Betont wird stattdessen gerne, wie vielfältig und vital doch die Szene sei; und das ist sie ja in gewisser Hinsicht auch; denn natürlich gibt es die unterschiedlichsten Arten von aktuellen Gedichten. Man findet immer auch ‚die anderen‘, wenn man ein Bisschen Ausschau hält. Metz spricht davon, die Gegenwartslyrik bewege sich in einem hochreflektierten Spannungsfeld von Erlebnis, Avantgarde und Pop. Und in einem solchen Feld sind natürlich auch unterschiedlichste Spielarten und Konstellationen möglich. Und nicht nur möglich, sondern durchaus auch vorfindbar.

Allerdings, so ist jedenfalls mein Eindruck, überwiegt hier doch insgesamt recht stark dasjenige Element, das Metz als avantgardistisch bezeichnet und das man je nach Ausgestaltung und Intensitätsgrad auch als ganz schön konstruiert, geschraubt, verquast oder abgefahren bezeichnen könnte – was durchaus alles immer noch originell und spannend sein kann. Doch wie so oft im Leben bestimmt auch hier die Dosis das Gift und die hinter der Produktion steckende Haltung. Und die scheint mir zu oft so zu sein, dass man/frau es geradezu als Ausweis der ganz besonders individuell ausgefeilten und gehaltvollen poetischen Erkenntnisverdichtung ansieht, wenn man/frau so schreibt, dass damit systematisch und geradezu intendiert 99,99% aller Leser*innen abgehängt werden, und zwar so, dass sie sich so was von vornherein erst gar nicht mehr anschauen oder es sehr schnell wieder zur Seite legen.

Ein Schulfreund von mir, durchaus weltoffen, belesen und inspirierbar, meinte, nachdem er sich von mir mal ein paar Bücher von aktuellen Lyriker*innen ausgeliehen und sich eine Weile damit beschäftigt hatte: „Das macht Lust, nicht zu lesen.“ Und diese Lust, das Buch erst gar nicht mehr aufzuschlagen, wurde – so mein Eindruck und so wohl auch die nüchternen Zahlen – schon recht nachhaltig in die Welt getragen. Herzlichen Glückwunsch!

Der auf Kinderklamauk spezialisierte Rezo erreicht mit seinem einstündigen und ja doch sehr argumentativ gehaltenen Video zur „Zerstörung der CDU“ 13 Millionen Menschen. Wenn ein Gedicht der „neuen“ oder noch neueren „Leute“ heute mal 13000 Leser*innen erreichen würde, wäre es eine echte Sensation. Man/frau begnügt sich eher mit 130. Was auch völlig legitim sein kann. Man/frau dürfte auch ganz allein nur für sich produzieren. Es gibt nichts, was das verbietet. Aber vielleicht werden hier doch ein paar Möglichkeiten verschenkt und viele potenziell erreichbare Empfänger*innen etwas außer Acht gelassen. Man könnte auch sagen, um nun kurz vor Schluss noch ein ganz böses Wort ins Spiel zu bringen: Es ist der Markt, der hier ignoriert wird.

Doch Gott sei Dank – und hier zeigt sich nun spätestens die gänzlich unoriginelle und polemische Inadäquatheit meiner Kritik –: Wenn sich die „neuen Leute“ in etwas durch und durch einig sind, dann darin, wie übel Markt und Marktwerte eigentlich sind. Es amortisiert sich nicht, und das ist auch gut so! Als Psychologe könnte ich hier sagen: Ein psychohygienisch verstehbarer Selbstwertschutz, wenn man/frau vom ignorierten Markt auch selbst so übel ignoriert wird. Als Unternehmensberater (igitt) könnte ich sagen: Auf Dauer nicht sehr clever, den Markt so zu ignorieren. Als jemand, der Lyrik liebt, sage ich aber einfach: Wie schade! Natürlich geht es nicht darum, für den Markt zu schreiben, aber – und hier sind wir wieder beim Anliegen von Timo Brandt –, es könnte um mehr Offenheit gehen: nicht nur in der Rezeption und Kritik, sondern schon in der Produktion und poetologischen Position. Um es in den Kategorien von Metz zu sagen: Gelegentlich wären etwas mehr Pop und etwas weniger Avantgarde auch gar nicht so schlecht. Auf jeden Fall mehr gelebte Vielfalt in den Mischungsverhältnissen, den Ansätzen, Perspektiven, Produktions- und Rezeptionskriterien. Man könnte auch sagen: Was gut täte, wäre ein wenig mehr Kontakt nach außen, denn es grünt das Gras nicht nur im Schrebergärtchen der wohlgehüteten, feinen Lyriklandschaft.
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