Timo Brandt: Bei aller Poetik
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Timo Brandt
Bei aller
Poetik
Von 2014-2018 habe ich in Wien Sprachkunst studiert,
ein Studium für kreatives Schreiben und alle anderen Formen von Kunst, in denen
Sprache eine zentrale Rolle spielt. Viele verschiedene Dichter*innen waren in
diesen vier Jahren Dozent*innen am Institut: Steffen Popp, Monika Rinck, Ulf
Stolterfoht, Uljana Wolf, Julian Schutting, Anja Utler und Alexander Nitzberg,
um nur einige zu nennen.
Letzterer leitete ein Semester lang ein Seminar über
Rezitation, also den Vortrag von Gedichten. Ich weiß noch, dass ich ein paar
Mal mit ihm aneinandergeriet, weil er u.a. die mündliche Tradition über die
schriftliche stellte und mehrfach betonte, für ihn sei ein Gedicht auf dem
Papier nur eine (leblose) Partitur – erst rezitiert, vorgetragen, könne es ein
Gedicht genannt werden.
Im Nachhinein kann ich diese Ansichten als
interessante Herangehensweise akzeptieren, damals, dogmatisch in den Raum
gestellt, waren sie mir lediglich ein Dorn im Auge. Ein tagtägliches Phänomen:
Jemand sagt „So sehe ich es“ und du hörst vor allem „Du siehst es falsch“. Die
Meinungsäußerung eines anderen sofort auf sich und die eigenen Vorstellungen zu
beziehen, ist ein häufiger und, bei einigen Themen, unvermeidbarer Reflex, denn
Meinungen können einander in mancherlei Hinsicht ausschließen oder zumindest
schwer vereinbar sein und folglich im selben Raum schwer zu gleichen Teilen
ausgelebt werden. Richtlinie ist dann meist der größte gesellschaftliche
Konsens oder einfach die Trägheit der Konvention.
Gedichte aber (und Kunst allgemein, denke ich, doch bleiben wir beim Gedicht), die auf verschiedensten Meinungen, verschiedensten
Formen von Poetik basieren, können sehr wohl im selben Raum existieren und
ausgelebt werden, ja, sie können dabei sogar von den entstehenden
Spannungsfeldern profitieren. Ich werde nie verstehen, warum Leute anscheinend
immer wieder glauben und propagieren, Kunst ergebe sich aus der Einigkeit einer
Zeit darüber, was Qualität ist. Pardon, aber das ist Unfug, vielleicht nicht in
der Theorie, aber in der Praxis.
Kunst ist erstmal ein individueller Ausdruck, das
Ergebnis vielfältiger Motivationen. Natürlich gibt es Kategorien der Qualität,
die man anwenden kann und von denen viele etwas für sich haben. Es gibt Werke,
die herausragend sind, und welche, die es nicht sind; Werke, die elaboriert sind, und Werke mit sehr geringen Ansprüchen; manche Werke sind komplex und (un)ausdeutbar,
manche zielen auf eine Botschaft ab, versuchen etwas möglichst prägnant zu
formulieren. Aber deswegen ist nicht das eine ein gutes, das andere ein schlechtes
Werk. Um einen etwas unorthodoxen Vergleich zu wagen: man kann auch von Dingen
satt werden, die keine erlesene Gaumenfreude sind (und kann man eine
Gesellschaft, die nur erlesene Gaumenfreuden gelten lässt, nicht zurecht als
dekadent bezeichnen?). Und Sättigung ist ein wichtiger Aspekt, wer sie
ausklammert, der ignoriert ein fundamentales Bedürfnis.
Wer einen allgemeinen Maßstab für ein gutes Gedicht
festlegen wollte, der könnte auch gleich versuchen, einen allgemeinen Maßstab
für „guten“ Sex festzulegen – und wird dabei wohl zu dem Ergebnis kommen, dass
man diesen Maßstab ziemlich frei und variabel gestalten muss, damit alle
Spielarten Platz haben. Und genauso wenig, wie in einer aufgeklärten
Gesellschaft Morallehren etwas beim Sex (unter „Sex“ fällt für mich
selbstverständlich nur jede einvernehmliche sexuelle Handlung) verloren haben,
sollte Kunst in einer solchen Gesellschaft von irgendeiner Form von
ästhetischer Vorstellung dominiert werden (wenngleich es jede Form natürlich
geben soll und sie auch ihre Prinzipien darlegen darf).
Das Großartige an der Kunst ist doch, dass in ihr
keine dezidierte Meinung erkennbar werden, verlautbart werden muss. Warum also
eine dezidierte Meinung zu ihrer Herstellungs- oder Betrachtungs- oder
Interpretationsweise über alle anderen stellen und damit hintertreiben, was
Kunst ausmacht? Ist nicht jede Spielform eine Bereicherung der Lyrik
(vielleicht nicht des persönlichen Geschmackes, aber der Idee des
Ausdrückbaren, des Ausdrücklichen, und ihrer Breite, Fülle)? Und ist nicht jede
Herangehensweise an ein Gedicht erstmal eine Bereicherung für die Gedichtrezeption?
Es geht ja eben nicht darum, diese verschiedenen
Herangehensweisen zu übernehmen. Das meinte ich mit: verschiedene Meinungen
müssen sich bei der Lyrik weder ergänzen, noch übereinstimmen, denn Lyrik ist
keine Glaubensrichtung, die auf ihre Bibel wartet. Sie ist ein Feld, auf dem
jede/r sich hervortun darf, und sie dient keinem Herren/keiner Herrin, sie
bedarf keiner Aristokratie oder Elite und keiner Scholastik.
Was wiederum nicht bedeutet, dass jedes Gedicht sich
nicht Fragen gefallen lassen muss, welche die mittransportierte Ethik
betreffen oder einen anderen Aspekt der Art und Weise, wie sie gemacht sind und
welche Motive ihnen innewohnen. Kritik als Form der Meditation über den
Gegenstand und auch der individuellen Wertung, ist wichtig und notwendig,
gehört mit zum Prozess der Erschließung von Herangehensweisen und Spielarten.
Des Weiteren hat Alfred Polgar einmal gesagt: „Einer guten Kritik sollte auch die
Möglichkeit innewohnen, den Leser vom Gegenteil der eigenen Position zu
überzeugen.“
Kunst, Gedichte, sie dürfen keine Ausflucht in eine
festgelegte Überzeugung werden, dann hätten Menschen keinen Grund mehr, sich
ihnen mit besonderen Erwartungen und Hoffnungen zuzuwenden. Dann werden sie zu
einer Ersatzreligion, Ersatzpropaganda, Ersatzmoral.
Ich wünsche mir mehr Toleranz, mehr Achtung; mehr
Bewusstsein, dahingehend, dass wir und das, was uns gefällt, nicht der Nabel
der Welt sind. Selbstverständlich will man nicht unterrepräsentiert sehen, was
einer/m am besten und wichtigsten erscheint. Aber deswegen muss man anderen
Richtungen und Ausprägungen noch lange keine Stigmen „andichten“. Lasst uns
gern über einzelne Gedichte reden und streiten. Aber meiden wir doch die
Hybris, bitte!
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