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Amadé Esperer: Was wir reden, wenn es gewittert

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Amadé Esperer

Was wir reden, wenn es gewittert


Was ist ein gutes Gedicht? Was ist überhaupt ein Gedicht? Mit diesen Fragen konfrontiert mich die Lektüre des bei Hanser erschienenen Bandes »Was wir reden, wenn es gewittert«. Sehr Vieles und sehr Kluges wurde schon darüber geschrieben, was ein Gedicht ausmacht. Letzten Endes sind es viele Faktoren, die ein Gedicht, zumal ein gutes, ausmachen. Dass die Beantwortung dieser Frage nicht einfach und auch literaturwissenschaftlich schwierig sein, ja sogar ins Absurde führen kann, wenn man eine allumfassende Formel angeben will, lässt sich bei Dieter Lamping¹ nachlesen. Wie so oft fallen auch in der Dichtung die entscheidenden Würfel in der Praxis. Jeder ernsthafte Lyriker (m/w) stellt sich ja im Grunde die Frage, was er bzw. sie da macht, wenn er, sie ein Gedicht schreibt. Auch der noch nicht fortgeschrittene Lyriker (m/w) merkt bald, dass es zwar eine unabdingbare Voraussetzung ist, das poetologische Handwerk zu beherrschen. Dass dies aber nicht genügt, dass ein gutes Gedicht mehr verlangt: Er, sie, weiß, dass es nicht damit getan ist, das Satzgefüge eines Prosatextes an irgendwelchen Stellen durch Zeilensprünge zu unterbrechen, links- oder rechtsbündig anzuordnen, und dann zu hoffen, ein Gedicht fabriziert zu haben. Er, sie weiß, dass Enjambements, sinnvoll eingesetzt, raffinierte Mittel der semantischen Bereicherung sein können, dass Zeilenumbrüche per se aber noch lange keine Enjambements darstellen, sondern eben Zeilenumbrüche. Aber auch diese sollten einer poetischen Notwendigkeit folgen, um sich von bloß willkürlich umgebrochener Prosa zu unterscheiden. Der Autor (m/w) weiß, dass Lyrik harte Arbeit ist. Nicht nur formal, aber dies natürlich auch. Harte Arbeit, die, allgemein gesprochen, darin besteht, aus einem subjektiven Gefühl, einem aus der Innen- oder Außenwelt stammenden Impuls, sprachlich dergestalt Ausdruck zu verleihen, dass der entstehende Text mehr als nur einer ist, der bloß den Schreiber angeht, dass der Text mehr ist als pures Notat einer privaten Impression.  

Der Lyriker (m/w) weiß, dass dem Gedicht ein »Gewisses Etwas« verliehen werden muss, und, dass es dieses »Gewisse Etwas« ist, das dem Gedicht seinen ästhetischen Mehrwert verleiht, das es potentiell zu einem Gedicht macht, in dem nicht nur der Autor (m/w), sondern die Leser (m/w) sich finden. Dieses »Gewisse Etwas« kann sich schon äußerlich in der Form ausdrücken. So signalisiert ein Sonett etwas ganz anderes als eine Liedform oder als ein in Terzinen gehaltenes Gedicht. Und eine freie Form signalisiert dem Leser wieder etwas anderes. Auch der Rhythmus und die Klanggestalt eines Gedichts tragen wesentlich zum »Gedichtsein« bei. Aber dies alles macht noch kein gutes Gedicht. Das »Gewisse Etwas« eines guten Gedichts wird ganz wesentlich gespeist von Einfallsreichtum, von Originalität, von überraschenden Metaphern, von adäquaten Metonymien, von eindrucksvollen Bildern, von Musikalität, von Ironie und noch vielem mehr. Vor allem aber von Sprachmagie, poetischer Fantasie und von dem Quäntchen Mehrdeutigkeit, das das Gedicht zum Schwingen und Schweben bringt.

Vor allem bei Texten, die den freien Vers verwenden, muss zum Inhalt dieses »Gewisse poetische Etwas« kommen, um den Text als Gedicht zu beglaubigen. Es waren immer wieder bedeutende Autoren, wie Pound, Borges und Brecht, die vor den Problemen und Gefahren freier Rhythmen bzw. freier Formen gewarnt haben. Borges etwa hielt es für einen Fehler, dass junge Autoren (m/w) mit dem Schwierigsten, dem freien Vers, beginnen. Diese Mahnung hat gerade heute umso mehr Gewicht, als der Großteil aktueller Gedichte, vor allem der der sog. Jungen Lyrik, in freiem Vers verfasst ist.

In dem Band »Was wir reden, wenn es gewittert«, begegnen einem denn auch nur »freie Verse«, oder besser gesagt, zeilengebrochene Prosa. Zwar sind viele der Texte in drei- oder zweizeilige Strophen gegliedert, aber die willkürlich langen Zeilen lassen weder ein Metrum noch einen plausiblen Rhythmus erahnen. Schön, ein Autor, eine Autorin, muss nicht unbedingt zeigen, dass er, sie auch die klassischen Formen, wie Sonett oder Terzine beherrscht, dass er, sie gar mit sapphischer, alkäischer oder asklepiadischer Strophenform etwas anzufangen weiß. Nein, das gewiss nicht. Aber er, sie sollte sich im Klaren darüber sein, dass auch ein aus freien Versen komponierter Text weit mehr als lapidaren über die Zeile gebrochenen Inhalt bieten sollte, um als Gedicht aufblühen zu können.

Zwar wecken im vorliegenden Band die Anfangszeilen der einzelnen Textgebilde immer wieder das Interesse, etwa wenn es in dem mit »III« überschriebenen Text »Weg zur Arbeit« heißt:

Die Straßenbahn dreht ab unter der Eisenbahntrasse
verwilderter Schlenker im Nirgendwo
von Holunder und Gummis…    

oder:

WIE WIR FINGER AUF FINGER LEGTEN
an den Scheiben der Züge
innen, außen…    

oder auch in dem mit »Mehr wider als für« überschriebenen Text

…Du schliefst unter der hohen Stille der Buchen…

Aber in den jeweils folgenden Zeilen wird die Hoffnung, es folge nun etwas Interessantes, sogleich wieder enttäuscht. Die oft schrägen Bilder wirken dabei mitunter sogar recht komisch, wenngleich die Gedichte nicht parodistisch gemeint sind. So wie etwa in »Heute«:

Die Katze trägt ihr Junges im Maul.
Die Häuser gleiten still. Hohe Kulissen
Ich schnurre
lote mit den Beinen

die Leere.            

Oder in »Life vest under your seat«:

Ein Fenster geht nach gestern, eins nach morgen.
Ich schaue hinaus in beide Richtungen zugleich.

Das muss ja ein anatomisch ganz besonderes ausgestattetes Doppelkopfwesen sein, das es fertigbringt, gleichzeitig durch diese beiden Fenster nach vorne und nach hinten zu blicken, sagt sich der Leser (m/w) belustigt. Ein nicht minder belustigtes Gefühl beschleicht einen auch beim Lesen folgender Zeile aus »V / Schreibschriften«:

Draußen fließen Bäume ums Haus…

Das Bild, dass draußen Bäume fließen, wirkte allenfalls dann nicht schräg, wenn es da ein Hochwasser oder einen Strom gäbe, mit bzw. auf dem die Bäume »fließen« könnten. In V aber jagen drinnen die Schatten, und von Wasser ist weit und breit nicht die Rede.

Wie gesagt, der freie Vers stellt hohe, wenn nicht höchste Anforderungen, und es helfen auch weder englische Titel noch italienische Prunkzitate, um ein wirkliches Gedicht entstehen zu lassen. Selbst wenn Bashō oder Montale beschworen werden. Auch die allenthalben (leider) verwendeten Genitiv-Metaphern vermögen es nicht, die Blässe des zeilengebrochenen, vor sich hin tropfenden Parlandos der einzelnen Textgebilde (sind es Gedichte?) zu übertünchen. Und der Inhalt? Nun der Inhalt der meisten Textgebilde ist dergestalt, dass man sich immer wieder sagt: So what! Why should I care? Where‘ s the magic?

Betrachten wir zur Abwechslung einmal folgende Zeilen:

So wird niemand wissen
von unseren Atemstößen
als wir über die Brücke liefen,
und was hinter uns liegt,
erfahren sie nicht…

Die Vorhallen der Spitäler
sind still.²              

Das Gedicht beginnt zunächst relativ harmlos mit der Schilderung einer Privates atmenden Szene. Es ist von einem »Wir« die Rede, aber irgendwie atmet bereits die zweite Zeile eine gewisse Dramatik: Die »Atemstöße« jedenfalls wecken Erwartungen und lassen einen gespannt weiterlesen: Was wird passieren beim Überqueren der Brücke? Wird es zu Erotischem oder zu Verbrecherischem kommen? Oder zu beidem? Die letzten beiden Zeilen des Gedichts verschweigen es höflich. Aber sie werfen durch ihr Verschweigen einen grellen Schatten auf das, was geschehen ist und zwingen uns, weiterzudenken. Und wir kommen ins Grübeln. Wie beim Betrachten eines Hopper-Gemäldes.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die ersten siebeneinhalb Zeilen eines anderen Gedichts:

Das laub feudelt im wind, vergnüglich,
oder eher: es scheut jetzt und speichert
den ingrimm des winds. laub verfährt so,
oder lässt so mit sich verfahren? Kooperiert,
reißt sich auf, peitscht hoch gebogen zurück,
und – das ist mehr als seltsam –  jetzt steht es.
Steht grimmig im wind. Sottobosco, beleuchtet,
auf teuflisches hin …….³     

Obwohl die Zeilen dieses Gedichts von nichts als Laub handeln, signalisiert schon das Wort »feudeln« etwas Ungewohntes und weckt damit unser Interesse. Und beim Weiterlesen beschleicht uns bereits nach wenigen Worten das Gefühl, dass von mehr als nur von Laub die Rede ist. Dass sich Laub hier nicht wie normales Laub, sondern wie ein gefühlsbegabtes Wesen verhält. Und schon ist uns klar: Anthropomorphisierung von Unbeseeltem! Na und? Wenn wir doch gespannt weiterlesen. Und ob wir das tun! Denn dieses Gras ist hochemotional und hält uns in Atem, solange, bis wir das Gedicht zu Ende gelesen haben. Und die ästhetisch geweckte Neugierde wird tatsächlich gestillt. Und den letzten beiden Gedichtpassagen, die ich hier zum Vergleich mit den Textabschnitten aus dem Hanser-Band hereingeschmuggelt habe, eignet nun in der Tat die Eigenschaft, das »Gewisse lyrische Etwas« auszustrahlen. Genau jenes »Gewisse lyrische Etwas«, das uns in seinen Bann zu ziehen in der Lage ist und das aus ein paar scheinbar lässig hingeworfenen Zeilen mehr als eine private Notiz, nämlich ein Gedicht macht. Und die Gedichte, aus denen die ausgeschnittenen Zeilen stammen, zeigen tatsächlich, dass Lyrik weit mehr ist als das, was wir reden, wenn es gewittert.


¹ Dieter Lamping: Der Nobelpreis für Lyrik. Glossen über Gedichte. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2014.
² »Ende des Ungeschriebenen« aus: Verschenkter Rat. Ilse Aichinger: Gedichte. Vierte Auflage. Fischer, Frankfurt am Main, 2008.
³ »II. Das erstarrte Laub« aus: Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch. Monika Rink. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2019.

Thilo Krause: Was wir reden, wenn es gewittert. Gedichte. München (Edition Lyrik Kabinett – Carl Hanser Verlag) 2018. 128 Seiten. 18,00 Euro.
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