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Jan Kuhlbrodt: Zur Kritik

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Lyrikkritik
Jan Kuhlbrodt

Zur Kritik


Da ist was faul an dem Gedicht
denn am Ende reimt sichs kaum.
(Paul Maar)

1.

In den letztenTagen wurden auf dieser Seite zwei Texte veröffentlicht, die sich mehr oder weniger mit dem Verständnis von Kritik beschäftigen, beziehungsweise mit dem Selbstverständnis des Kritikers. Ich habe das Gefühl, dass bei den meisten gilt: Gut ist, was gefällt.

Bei Timo Brandt hört sich das so an:

Das Großartige an der Kunst ist doch, dass in ihr keine dezidierte Meinung erkennbar werden, verlautbart werden muss. Warum also eine dezidierte Meinung zu ihrer Herstellungs- oder Betrachtungs- oder Interpretationsweise über alle anderen stellen und damit hintertreiben, was Kunst ausmacht? Ist nicht jede Spielform eine Bereicherung der Lyrik (vielleicht nicht des persönlichen Geschmackes, aber der Idee des Ausdrückbaren, des Ausdrücklichen, und ihrer Breite, Fülle)? Und ist nicht jede Herangehensweise an ein Gedicht erstmal eine Bereicherung für die Gedichtrezeption?

Damit aber wird die Sache ins rein Subjektive gezogen, und das Urteil entzieht sich seinerseits einem Urteil, bleibt beim Bloßen und Trotzigen: Gefällt mir eben. Schnell ist man bei der verbreiteten Aussage: Über Geschmack kann man nicht streiten. Wenn man über etwas nicht streiten kann, dann kann es auch kein Gegenstand eines Diskurses sein. Es bleibt bloße Behauptung; steht neben anderen Behauptungen und führt in den Dogmatismus, den es seinem Kritiker gern vorwirft.
    Gegen das Gefallen ist ja nichts einzuwenden, aber es ist bei diesem Statement so, dass es von keinerlei weiterem Interesse ist, eine Privatmeinung, und schlimmer noch, es würde sich den Marktmechanismen angleichen, die die Qualität eines Produktes an der Verkaufsmenge bemessen.
Ein Geschmacksurteil kann also nur der Anfang einer Auseinandersetzung sein, und spannend auch für andere wird es erst, wenn man fragt: Warum gefällt es?


2.

Spätestens seit Beginn der Moderne verloren die Regelpoetiken an Gültigkeit. Es geht also nicht mehr darum, bestimmte formale Kriterien, das Versmaß, das Reimschema usw. exakt einzuhalten, um einen Text zu rechtfertigen. Das heißt aber nicht, dass es diese Kriterien nicht mehr gäbe, ein Sonett bleibt ein Sonett, eine Elegie eine Elegie, und in der Einhaltung zeigt sich auch das artistische Vermögen der Autorin/des Autors, aber eben nur das. Das einzelne Gedicht aber formuliert seinen Anspruch gewissermaßen von innen. Bekennt sich als Sonett et al nicht, weil es die Form einhalten muss, sondern weil es sie zitiert, zuweilen mit ihr spielt und sie beispielsweise kalkuliert verletzt.
    Uns sind also die Kategorien abhandengekommen, mit denen wir einen Text einschätzen können, oder böse ausgedrückt: Über ihn richten wollen.
    So scheint es zunächst, aber das stimmt nicht ganz. Bestimmte Kategorien haben eben ihren normativen Charakter verloren, ihre Allgemeingültigkeit. Ließen wir es aber dabei bewenden, fänden wir uns in der Stimmung des leicht trotteligen Königs Peter aus dem Reiche Popo:

„Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruiniert. – Ha, was bedeutet der Knopf im Schnupftuch? Kerl, was bedeutet der Knopf, an was wollte ich mich erinnern?“


3.

Wenn in der Vergangenheit große Kunstwerke sich als geschlossen darstellten und in der Sprache einfach identisch, so sei dies nur ein Phänomen ihrer Oberfläche, schreibt Adorno. In Wahrheit seien sie "Kraftfelder, in denen der Konflikt zwischen der anbefohlenen Norm und dem ausgetragen wird, was in ihnen Laut sucht." Und das gilt, meine ich, sowohl für die Vergangenheit als auch für gegenwärtige Kunst. Nur dass sich die „anbefohlene Norm“ verschoben hat. Sie kommt nicht mehr von außen, wird nicht von Kunstwärtern befohlen. Vielleicht könnte man sagen, dass die gegenwärtige Norm eine Normlosigkeit sei, bzw. dass das Kunstwerk sich heute seine Norm selbst formuliert.
    Und hier bin ich bei Esperers Kritik an Thilo Krause, die nämlich Krauses Gedichte an den gewissermaßen durch sie selbst formulierten Ansprüchen misst:

Wie gesagt, der freie Vers stellt hohe, wenn nicht höchste Anforderungen, und es helfen auch weder englische Titel noch italienische Prunkzitate, um ein wirkliches Gedicht entstehen zu lassen. Selbst wenn Bashō oder Montale beschworen werden. Auch die allenthalben (leider) verwendeten Genitiv-Metaphern vermögen es nicht, die Blässe des zeilengebrochenen, vor sich hin tropfenden Parlandos der einzelnen Textgebilde (sind es Gedichte?) zu übertünchen. Und der Inhalt? Nun der Inhalt der meisten Textgebilde ist dergestalt, dass man sich immer wieder sagt: So what! Why should I care? Where‘ s the magic?

Einzig der Term „wirkliches Gedicht“ stört mich an dieser Formulierung, denn auch schlechte Kunst ist wirklich und noch das schlechteste Gedicht ein Gedicht.

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