Slata Roschal: Gedichte, Essen und Sex
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Slata
Roschal
Gedichte, Essen und Sex
Kommentar
zu Timo Brandts „Bei aller Poetik“
Die
spannende Debatte, die sich gerade in den „Signaturen“ entwickelt, begann bei
zwei Vergleichen, Lyrik als „Sättigung“, die nicht immer zwangsweise eine
„erlesene Gaumenfreude“ darstellen muss,
und Lyrik als „Sex“ („selbstverständlich nur jede einvernehmliche
sexuelle Handlung“ ‒ warum eigentlich, Texte können sehr brutal sein), der für
alle „Spielarten“ offen, undogmatisch sein muss.
Das
tertium comparationis ist jeweils eine freudige Erfüllung, ob Sättigung,
sexuelle Befriedigung oder halt geistige Erquickung beim Lesen von Lyrik (Der
Mensch lebt nicht vom Brot allein...). Aber weiter wird es problematisch.
1.
„Sättigung“ lässt sich erreichen mithilfe von Tageszeitungen,
Verkehrsschildern, Hausverwaltungsbriefen. Lyrik ist Luxus, und Gourmets, die,
wenn, dann gute Lyrik bevorzugen, sind nicht „dekadent“, sondern verdienen
ernsthaften Respekt. Schließlich stehen sie dazu, Papier, Tinte und andere
Ressourcen zu sparen, solange die Texte nicht druckreif sind, und nachhaltige
Bücher zu produzieren. Und, ja, sie bleiben lieber länger hungrig, als zu
McDonalds zu gehen.
2.
Ist Sex ein öffentliches Ereignis? ‒ Ich kann mich an eine Aktion der
Künstlergruppe „Vojna“ von 2008 erinnern, die im Moskauer Biologiemuseum einfachen
Sex mit politischem Anspruch gezeigt hat. Für einsehbare „variable“ Praktiken gibt
es Pornografie; das, was mein Nachbar in seiner Wohnung macht, macht er nicht
im Treppenhaus, und wenn, wäre meine Reaktion einkalkuliert. Texte, die
ausgesucht, lektoriert, besprochen, korrigiert, sortiert, gesetzt, gedruckt,
beworben, rezensiert, verkauft werden, gehen deutlich über private Liebesarten
hinaus. „Toleranz“ bedeutet Duldung, höfliches Ignorieren; Literaturkritik aber
ist Aktivität.
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