Franz Blei: Das große Bestiarium der modernen Literatur, Teil 3
Memo/Essay > Memo
Franz Blei:
Das große Bestiarium der modernen Literatur
(1922)
Teil 3
Notwendige Exkurse
Erster Exkurs
Die
Geschichte der Ideen und ihrer Denkbarkeit ist die Geschichte ihrer
Ausdrückbarkeit. Wir denken das, was wir ausdrücken können und sonst nichts.
Nur so ist das Gesetz der Identität von Gedanke und Ausdruck, von Form und
Inhalt zu verstehen: als Gleichzeitigkeit ihres in die Erscheinungtretens.
Nicht die Ideen wachsen oder nehmen zu, sondern ihre Ausdrückbarkeit. Das
Unsagbare wird in dem Augenblick unser Besitz, in dem wir es als unsagbar
ausdrückten. Es wurde damit ein Paradox des Unmöglichen Wirklichkeit: das
Unsagbare ist als solches gesagt, das Formlose ist als solches geformt worden.
Die
Geschichte des Wirksamwerdens einer Idee ist kein seinslogisches, sondern ein
soziales Phänomen. Als solches, aber nur als solches, wird es in einer
historischen Darstellung seine Rolle spielen. Der Zustand heutiger
Literaturgeschichtsschreibung macht einige prinzipielle Bemerkungen nötig, auch
dazu bestimmt, dem Leser des Folgenden wie dieses ganzen Buches die Mühe zu
ersparen, darin etwas zu suchen, was er in seinen Literärgeschichten zu finden
gewohnt ist und hier nicht finden wird.
Es ist nicht
die Aufgabe einer literargeschichtlichen Darstellung, das Verständnis der
Kunstwerke zu beleben oder dazu anzuleiten oder es zu wecken. Kürzer: es ist
nicht die Aufgabe solcher Darstellungen, im Leser eine ästhetische Reproduktion
hervorzurufen. Die historische Darstellung muß vielmehr diese Reproduktion als
bereits stattgefunden voraussetzen, damit sie das werde, was sie sinnvoll – im
Sinne wissenschaftlicher Ökonomie – nur sein kann: Darstellung der
künstlerischen und literarischen Vorgänge, die sich in Wirklichkeit ereignet
haben. Jene erste ästhetische Reproduktion ist eine
einfache und betätigt sich schon, wenn der Mensch vor einem Kunstwerk in den
Ausruf »wunderbar« ausbricht – womit er aber noch kein Literarhistoriker wird,
wie alle jene sogenannten Literarhistoriker meinen, die in ihren Büchern nichts
anderes als solche »wunderbar« und »abscheulich« verlauten lassen, indem sie in
einem willkürlichen oder zufälligen Schematismus Autorennamen und Büchertitel
anhäufen und diese mit einer Flut von ästhetisch belanglosen lobenden und
tadelnden Beiworten wie mit Fleiß- und Straf zetteln überschütten, geholt aus
einem unerschöpflichen Füllhorn ethischen, ästhetischen und politischen
Stumpfsinns.
Der
Historiker dieses Namens würdig setzt also diese einfache Reproduktion des
Werkes als geschehen voraus und bringt diese bereits erfolgte Reproduktion zur
Darstellung. Die Literaturgeschichte ist, wie Croce sagt, ein historisches Kunstwerk
über ein oder mehrere andere Kunstwerke. Der sie zu schreiben unternimmt wird
in seiner Person ein Mensch von Geschmack, ein Unterrichteter und ein
Ästhetiker sein müssen, in welchen drei Arbeitsstadien jedes relativ unabhängig
ist, nämlich unabhängig vom folgenden, nicht aber vom vorausgehenden Stadium.
Und er muß historisch darstellen können. Was aber heißt das? Der Begriff des
Historischen ist vor jedem Mißverständnis zu schützen. Die Frage nach dem Wesen
des künstlerischen Vorganges ist keine historische, indem man etwa nach dem
»Ursprung der Kunst« fragt, sondern sie ist eine philosophische
Problemstellung, welche die Ästhetik zu lösen versucht. Als Frage nach der
»historischen Entwicklung der Kunst« ist sie überhaupt keine Problemstellung,
sondern nichts als Unsinn aus einem Mißverständnis. Da die Kunst kein
Naturprodukt ist, sondern als menschliches Wirken selber die Voraussetzung der
menschlichen Geschichte bildet, kann man nicht ihr historisches Entstehen
suchen wollen. Die Kunst ist keine auftauchende und verschwindende menschliche
Einrichtung wie etwa der Staat oder das Geld oder die Invaliditätsversicherung,
deren Ursprünge allerdings historisch feststellbar sind,
ebenso wie deren »Entwicklung« oder deren »Fortschritt« nach einem allseits bekannten
und gebilligten Ziel. Das Kind macht Fortschritte im Gehen in der Richtung auf
das Leistungsmaximum des Zieles Gehen. Die Sinnlosigkeit, von einem Fortschritt
der Kunst bei nicht vorhandenem Ziel zu sprechen, leuchtet ein. Es nimmt zwar
jede Darstellung menschlicher Geschichte so etwas wie einen Fortschritt an,
aber kein Gesetz solchen Fortschrittes, mit welchem Gesetze und sei es wie
immer die Darstellung die Geschichte selber aufhöbe – die Geschichte, d. h. das
empirische Geschehen in konkreten Vorgängen. Es ist aber dieser Begriff des
Fortschrittes für den Historiker nichts weiter als das, was man den
Gesichtspunkt nennt, nämlich des Historikers Idee von der Art der Lösung jenes
menschlichen Problems, dessen Geschichte er schreibt. Ohne diesen Begriff des
Fortschrittes, der in Wirklichkeit der Gesichtspunkt ist, entstünde das
Kunstwerk der Geschichtsschreibung gar nicht, sondern bliebe Chronik, in der
Kunst Katalog.
Der
Gesichtspunkt ist des Historikers Idee und nur seine, da es ein anderes als ein
subjektives Kriterium hier gar nicht geben kann. Und kein eunuchisches
Kriterium, wenn auch viele Historiker, besonders der Künste, mit der von sich
ausgesagten absoluten Objektivität jene fatale Operation an sich vollzogen zu
haben behaupten. Die Wertigkeit des wertenden Subjektes entscheidet über den
Wert des Historikers, nicht aber, daß diese Subjektivität nicht vorhanden sei.
Kunst ist
nicht formulierende wissenschaftliche, sondern definite Ausdruck gebende
Erkenntnis. Die Geschichte der Kunst ist nicht Geschichte einer Wissenschaft,
als welche der Begriff des Allgemeinen ist, sondern Geschichte individuellen
Ausdrucks, weshalb sie so etwas wie einen Fortschritt im Sinne
wissenschaftlicher Erkenntnis nicht kennt. Das Äußerste, was sich der
Kunsthistoriker erlauben darf, kann nur sein, daß er innerhalb eines bestimmten
abgegrenzten Problems – das Fresko, die Sonate, der Reim –
von einem Mehr oder Minder der Annäherung an die Problemlösung sprechen kann.
Nur so kann man von Auftritt, Höhe und Verfall des elisabethischen Dramas
reden. Oder es kann der Historiker an dem Ideal der Vollendung, das sich der
Künstler selber gesetzt hat, von einer fortschreitenden Bewegung des Künstlers
zu diesem seinem Ideal oder von ihm weg sprechen, z. B. von Wielands Ideal seiner
Verserzählung, Gauguins Ideal seiner Vereinfachung usw. Man sieht: immer wird
das Maß, an dem ein »Fortschritt« zu messen, von den zu messenden
künstlerischen Erscheinungen eines Umkreises oder eines Problems selber
aufgestellt, nicht und nie aber von einem außerhalb dieser Erscheinungen
irgendwo am Ende schwebenden Ideal überhaupt oder von einem irgendwann einmal
in einem ganz andern Problemkreise verwirklichten Ideal. Raffael stellt in gar
keiner Weise einen »Fortschritt« gegenüber Giotto dar, Beethoven keinen
gegenüber Händel, Goethe keinen gegenüber Shakespeare. Aber auch Cézanne keinen
»Rückschritt« gegenüber Ingres und George keinen gegenüber Mörike. Denn es
fehlt hier durchaus alles Gemeinsame, das einen auf »Fortschritt« eingestellten
Vergleich rechtfertigen könnte. Daß die Menschheit – ein sehr halbseitiger
Begriff – einem künstlerischen Ideale zustrebe und man die Etappen des ihm
zustrebenden Genius der Menschheit wahrnehmen und messen könne, ist ein Zeichen
großer Einfältigkeit in allen Dingen der Kunst und eines ebenso grundlosen wie
selbstgefälligen Optimismus in allen Dingen der Sittlichkeit. Man gewinnt in
weitergehenden Zeiten mehr «Wissen, einmal aus dem einfachen zeitlichen
Zuwachs, dann aus dem immer in solchen Zeiten gesteigerten Interesse an dem,
was einmal war, in denen und mit denen sich die Menschen nicht ganz wohl
fühlen, weil sie mehr gelebt werden als leben. Der Historismus wird immer in
Zeiten mit geringer présenter «Wertlebigkeit gedeihen. Dieses »mehr wissen« ist
nun kaum ein allgemein menschlicher »Fortschritt«, ganz bestimmt ist es kein
künstlerischer. Historisch zu wissen, ob man hygienischer, komplizierter,
sensibler usw. geworden ist, das hat für die Kunst keinerlei Bedeutung: sie
kann davon in der Richtung auf ein Anders-sein beeinflußt werden, nicht aber in
der Richtung auf ein Besser- oder Schlechtersein als die künstlerische
Aktivität irgendeiner frühern Zeit. Kein heute lebender Dichter ist
»schlechter« als Homer, sondern nur anders. Wer aus dem Anders-sein ein Besser-
oder Schlechtersein ableitet oder darein gar einschließt, der gibt kein Urteil
ab, sondern äußert ein unbegründbares Vorurteil. Aus dem Vergleich zu
gewinnende Kunsturteile sind nur dann möglich, wenn sie vom Künstler selber
bestimmt dadurch provoziert werden, daß er das Maß angibt, an dem er gemessen
zu sein wünscht, ein erklärter Nacheiferer Shakespeares an Shakespeare, ein
Nachahmer der Goetheschen Strophe des Westöstlichen Diwan an dieser Strophe.
Hier begrenzt der Dichter selber sein Problem, verzichtet bewußt auf die
Andersheit und versucht eine Identität mit seinem Progonen zu erreichen. Aber
die Seltenheit solcher über die in der Zeitnähe vom Vorbild natürlichen
Beziehungen hinaus ins Künstliche gebrachten Abhängigkeiten zeigen ebenso wie
die künstlerische Gleichgültigkeit eines Phänomens, bei dem einer seine Person
auslöscht, um der Schatten einer andern zu sein, die Irrelevanz solcher
Ausnahme im Kunstablauf, der sich nicht in den Kategorien der Werte »besser«
und »schlechter« vollzieht, sondern in der zunächst indifferenten Wertkategorie
des »anders«.
Zweiter Exkurs
Je weniger
Geld der Mensch hat, desto mehr spricht er vom Geld. Kein Volk redet in so
vielen Literaturgeschichten so viel von seiner Literatur wie das deutsche.
Keine Literatur ist geschichtsloser d. h. traditionsloser als die deutsche;
jeder fängt sie hier bei Adam und bei sich an und endigt sie mit sich. Nirgends
gibt es daher so viele Bücher, welche versuchen, dem Deutschen eine Geschichte
seiner Literatur einzureden.
Denn nur von einem bildungsmäßigen Einreden sind diese
Darstellungen Beweis, da von einem echten Blutkreislauf, der durch das deutsche
Volk und seine Literatur, beide aneinander und ineinander organisch verwachsen,
seine Welle trüge, nicht die Rede sein kann. Versuche, wie der Hofmannsthals,
die Tradition des Wiener Barock der Leopoldinischen Zeit aufzunehmen, werden
mißverstanden. Andere, wie Lautensacks volkstümliches und naives Erinnern an
Blut seines Blutes, an Nithart, an Abraham a Santa Clara, wird als deutsche Literatur
nicht erkannt, der schwäbisch-bäurische Essig, sehr deutsche Literatur, wird
übersehen. Aber eine kunstgewerblich gemachte Heimatschreiberei wird als
deutsch angesprochen, Dummheit als deutsche Gemütstiefe, Albernheit als
schlichtes Gefühl. Man kann sagen, der deutsche Schriftsteller nimmt seit einem
Jahrhundert den Weg zu seinem Volke durch den Bildungstrichter seiner
Literaturgeschichten, nimmt ihn da, sucht ihn da, formt sich bevor er auszieht
schon danach. Das Volk liest in seinen Engel, Koch, Oehlke usw., daß es und was
es alles für Dichter hat, alte und neue, große und kleine, und freut sich
darüber; im übrigen liest es, was es freut. Nämlich was anderes. Eine
Darstellung dieses »andern« wäre auch in der einfachsten Form einer Statistik
des Meistgelesenen der Deutschen von großem Werte. Man würde daraus das
ästhetische Wollen dieses Volkes kennen lernen, erfahren, nach welchen Idealen
es sich orientiert, welches sein geistiger Zustand, welches seine innere
Bildung ist. Zwei Seiten unserer Literaturgeschichten, Stefan George gewidmet,
sind, auch wenn sie, was sie nicht sind, kritisch wertvoll wären, insofern ganz
lügenhaft, weil die wenigen Menschen, welche diesen Dichter lesen, öffentlich
gar nicht in Betracht kommen. Selbst fünf Seiten Thomas Mann entsprechen nicht
der Wahrheit, wenn ihnen nicht zwanzig Seiten W. Bloem und vierzig Seiten
Courths-Mahler folgen. Für das Frankreich Ludwig XIV. wäre die Forderung einer
solchen auf das Meist-Gelesene aufgebauten Darstellung ohne Sinn, ganz
gleichgültig wie hier das Resultat ausfiele, es wäre ohne
Importanz. Aber von höchster ist es für sogenannte demokratische Zeiten wie der
jetzt gelebten. Die »führenden Männer« dieser Zeit, Wilhelm II. oder
Stresemann, Scheidemann oder Noske, Heim oder Hindenburg: keiner dieser Männer
wird je von George gehört haben, aber jeder von ihnen hat Ganghofer gelesen
oder Stratz oder Herzog. Zwischen diesen Figuren ist Korrespondenz. Die
ästhetische Belanglosigkeit eines Stratz festzustellen ist nicht die Aufgabe
der Literaturgeschichtsschreiber, zumal sie sich durch das, was sie über
Hofmannsthal sagen, nicht ausweisen, daß sie zur ästhetischen Kategorie Recht
auf ein Urteil haben. Aber dies vermöchten sie aus Kongenialität: die geistige
Bedeutung des Meistgelesenen als Ausdruck des Nationalgeistes aufzuzeichnen,
auf ihn wirkend, von ihm Wirkung empfangend. Die Lektüre der führenden Männer
dieses Volkes ist dieses Volkes Lektüre und enthält dieses Volkes Art nach
allen Dimensionen ausgedrückt.
Dritter Exkurs
Ein Buch in
zwei Bänden, gefüllt mit journalistisch Zusammengehörtem und Lesefrüchten aus
dritter Hand, mißlungener Versuch, ein plattes Romanschema damit zu füllen, bei
einem richtigen Bühnenschriftsteller begreifliches Mißlingen, Personen und
Vorgänge seiner Welt erzählend sichtbar zu machen – denn der richtige
Bühnenschriftsteller ist Schauspieler – also außerhalb der Bühne wesenlos oder
defektuös – ist dieser Roman »Europa« trotz aller Anstrengung, das Nichtige der
Mitteilung als wichtig einzureden durch eine Sprache, die nur ein Berliner
Kommis so nennen kann, ist, sage ich, dieser Roman Europa sehr instruktiv für
die Erkenntnis unseres belletristischen Zustandes. Unsere Naturalisten sel.
Gedenkens verabscheuten die Intelligenz als das Dichten störend oder ungünstig
beeinflussend: Ressentiment geringer Intelligenzen. Niemand war stolzer auf
seine makellose Dummheit als ein deutscher Dichter der 80er
Jahre. In den 90er Jahren und später hat sich dies nur insofern geändert, als
der damals moderne Dichter seine Verachtung der Intelligenz zum System machte.
Es hieß, besaß er schon Gehirn, dies wieder in Ganglion zurückbilden. Kurz vor
dem Marasmus trat die mächtige Hilfe Bergsons auf, der den Belletristen und
Dichtern sagte: 1. daß der Künstler sich nicht um die Dinge bewege, sondern in
ihrem Innern installiert selber diese Bewegung sei; 2. daß die aus ihrem Wesen
heraus unbewußte reine poussée vitale, indem sie sich dilatiere und
distendiere, ihrer selbst bewußt und fähig werde, über ihr Objekt zu
reflektieren. Toute naissance est co-naissance sagte mit chinesisch-ernstem
Gesicht bald darauf Claudel. Mit andern Worten: Die Empfindung wird ganz von
selber Wissen um die Empfindung, der Baum ganz von selber Botanik, und der
Ladenjüngling braucht nur Liebschaften zu haben, um ein Wissen über die Liebe
wie Stendhal zu bekommen. Denn das Wissen einer Sache sei Coincidenz von Person
und Sache, ließe man nur die poussée vitale sich dilatieren und sich an einer
gewissen Stelle zwar als poussée aufheben, »zu sich selbst zurückwenden«, wie
Bergson sagt, um Intelligenz zu werden, – wie diese Unmöglichkeit mit der Natur
der reinen poussée vereinbar ist, darauf gibt Bergson nur mit
Augenniederschlagen die Antwort: »Ces choses de la vie profonde, l'instinct
seul les trouverait, mais il ne les cherchera pas.« Und Strindberg fing an, mit
bloßem Instinkt im Kachelofen eines Berliner Zimmers aus Schwefel Gold zu
machen. Unsere Belletristen wurden durch solche Zeithaltung, für die Bergson
nur Ausdruck ist, ungemein stolz, wie man bald merkte, denn was sie machten war
ja nicht mehr eine bestimmte Haltung der menschlichen Intelligenz zu den
Phänomenen des Lebens und daraus sich ergebende Transcendenz, sondern war etwas
ganz und gar neues, nämlich das Leben selber in seiner emotionalen Aktivität.
Der neue Dichter letzten Datums ist also der immediate Ausdruck des Lebens, das
er nicht etwa percipiert, sondern mit dem er identisch ist. Sollte
er nicht stolz werden? Fiel ihm doch das absolute Alles-Sein zu, ohne Mühe. Und
genau wie der naturalistische Belletrist von 1880 verachtet der
expressionistische von 1918 die Intelligenzia als alles deformierend, was sie
berührt; und sie nennen sich die »Geistigen«, die Besitzer des wahren
Intellektualismus und suchen den »andern« als pedantische Vernünftelei zu entwerten.
Ganz unintelligent wie sie sind beten sie doch ganz götzendienerisch die
Intelligenz an, den Geist, das Wort Geist wenigstens. Das Buch Europa strotzt
von solchen Worten aus der Intelligenzsphäre, nur von den Worten, oft genug
auch die ganz falsch verstanden. Ich zähle 8 mal Elan, 5 mal Dynamik, 2 mal
Brisanz, ferner Mehrwert, Palpitation, Stoßtrieb, Hyperbel, motorisches
Prinzip, immer vom Autor zum Leser, nicht von seinen Personen untereinander
gesprochen, und ohne Anlaß. Eine sogenannte philosophische Auseinandersetzung
über Denkinhalte und Begriffsinhalte füllt Seiten dieses Romanes, weil irgend
eine zufällig aufgeschlagene Seite Kant den Verfasser hilflos konsternierte.
Dem Verfasser ist es noch nicht, wie einem andern Belletristen in einem Romane »Die
achatnen Kugeln«, gelungen, seine Identität mit der poussée vitale dadurch zu
zeigen, daß dieses Romanes Helden, ansonst zweibeinig, Raum und Zeit völlig
aufheben, nur mehr die Bewegung schlechtweg sind, daher jetzt im Schwarzwald,
eine halbe Stunde später am Kansas sind. Der Verfasser der Europa hat für die
Götzenverehrung der Vitalität nur die Vokabel, die er anbetet. Zwei erzählte
Beischlafe versuchen in dem Ablauf des Romanbächleins Niagara zu machen: die
asiatische Banise ist ein Schulaufsatz dagegen. Zu dem Zwecke, vor dem Leser
den geschwellten Biceps der geliebten Vitalität spielen zu lassen, ist dem
Verfasser kein Beiwort gewaltig genug. Ich zähle folgende Beiwörter: 10 mal
kolossal, 3 mal formidabel, 4 mal epochal, 2 mal monumental, 7 mal Fanal, 3 mal
fabelhaft, 4 mal enorm, 3 mal prachtvoll, 3 mal pompös, 2 mal saftig, 2 mal
wuchtig, 2 mal herkulisch usw. Auch dieses immer vom Verfasser zu etwas gesagt, nie von Personen zu deren etwaiger
Charakteristik solcher Berliner Kommis-Metaphorie. Eine bei einem
Schriftsteller erstaunliche Unkenntnis der bildhaften Kraft der Sprache trifft
hier glücklich den Ausweg in die Vitalität, die man in solchen Beiworten
arretiert zu haben glaubt.
Vierter Exkurs
Jenen einer
ästhetischen Wissenschaft Beflissenen, Lehrern wie Schülern, welche diese ihre
Wissenschaft dessen was die Kunst ist auf Untersuchungen darüber aufbauen, wie
die Kunst auf den Menschen wirke, um dann daraus wieder weiter zu finden, was
die Kunst oder die »wahre« Kunst sei, – jenen Jüngern ihrer schon ganz
unfraglichen Wissenschaft seien in dem Folgenden die ganz simpelsten
Voraufgaben ihrer Aufgabe gestellt, mit deren Lösung sie schon einige Semester
hinbringen können, lehrend oder lernend. Ohne weiteren Anspruch auf
Originalität der folgenden Aufstellungen zu machen – der kürzlich verstorbene
Remy de Gourmont hat am besten darüber traktiert, – enthalten sie nur alles
Wesentliche in Hinweisen, Fingerzeigen, wo der fleißige Student sich ausarbeitender
Weise einerseits den Doktorhut, andererseits die aus seiner Arbeit erworbene
Erkenntnis holen kann, daß es auf diesem Wege zur Feststellung dessen was die
Kunst ist nie kommen kann, nicht einmal dessen, was die »wahre« Kunst ist. Und
er wird sich dann vielleicht der großen deutschen Philologie erinnern, die
allerdings seit langem nicht mehr auf den deutschen Hochschulen zuhaus ist,
sondern in Neapel, und wird als solcher Philologe die Ästhetik als Lingustik
gewinnen, wie dieses Benedetto Croce getan hat, der sich allerdings von Wilh.
von Humboldt datiert und nicht von Wilamowitz. Die bescheidene Sache ist die:
Jeder Akt
hat seine eigene Vollendung zum Ziel. In das Ziel ist die gewollte Wirkung
inbegriffen. Jeder Akt will sich beim Handelnden als erfolgreich vollenden;
auch den Akt des einsamsten Denkers will dieser wirksam.
Der Erfolg ist ein Faktum für sich selber und steht
außerhalb des Werkes und des Aktes, den er begleitet. Für die künstlerischen
Akte ist der Erfolg ein mögliches Faktum, welcher das Wesen selber des Aktes
nicht ändert. Der Erfolg schafft nicht ein Werk, sondern bringt es auf eine
Weise ans Licht, daß davon immer etwas in der Erinnerung der Menschen bleibt.
Hier von einem Kriterium sprechen hieße zu viel sagen, denn der Erfolg ist ein Faktum
wie eine Blume oder ein Brand oder ein Fluß. Gegen dieses Faktum ist so gut wie
nichts zu stellen, nämlich nichts als die Ideen gewisser Menschen über die
künstlerische Schönheit. Und auch diese Opposition ist nicht radikal, da im
Prinzip diese Schönheit nicht außer den Möglichkeiten eines Erfolges steht; in
welchen Fällen man dann das Urteil unterstreichend von einem »berechtigten
Erfolg« spricht. Aber jeder Erfolg ist als Erfolg legitim. Die Sonne ist auch
dann legitim, wenn sie das Korn verbrennt, und nicht nur dann, wenn sie es zur
Reife bringt. Der Erfolg setzt ein Werk ans Licht: das ist sein Wert, der ganz
unabhängig vom Werte des Werkes ist und von diesem her nicht bestimmt wird,
noch auch von ihm bestimmbar ist.
Da die Kunst
da ist, hat sie eine Funktion; sie befriedigt ein menschliches Bedürfnis. Ein
Werk erfüllt seine Funktion um so mehr, je intensiver und extensiver es das
menschliche Bedürfnis befriedigt. Es sagt gar nichts, dieses Bedürfnis das
künstlerische Bedürfnis zu nennen. Dies sagt so nichts, wie daß der Tabak das
Bedürfnis nach Tabak befriedigt; Das ist naiver Finalismus, der sich auf die
einfache Relation von Topf und Deckel beschränkt. Die Kunst gefällt –: der
Erfolg ist der Anfang einer Probe zugunsten des Werkes. Der Erfolg hat ein Werk
zu einem Turm hoch gehoben, den eine den Wert des Werkes bestreitende Gruppe
anrennt mit dem Effekt, den Turm dadurch nur noch höher zu machen, statt ihn,
wie sie will, zu stürzen. Der Menge, welche dem Werke den Erfolg gegeben hat,
wird gesagt, daß sie betrogen und dumm sei. Die Menge findet
das Werk schön (weil es ihr gefällt). Man kann ihr nur antworten: Ja, es ist
schön (weil es gefällt). Über das Gefallen etwas später.
Ganz
zufällige Umstände wählen ein Werk für den Erfolg aus: nach erfolgter Wahl ist
das Werk geheiligt wie die vom Priester unter vielen Hostien ausgewählte eine
Hostie. Hier nun setzt die häufigste kritische Bemerkung ein: es gäbe eine
Ästhetik, eine Lehre vom Schönen. Es gibt sogar sehr viele solche Lehren. Aber
es sei der Einfachheit halber nur eine angenommen und diese so, daß sie gute
Gründe hat, sich einem Erfolg, wie immer er auch sei, entgegenzustellen. Die
Existenz der Ästhetik verpflichtet, ein absolut Schönes anzuerkennen, wonach
jene Werke als schön geurteilt werden, welche mit diesem Ideal-Schönen eine
proportionale Ähnlichkeit haben.
Es gibt zwei
Gruppen der sensiblen Reaktion: eine, welche den Erfolg macht (oder ihm
nachgibt) und die andere, welche sich dem Erfolg entgegenstellt und dem
erfolghaften Werke den Charakter des Schönen abspricht. Beide Empfindungen sind
gleich spontan, aber nicht gleich rein. Die zweite resümiert sich aus einer
Ästhetik, welche eine Mischung ist von Glaubungen, Traditionen, Meinungen,
Urteilen, Gewohnheiten, Anschauungen. Sie enthält mit dem Respekt vor dem, was
war, auch noch Angst vor dem Andern (-Neuen) und Appetit nach dem Neuartigen
(-Veränderten).
Alle
Ästhetiken prekonisieren das neue Alte –: es handelt sich ihnen darum, den
Nerven und der Bildung einer Kaste zu schmeicheln (sie zu schonen?). Das
künstlerische Urteil ist ein Amalgam von Sensationen und Aberglauben. Das
Urteil der Menge aber ist nichts als sensationell und gar nicht ästhetisch. Es
ist nicht einmal ein Urteil, sondern ganz naives Einbekenntnis eines
Vergnügens. Woraus folgt, daß bloß die ästhetische Kaste jene Qualität besitzt,
die eines Urteils über die Schönheit eines Werkes, absprechend oder
zusprechend, fähig ist. Die Menge also macht den Erfolg, die Kaste macht die
Schönheit. Beides ist äquivalent, denn in Akten und
Empfindungen gibt es keine Hierarchie, beides ist gleichwertig und beides ist
verschieden. In Opposition stehen: die Meinung der Empfindung und die Meinung
des Intellektes. Die Empfindung kümmert sich nur um das Vergnügen; fügt sich
zum Vergnügen ein intellektuelles Moment, so ergibt dies Ästhetik. Die Menge
sagt aus: es gefällt mir und trotzdem ist es nicht schön; oder: dies mißfällt
mir und trotzdem ist es schön. Die Menge kann nur und nichts sonst als die
Wahrheit aussagen. Das ästhetische Urteil hingegen ist eine sehr komplexe Form
der Lüge mit all ihren Reizen.
Antworten
nach dem Absoluten der Schönheit, der Wahrheit wie der Gerechtigkeit liegen in
der Theologie, die hier nicht beschäftigt ist. Als in der Vergangenheit bestimmt
gewordene Ideen drücken die Ideen der dichterischen Schönheit, der
philosophischen Wahrheit, der sozialen Gerechtigkeit, der theologischen Liebe
eine bestimmte Konkordanz aus zwischen unsern derzeitigen Empfindungen und dem
allgemeinen Zustand unserer intellektuellen Einsicht.
Über den
emotionalen Ursprung der Schönheit wären genaue Untersuchungen anzustellen, was
den Studenten an Stelle ihres müßigen Historismus empfohlen sei. Die für die
künftige Mutter gewählte Frau wird konform dem Rassentypus des Wählenden sein,
und das heißt – sie soll »schön« sein. Ist die Frau hier weniger kritlich, so
vielleicht deshalb, weil der Mann seiner Nachkommenschaft weniger von sich
mitgibt als die Frau. Das erste Zuchtwesen der Schönheit war die Frau. Das
heißt der Mensch. Es wäre genau festzustellen, daß alle einem Tiere, einer
Landschaft, einem Gegenstande gegebenen »Schön«-attribute von der menschlichen
Schönheit derivieren: Korallen-(lippen), Saphir(augen), Marmor(kälte), -weiße,
-härte. Das Vokabularium der Klichees dichterischer Sprache ist voll davon.
Auch von dessen Umkehrung: der Schwan hat einen Frauenhals für: Schwanenhals
der Geliebten. Oder ebenholzschwarz wie Frauenhaar für: ebenholzschwarzes Haar.
Nebenbei: darauf hin ist der Tropus der allerneuesten Literatur,
als das neueste Alte, anzusehen. Der sexuelle Charakter der Schönheit hat
seinen symbolischen Ausdruck in dem Faktum gefunden, daß Werke, die nichts als
den nackten menschlichen Körper darstellen, die unbestrittensten plastischen
und malerischen Kunstwerke sind. Die Hartnäckigkeit, mit welcher der
griechische Plastiker sexuell blieb, setzte ihn für alle Zeiten außer jede
Debatte. Neben dieser groben Beziehung der äußern Deutlichkeit wären noch die
feinern Beziehungen zu untersuchen, wie sie u. a. die sexuelle Pathologie ans
Licht gebracht hat.
Was zur
Liebe veranlaßt, erscheint schön, was schön erscheint, bringt zur Liebe. Aber
es ist natürlich durchaus nicht notwendig, daß ein Werk, um uns schön zu
erscheinen, sexuell sein muß; es genügt, daß es »einnehmend« sei – wo aber ist
der Sitz dieses Sympathiegefühles zu suchen? Das Gehirn ist nur
Transmissionszentrum. Es zum generalen Zentrum des Menschen zu machen ist nur
ein glücklicher und verdienstlicher Irrtum. Zu untersuchen wäre, welches das
Ziel der menschlichen Aktivität ist und ob es die Fortpflanzung ist. Zu
erinnern, daß es sich nicht um intensive sinnliche Erregungen oder um sexuell
lokalisierte handelt, wenn vom genitalen Zentrum versus ästhetisches Vergnügen
die Rede ist. Gesagt wird nur: die ästhetische Erregung versetzt den Menschen
in einen der erotischen Erregung günstigen Zustand, gleichgültig ob es Musik,
ein Bild, das Drama oder ein pornographisches Bildchen ist. Das umgekehrte
Beispiel ist weniger paradox: von der erotischen Emotion führt ein leichter oft
fataler Weg zur ästhetischen. Ohne die Liebe keine Kunst, ohne die Kunst nichts
von Liebe als der roheste physiologische Funktionalismus.
Aber es
handelt sich hier jetzt nicht um die Kunst, sondern um die emotionale Kraft
alles dessen, was sprachlich unter das Wort Kunst gebracht wird, oder was sich
als Schau, Spiel, Unterhaltung usw. vor die Menge stellt und worüber man seine
Eindrücke austauscht. Eine hierarchische Wertunterscheidung
wird hier nur von der Wirkungsintensität getroffen. Nun erhöht der Erfolg, den
ein Werk hat, dessen emotionale Kraft. Für die Menge besteht der natürliche
Glaube, daß jedes Werk, das Erfolg hat, schön ist und daß jeder Durchfall oder
Mißerfolg verdient sind. Was die Kaste Schönheit nennt, das nennt die Menge
Erfolg. Aber sie entlehnt gerne dafür das sinnbare Wort »künstlerische
Schönheit«, um die Qualität ihres Vergnügens zu erhöhen, ein im Übrigen nicht
verwerflicher Vorgang; denn da Erfolg und Schönheit den gleichen Ursprung im
Emotionalen haben, ist der einzige Unterschied der beiden nur die
Verschiedenheit der betreffenden nervösen Systeme, denen diese Emotionen
zugehören. Es wäre hier etwa die sogenannte stoffliche Identität des
erfolgreichen »Kitsches« und des »schönen« Dichtwerkes an Beispielen zu zeigen.
Ferner historisch zu zeigen, daß jene wenigen, welche einer nichts als
ästhetischen Empfindung fähig sind, Beispiel und Muster einer weit größeren
Menge sind, welche diese nichts als ästhetische Emotion zu haben vorgibt
(Snobismus) und nur der Suggestion erliegt oder dem Befehl ihrer
Jugenderziehung und Erinnerung gehorchen oder dem Einfluß ihres Milieus
nachgeben oder der Mode folgen. So kann es vorkommen, daß eine von der großen
Menge abgelehnte Schönheit einen Kastenerfolg hat; aber wie der Mengenerfolg
ist auch der Kastenerfolg vergänglich: die Kaste von heute rühmt ein Werk, das
die Kaste von morgen verachtet (Geschichte des Rembrandtbildes, der
Wagnermusik).
Es wäre
biologisch der Fall jener mehr schwerflüssigen als diffusen Individuen zu
untersuchen, bei denen die Emotionen nicht zum Zentrum der großen Sensibilität
hin widerhallen, sei es, daß dies Zentrum atrophiert ist, sei es, daß der
emotionale Strom auf einen Widerstand stößt, auf ein Hindernis, auf ein
undurchdringliches Terrain. Ohne für die Berechtigung der Analogie ein
Vorurteil zu schaffen, sei an einen durch den Draht geleiteten elektrischen
Strom erinnert: der Draht fällt auf eine Holzunterlage und statt Bewegung gibt
es Wärme, der Zug fährt nicht, sondern brennt. Die Emotion
begegnet auf ihrem Weg zum erogenen Zentrum einem Widerstand, an dem sie sich
bricht, auf den sie sich aber einrichtet; und alle Zellen, welche den gleichen
Weg gehen, haben das gleiche Schicksal. Es kann solcherart die ästhetische
Emotion in ihrer reinsten, desinteressiertesten Form als eine Abirrung von der
erogenen Form angesehen werden. Es sei erinnert an die forensischen Fälle, wo
unter dem Zwang der Sitte und der Straffälligkeit vom Angeklagten oder dessen
Sachverständigen gegen die Behauptung des Anklägers versichert wird, daß die
Wirkung des beanstandeten Werkes »rein künstlerisch« sei und nicht das erogene
Zentrum berührt habe. Wogegen der Ankläger meist bemerkt, daß dies für die
Gebildeten, also für eine Kaste, zugegeben werden könne, nicht aber für die Menge.
Was hier nur oft behauptet wird, ist aber sonst Faktum: das in der Aphrodite
kultisch gewordene nackte Weib verwirrt den antiken Gläubigen so wenig wie die
zum Säugen entblößte Brust der Madonna den christlichen Gläubigen sinnlich
erregt, – es bleiben nach Verflüchtigung des Weibes die reinen Formen als
Formen der Schönheit. Jener Widerstand im Fluß der Emotion erlaubt uns das
Denken, Vergleichen, Urteilen. Der ununterbrochene Strom der Emotion triebe uns
an die Schwester der Aphrodite und Madonna, aber in der Unterbrechung entfernt
er uns von ihr, denn: die Schwester ist »weniger schön« als die Göttin, als die
Jungfrau.
Ob das
Emotionale in die Intelligenz eindringt und von daher diese Mischung von
Emotionalem und Intellektuellem entsteht, welche man den ästhetischen Sinn
nennt, dieses ist nur behauptet, aber nicht bewiesen worden. Denn die
Intelligenz ist ein Zufall. Einen Zustand der Menschheit anzunehmen, in dem
uniform Gesundheit, Gleichgewicht, Gleichartigkeit, Mäßigung, Ordnung herrschen
und in dem die Katastrophen des Genies unmöglich, die Zufälle der Intelligenz
sehr selten wären – dies bedeutete, daß die Emotionen immer ihr Ziel erreichen,
weil die Intelligenz, d. h. die Folge dessen, was wir naiv
das Böse nennen, den Faden des Emotionalen weder verknotet noch abschneidet.
Aber es bestünde dann das nicht mehr, was man die Welt nennt.
In der
Formation des ästhetischen Sinnes konkurrieren also zwei Arten Emotionen: die
erogenen und alle andern, wie immer diese auch seien, und in einer Proportion,
die mit jedem Menschen variabel bis ins Unendliche ist. Die ersten Emotionen
erleben wir bei der Vorstellung eines vollkommenen Typus unserer Rasse. Für die
Mehrzahl der Menschen ist – jeder vom Sexuell-Sinnlichen bezogene Begriff
rigoros ferngehalten – der Anblick Apollos angenehm, weil er das Verlangen
weckt, sei es direkt, sei es je nach dem Geschlecht durch Gegenbeschwörung. Die
Schönheit ist ein Versprechen von Glück – die sensualistische Philosophie, die
Stendhal diesen Ausspruch tun ließ, sollte wissenschaftlich erst einmal
aufgearbeitet werden. Eine idealistische Philosophie hat für dieses
sensualistische Glückversprechen das Wort Schönheit erfunden, das man nun auf
alles anwendet, was dem Menschen Realisierung einer seiner Begehrungen
verspricht, die immer zahlreicher und komplexer wurden. Das emotionale
Bedürfnis hat sich bis in die Extreme der grauenvollen, blutigsten emotionalen
Kausierungen ausgebildet. Um doch als Ziel zu haben: an die einzige immanente
Pflicht der menschlichen Kreatur zu erinnern, nämlich die Erhaltung der Art.
Was immer auch die Sinne sind, welche die Emotionen zuerst treffen, sie
springen von da zum Zentrum der allgemeinen Sensibilität. Die wilden,
grauenvollen Tragödien, an denen sich die Griechen ergötzten, waren Filter.
Hätten sich die Tragiker, die als große Dichter (wie die Frauen) weder
Geschmack noch Ekel kennen, nicht die Mühe genommen, die Geschichte des Orest,
des Polineukes, der Elektra durchzudenken, wir würden diese Geschichten nur als
die Delirien einer tief verkommenen oder ganz kindlichen Gesellschaft ansehen.
Keine Tragödie Shakespeares oder Racines, die nicht hunderte Male von
grauenhaften Komparsen vor den Gerichten gespielt wurde.
Der Student hätte hier nach Beispielen aus der, forensischen Medizin zu suchen,
wie sich irgendeine Erregung in einen sexuellen Akt umsetzt, (das
Problematische des »Lustmordes«), weil der Refraktor fehlt, an dem sich zum
größten Teil der emotionale Strom bricht.
Die auf
halben Wege aufgehaltenen Emotionen transformieren sich in Intelligenz,
ästhetischen Geschmack, Frömmigkeit, Moralität, Grausamkeit, Verbrechen – nach
einem dunklen dynamischen Modus, in dem noch Umstände und Umgebung mitspielen,
aber nur mitspielen. Und müssen sich nicht immer nur in dies oder das
transformieren, sondern können auch in nur teilweisen Transformationen genug
für eine zweite Richtung, eine dritte behalten. So scheint die Liebe an die
Grausamkeit gebunden, sei es deren Exzeß oder deren Mangel. Die Mimik der Liebe
und der Grausamkeit ist die gleiche. Wenn auch geteilt, bleibt der emotionale
Strom stark genug, um intensive Akte zu produzieren. Grausamkeit, Intelligenz
und Frömmigkeit zum Beispiel in Torquemada.
Dieses nur
Angemerkte auf das Ästhetische gewandt: je nach der Derivationsstärke des
emotionalen Stromes wird z. B. der eine Zuhörer einer Tragödie alles das aus
ihr behalten, was reine Schönheit ist; er wird weniger sensibel für den Mord
sein als für die Geste des Mörders. Der andere wird die Tragödie verlassen wie
einen Boxkampf. Der eine sagt vor einer Plastik: welche Nackenlinie! Der
andere: ein Prachtweib! Zwischen diesen Extremen sind tausend Nuancen. Für den
Typus der Mitte gibt es keine Idee der Schönheit – er beurteilt das Werk nach
der Stärke und Qualität seiner Emotion. Das eine macht ihm Vergnügen, das
andere »läßt ihn kalt«. Dieser Typus der Mitte bestimmt den Erfolg.
Die
ästhetische Kaste beurteilt das Werk gleichfalls emotional; aber die Emotion
ist von einer besondern, nämlich der sogenannten ästhetischen Ordnung. Zur
Kunst gehören danach nur Werke, welche diese ästhetische Emotion geben können.
Daher sind hier ausgeschlossen die utilitarischen, moralisierenden,
sozialen usw. Werke, deren Ziel etwas abseitig von der ästhetischen Emotion
liegt. Auch die sexuell überbetonten Werke gehören zu den abgelehnten, weil sie
zu direkt wirken und zu deutlich klar mit der primären vom Menschen
konzipierten Idee der Schönheit korrespondieren. Die ewig unbeständige
ästhetische Kategorie ist bei allem Wechsel von Idealismus zu Realismus,
Sentimentalismus zu Brutalismus, Religiosismus zu Sensualismus ein eng
geschlossener Bezirk. Kunst ist was eine »reine« Emotion gibt, das heißt eine
Emotion ohne Vibrationen außerhalb einer limitierten Zellengruppe. Kunst ist,
was weder zur Tugend, noch zum Patriotismus, weder zur Ausschweifung noch zum
Gelächter, weder zu Krieg noch zu Frieden, überhaupt zu nichts sonst
auffordert, was nicht die Kunst selber ist. Die Kunst ist unparteilich,
unempfindlich, lacht nicht, weint nicht. Es hat dieser Sachverhalt gar nichts,
weder mit der Ratio, noch mit irgend einer Wahrheit Konformes. Es handelt sich
um Bräuche einer bestimmten Kaste. Aus der Unfähigkeit des nervösen Systems
geboren, hat die Idee der Schönheit auf ihrem Wege alle Arten Regeln,
Vorurteile, Glaubungen und Gewohnheiten aggregiert und hat sich einen Kanon
geformt, dessen Form, ohne absolut zu sein, in einem gegebenen Zeitmoment nur
zwischen gewissen Grenzen oszilliert. Und dieser Vorbehalt ist notwendig. Die
ästhetischen Menschen einer Epoche sind sich über die Idee des Schönen einig;
man könnte hier Werke und Namen nennen, die abzulehnen so viel hieße, wie
keinen künstlerischen Sinn haben. Aber Werke eines ganz anderen, ja
gegensätzlichen Tones wurden in andern Epochen von der ganz gleich
konstituierten Gruppe bewundert und als das »Schöne« inkarnierend bezeichnet.
Um 1700 war alles den Italienern und Franzosen im Deutschen Nachgeahmte allein
den Deutschen die Kunst; um 1800 war es die Nachahmung einer vermeinten Antike;
um 1870 Nachahmung eines vermeinten Mittelalters; um 1900 die Nachahmung der
natürlichsten Natur usw. Der ästhetische Sinn ist also historisch variabel,
aber im jeweils gegebenen Zeitmoment sehr solide. Man kann
sagen: die Geschichte der Künste ist der catalogue raisonné jener Werke, welche
in der Zeitenfolge von der ästhetischen Kaste ausgewählt wurden.
Die Urteile
der Menge über die von ihnen abgelehnten Werke sind falsch. Aber nicht minder
falsch sind die Urteile der Kaste über die von der Menge gebilligten Werke. Der
Titel Kunstwerk kommt beiden Gattungen zu, da beide Emotionen hervorrufen,
beide also, wenn auch nicht in der Qualität, so doch im Wesen gleich sind. Der
Appell an die literarische Gerechtigkeit als entscheidenden Faktor ist ohne
Sinn, da der Begriff dieser Gerechtigkeit von einer Kaste bestimmt ist. Man
kann hundert Verehrer Walter Bloems viel leichter umbringen als überzeugen, daß
Bloem keine Kunstwerke schreibt. Der Appell supponiert irrig eine
Gleichhaftigkeit der Emotionen bei Menschen verschiedener physiologischer
Kategorien. Ein Werk ist für jene schön, denen es Emotion gibt; die
Sensibilität ist nicht zu betrügen und nicht zu bestechen, weder die der Menge
noch die der Kaste. Weshalb auch alle Versuche, die »Kunst ins Volk zu
bringen«, das heißt den Geschmack zu ändern, absurd sind, als von der Meinung
ausgehend, daß sich der Geschmack an der Kunst lernen lasse wie die Chemie. Und
selbst wenn es gelänge? Weshalb soll die Menge den Geschmack der kleinen Kaste
adoptieren, warum die Kaste nicht den der Menge?
Jede
Ästhetik, welche ihre Elemente und Grundsätze von der Wirkung dessen, was sie
jeweils Kunst nennt, zu gewinnen sucht – sei es nun Wirkung auf die Massen oder
die Kasten – kann immer nur relativ sein, denn das Maß unserer emotionalen
Fähigkeit ist bedingt vom Maß unserer jeweiligen emotionalen Rezeptivität und
von dem Stand unseres nervösen Systemes.
Nichts
weiter als Aufgaben sind den Studenten hier gegeben, um sie von dem Jammer zu
erlösen, mit dem sie derzeit ihre Zeit in den Kollegien und Seminarien der
Ästhetik und Literatur hinbringen.
Fünfter Exkurs
Was man die
Literatur nennt, wird Erscheinung immer beim Niedergang einer Kultur. Deren
frühe Blüte, welche in den März ihres Daseins fällt, kennt nur die Dichtung,
gebundene Rede eines kultisch verbundenen Volksganzen. Tritt inmitten der
Literatur, also in Verfallszeiten als Atavismus und geniale Katastrophe der
Dichter auf, so erleidet er die Zeit und die Zeit ihn. Ist er das Genie, so
stirbt er frühen Tod. Ist er es weniger, so erhält er sich am Leben, indem er
sich in die schützende Literatur begibt. Das katastrophale Genie inmitten der
Literatur hat bestenfalls eine kleine Gemeinde von Freunden, nie das Volk. Wie
die Literatur die Gebildeten haben, hat die große Menge die Belletristik, ein
Derivat der Literatur, wie diese ein Derivat der Dichtung. Die homerische Zeit
besaß nicht, was wir Literatur nennen. Der Literat Lukian trat erst im Verfall
auf, wie der Literat Petronius in der neronischen Zeit. Das christliche
Mittelalter ist Literatur, wo es sich lateinisch dichtend äußert, an die
römische Verfallszeit gebunden, woran die neuen Inhalte nichts ändern. Die
mönchischen Hymnologen sind literati, in den literis Gebildete, nicht Dichter.
Die Dichter des Mittelalters sind die Barden der Heldensage in der Frühzeit.
Die Bildung der nationalen Sprachen nimmt diese Heldensage auf: es sind
Dichter, und der letzte Rest der lateinischen literati verschwindet. Aber die
Bindung der mittelalterlichen Welt lockert sich, löst sich auf. Das
Heldengedicht schrumpft auf das Volksbuch zusammen, der Minnesang wird
Meistersingerei und Gassenlied. Die Renaissance stellt Antikisches als Muster
auf, das befolgt wird: neue Bildungselemente erweitern die Literatur, die von
nun ab der herrschende Begriff wird. Außerordentliche Leistungen werden ihr eigentümlich,
denn auch die Bildung im weitesten Sinne kann Kultur schaffen, doch bleibt
diese exklusiv, nur einem Teile des Volksganzen zukommend, weil von ihm nur
tragbar und förderbar. Innerhalb der Literatur ist der Dichter nur bedingt
Ausdruck seines Volkes. In dieser Bedingtheit ist er
diskutabel, was Inhalt der Literaturgeschichten ist. Denn alle kulturellen
Verfallszeiten – und solche sind innerhalb des christlichen Gedankens auch
Teilkulturen – sind skeptisch, werden von der Skepsis eingeleitet, begleitet
und zu Grabe getragen. Die seltenen Genies solcher Zeit weinen immer den
verlorenen Göttern, den zerstörten Altären nach. Priester, für die es kein Amt
mehr gibt, sind sie.
Verteilt
sich was wir Leben nennen auf die zwei Wagschalen des irdischen Tuns und
himmlischen Sehnens, auf das Politische und das Religiöse, so ist die Dichtung
das Gleichgewicht dieser Schalen. Sie wird dann nicht sein können, wenn alles
Leben nur auf der einen Schale liegt. Im nichts als religiös bestimmten Leben
ist die Dichtung so überflüssig wie im nichts als politisch bestimmten Leben.
Dichtung ist der Ausgleich im Geiste zwischen den Gegensätzen der nichts als
sinnlichen diesseitigen Welt und der nichts als jenseitigen, geahnten,
geglaubten und gefühlten Welt. Dem Sinnlichen durch ihre Materie, dem
Übersinnlichen durch ihr Menschentum verhaftet ist die Dichtung nicht die
Überwindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, sondern die transzendierende
Bindung dieser Gegensätze in einem Dritten, das vom Geiste ist. Denn die
Dichtung ist sinnlich und übersinnlich, zeitlich und überzeitlich, niemals das
eine oder das andere.
In Zeiten
der Literatur ist der Dichter eine inkommensurable Größe, die man zu verstehen
sich bemüht, in welchem Verstehenwollen und bestenfalls Verstehenkönnen sich
das Unzeitgemäße des Dichters in solchen Zeiten ausdrückt. Aber das Wesentliche
des Dichters, seine bis zur persönlichen Anonymität gehende Verbundenheit mit
dem Ganzen des Volkes, dessen artikulierter Ausdruck der Dichter ist, dies ist
nicht »verstehbar«. Es gilt das sowohl für die retrospektive Betrachtung des
Dichters aus dem Blickwinkel der Literatur, wie für die Einstellung auf den
katastrophal inmitten des Literarischen auftretenden Dichters. Welche
Katastrophe übrigens in den letzten siebenhundert Jahren
der Deutschen nur ein einziges Mal mit Hölderlin eintrat, dem Dichter und
seinem Volke zum Unheil. Hölderlin gab sich in der Literatur kein Ventil und
ließ sich keines in ihr geben. Wie alle andern, die was sie dem Genie nahmen
ihrem Talente zum Opfer brachten, das davon steile Flamme zum Himmel bekam.
Dem
außerordentlich einfachen Problem der Dichtung und des Dichters steht die
außerordentlich komplizierte Erscheinung der Literatur und des Schriftstellers
gegenüber. Vom Schriftsteller als Dichter im folgenden Exkurs.
Sechster Exkurs
Der Dichter
ist heute bei dem gebräuchlichen Namen Literat angelangt, worunter einer
verstanden wird, den unerforschte Gebrechen hindern, ein brauchbarer Journalist
zu werden. Die soziale Wichtigkeit dieser Erscheinung ist nicht gering zu
schätzen und rechtfertigt wohl, ihr einige Überlegung zu widmen. Daß diese sich
auf die Betrachtung der Intellektualität beschränkt und im kleinen wie der
Versuch einer erkenntnistheoretischen Prüfung ausfällt, indem sie den Dichter
der literarischen Zeit nur als den in einer bestimmten Weise und auf bestimmtem
Gebiete Erkennenden betrachtet, ist gewollte Einschränkung, die sich natürlich
nur durch ihr Ergebnis rechtfertigen läßt. So oft aber hierbei vom Dichter, als
einer besonderen Gattung Mensch, die Rede sein wird, sei vorausbemerkt, daß
damit nicht nur die gemeint sind, welche schreiben; es gehören auch jene dazu,
welche die Tätigkeit scheuen – sie bilden das reaktive Seitenstück zu dem
aktiven Teil des Typus.
Man könnte
ihn beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in
dieser Welt und zwischen den Menschen am stärksten zu Bewußtsein kommt, weil in
seinen ihm eingeborenen Urelementen die individuelle Anonymität der
Gemeinschaft besitzt. Als den Empfindlichen könnte man ihn auch beschreiben,
für den nie Recht gesprochen zu werden vermag. Dessen Gemüt
auf die imponderablen Gründe viel mehr reagiert als auf gewichtige. Der die
Charaktere verabscheut mit jener furchtsamen Überlegenheit, die ein Kind vor
den ein halbes Menschenalter früher sterbenden Erwachsenen voraus hat. Der noch
in der Freundschaft und in der Liebe den Hauch von Antipathie empfindet, der
jedes Wesen von den andern fernhält und das schmerzlich-nichtige Geheimnis der
Individualität ausmacht. Der selbst seine eigenen Ideale zu hassen vermag, weil
sie ihm nicht als die Ziele, sondern als die Verwesungsprodukte seines
Idealismus erscheinen. Dies sind nur einzelne Beispiele und Einzelbeispiele.
Ihnen allen entspricht oder liegt zu grunde eine bestimmte Erkenntnishaltung
und Erkenntniserfahrung wie auch die dieser entsprechende Objektswelt.
Man versteht
das Verhältnis des Dichters zu dieser Welt am besten, wenn man von seinem
Gegenteil ausgeht: das ist der Mensch mit dem festen Punkt a, der rationale
Mensch auf ratioiden Gebiet. Man nehme die Scheußlichkeit des Wortversuches hin
wie auch die ihm zugrundeliegende historische Vortäuschung; denn nicht hat sich
die Natur nach der ratio gerichtet, sondern diese nach der Natur. Aber ich
finde kein Wort, das nicht nur die Methode, sondern auch das Gelingen,
gebührend ausdrückt, nicht bloß die Unterwerfung, sondern auch die
Unterwürfigkeit der Tatsachen, dieses unverdiente Entgegenkommen der Natur in
bestimmten Fällen, das in allen Fällen zu verlangen dann freilich eine
menschliche Taktlosigkeit war. Dieses ratioide Gebiet umfaßt roh umgrenzt alles
wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetz und Regel zusammenfaßbare, vor
allem also die physische Natur; die moralische aber nur in wenigen
Ausnahmefällen des Gelingens. Es ist gekennzeichnet durch eine gewisse
Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung, durch eine
relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander, so daß sie sich auch in
schon früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begriffen
gewöhnlich einfügen, in welcher Reihenfolge sie immer
entdeckt worden seien. Vor allem aber schon dadurch, daß sich die Tatsachen auf
diesem Gebiet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen. Eine Zahl, eine
Helligkeit, Farbe, Gewicht, Geschwindigkeit, das sind Vorstellungen, deren
subjektiver Anteil ihre objektive, universal übertragbare Bedeutung nicht
mindert. (Von einer Tatsache des nicht ratioiden Gebietes dagegen, z. B. dem
Inhalt der einfachen Aussage »er wollte es«, kann man sich niemals ohne
unendliche Zusätze eine hinreichend bestimmte Vorstellung machen.) Man kann
sagen, das ratioide Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht
in Betracht kommenden Abweichung; vom Begriff des Festen als einer fictio cum
fundamento in re. Zu unterst schwankt auch hier der Boden; die tiefsten
Grundlagen der Mathematik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik
gelten nur angenähert und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem,
das nirgends einen Ort hat. Aber man hofft, das alles noch in Ordnung zu
bringen. Des Archimedes Wunsch ist heute noch der Ausdruck für unser
hoffnungsfreudiges Gehaben.
Bei diesem
Tun ist die geistige Solidarität entstanden. Nichts ist daher begreiflicher,
als daß die Menschen versuchen, das gleiche Vorgehn auch in den im weitesten
Sinne moralischen Beziehungen einzuhalten, obgleich es dort täglich schwieriger
wird. Auch auf dem moralischen Gebiet wird heute nach dem Prinzip der
Pilotierung vorgegangen und werden in das Unbestimmte die erstarrenden Caissons
der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen, Regeln und
Formeln spannt. Der Charakter, das Recht, die Norm, das Gute, das Imperativ
sind solche Pfähle, auf deren Versteintheit gehalten wird, um daran das Netz
der hunderte moralischen Einzelentscheidungen, die jeder Tag fordert, aufhängen
zu können. Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine
statische, mit dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Wege von der
Natur zum Geiste gleichsam aus einem starren
Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll unausgesprochener Bewegung getreten
ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr komische Technik der Einschränkung und
des Widerrufs, deren Kompliziertheit allein schon unsere Moral zum Untergang
reif erscheinen läßt. Man denke an das populäre Beispiel der Abwandlung des
Gebots »Du sollst nicht töten«, von Mord über Totschlag, Tötung des
Ehebrechers, Duell, Hinrichtung bis zum Krieg, und sucht man die einheitliche
rationale Formel dafür, so wird man finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei
dessen Anwendung die Löcher nicht weniger wichtig sind als das feste Geflecht.
Denn hier
hat man längst nicht-ratioides Gebiet betreten, für das uns die Moral bloß ein
Hauptbeispiel abgibt, wie die Naturwissenschaft eines für das andere Gebiet
gewesen ist. War das ratioide Gebiet das der Herrschaft der »Regel mit
Ausnahmen«, so ist das nicht-ratioide Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen
über die Regel. Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied, aber
jedenfalls ist er so polar, daß er eine vollkommene Umkehrung in der
Einstellung des Erkennenden verlangt. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf
diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht,
sondern sind unbeschränkt variabel und individuell. Es gelingt mir nicht,
dieses Gebiet besser zu kennzeichnen als darauf hinweisend, daß es das Gebiet
der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die andern Individuen ist,
das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen
Beziehungen, das Gebiet der Idee. Ein Begriff, ein Urteil sind in hohem Grade
unabhängig von der Art ihrer Anwendung und von der Person; eine Idee ist in
ihrer Bedeutung in hohem Grade von beiden abhängig; sie hat immer nur
okkasionell bestimmte Bedeutung und erlischt, wenn man sie aus ihren Umständen
loslöst. Ich greife eine beliebige ethische Behauptung heraus: »es gibt keine
Meinung, für die man sich opfern und in die Versuchung des Todes begeben darf«
– und jeder von den Spuren ethischer Erlebnisse Beschlagene
und Behauchte, wird wissen, daß man ebenso leicht das Gegenteil behaupten kann
und daß es einer langen Abhandlung bedarf, bloß um zu zeigen, in welchem Sinn
man es meint, bloß um Erfahrungen in einer Wegweiserrichtung aneinander zu
reihen, die dann doch irgendwo sich unübersehbar verästelt, aber doch irgendwie
ihren Zweck erfüllt hat. Auf diesem Gebiet ist das Verständnis jedes Urteils,
der Sinn jedes Begriffes von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als Äther,
von einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechselnden persönlichen
Unwillkür. Die Tatsachen dieses Gebietes und darum ihre Beziehungen sind
unendlich und unberechenbar.
Dieses ist
das Heimatsgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft. Während
sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung
so viel Gleichungen aufstellen kann als er Unbekannte vorfindet, ist hier von
vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein
Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen,
Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende
Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den innern Menschen erfinden. Ich hoffe,
diese Beispiele sind deutlich genug, um jeden Gedanken an »psychologisches«
Verstehen, Erfassen und dergleichen auszuschließen. Psychologie gehört in das
ratioide Gebiet und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht
unendlich, wie die Existenzmöglichkeit der Psychologie als
Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die
seelischen Motive, und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.
Der Mangel
an Erkenntnis, daß es sich überhaupt um zwei ihrer Wesenheit nach verschiedene
Gebiete handelt, verschuldet die bürgerliche Betrachtung des Dichters als eines
Ausnahmemenschen (von wo es zum Unzurechnungsfähigen nicht weit ist). Er ist
nur insofern Ausnahmemensch als er der Mensch ist, der auf Ausnahmen achtet. Er
ist weder der »rasende«, noch der »Seher«, noch »das Kind«,
noch irgend eine Verwachsenheit der Vernunft. Er verwendet auch gar keine andre
Art und Fähigkeit des Erkennens als der rationale Mensch. Der bedeutende Mensch
ist der, welcher über die größte Tatsachenkenntnis und die größte ratio zu
ihrer Verbindung verfügt – auf dem einen Gebiet wie auf dem andern. Nur findet
der eine die Tatsachen außer sich und der andere in sich, der eine findet sich
zusammenschließende Tatsachenreihen vor, der andre nicht.
Ich bin
nicht sicher, ob es nicht Pedanterie ist, so umständlich auseinanderzulegen,
was vielleicht Binsenwahrheit ist. Zur Entschuldigung möchte ich hiebei
Ungesagtes anführen, das ebenso wichtig: vor allem die Abgrenzung von den sog.
Geisteswissenschaften und historischen, die nicht einfach ist, aber das bisher
Gesagte bestätigt. Ob solche Untersuchungen aber als Pedanterie zu bewerten,
wird sich zuletzt nur nach der Wichtigkeit richten, die man dem Nachweis
zumißt: daß die Struktur der Welt und nicht die seiner Anlagen dem Dichter
seine Aufgaben zuweist.
Man hat
öfters dem Dichter die Aufgabe zugewiesen, der Sänger, der Verklärer seiner
Zeit zu sein und sie, so wie sie ist, in die überglänzte Sphäre der Worte zu
ekstasieren; man hat von ihm Triumphpforten für den »guten« Menschen verlangt
und Verherrlichung der Ideale; man hat »Gefühl« – das heißt natürlich nur
bestimmte Gefühle – von ihm verlangt und Absage an den kritischen Verstand, der
die Welt verkleinere, indem er ihr die Form nimmt, so wie der Steinhügel eines
zusammengestürzten Hauses kleiner ist als das einstige Haus. Man hat zuletzt in
der Praxis der Expressionisten, die das gemeinsam hat mit dem alten
Neo-Idealismus, von ihm verlangt, daß er die Unendlichkeit des Gegenstandes
verwechsle mit der Unendlichkeit der Gegenstands-bezeichnungen, wodurch ein ganz
falsches metaphysisches Pathos entstand. – Alles das sind Konzessionen an das
»Statische«, ihre Forderung widerspricht den Forderungen des moralischen
Gebietes, ist materialwidrig. Man wird einwenden, daß das
hier Gesagte nur eine rein intellektualistische Auffassung widerspiegle. Nun,
es gibt Dichtungen, die von allem hier als Hauptaufgabe Betrachteten wenig
haben und dennoch erschütternde Kunstwerke sind; sie haben ihr schönes Fleisch
und das des Homerischen leuchtet durch Jahrtausende zu uns. Im Grunde kommt das
doch nur von gewissen konstant gebliebenen oder wieder zurückgekehrten
geistigen Einstellungen. Die Bewegung der Menschheit seither kam aber von den
Variationen. Und es bleibt bloß die Frage, ob der Dichter ein Kind seiner Zeit
sein soll oder ein Erzeuger der Zeiten.
Siebenter Exkurs
Ein
allerdings jugendlicher Herausgeber bekanntmachte im August 1914 in den
Journalen, daß er das Erscheinen seiner Zeitschrift einstelle, denn »nun sei
die Zeit zum Handeln«. Wie verkommen muß das Denken oder vielmehr das, was man
heute so darunter versteht, geworden sein, um in einen solchen exkludierenden
Gegensatz zum Handeln gebracht werden zu können! Wie sehr muß das Handeln
nichts mehr weiter als Handel, Welthandel meinetwegen, bedeuten, mit bedenklich
vereinbar, aber nicht mehr mit gedanklich! Aus welchem Denk- oder Handelskreise
ja auch Wort und Sache der Realpolitik stammt, die einer immer dann zu treiben
vorschlägt, wenn er rein nichts politisch zu denken hat, sondern nur »handeln«
will.
Nicht übel
hat jemand das Denken ein verhaltenes Handeln und Sprechen genannt. Die
denkende Vernunft ist eine Kraft, die sich in Arbeit zu transformieren sucht;
sicher hat sie ihr mechanisches Äquivalent, und alle Denker, alle wahrhaft
Intellektuellen leiden nicht nur nicht an sozialer Anästhesie, sondern fühlen
sehr lebhaft die soziale Mission der Wahrheit. Descartes war, was immer er auch
dagegen sagen mochte, verzehrt vom Proselytismus, und Leibniz träumte, wenn er
seinen Instinkten Lauf gab, von einem Dienertum der
Mikrokephalen und Anthropoiden und der Retablierung des Despotismus zu Gunsten
der denkenden Gattung. Wenn Renan lächelnd die Macht zu verachten vorgab, so
weil er ein verstümmelter Aristokrat war und zu stolz, um sich zu beklagen;
aber sein Lächeln war nicht das eines glücklichen Menschen, sondern voll
Bitterkeit des Ressentiments. Auch wenn die Denker die Indifferenz gegenüber
der populären Demenz empfahlen, so taten sie das im Bewußtsein ihrer
numerischen Schwäche und der indiskutabeln materiellen Allmacht des Irrtums:
darum affektieren sie lieber die Unempfindlichkeit, als daß sie einen
ohnmächtigen Haß zugeben. Aber sie lebten wahrhaft nicht in behaglicher Ruhe
neben dem Irrtum, denn dies ist nicht möglich. In jedem Denker ist die
Leidenschaft eines Ikonoklasten, und er hat gegen jeden Narren einen
physiologischen Haß, – der mag im heutigen relativistischen Denkbetrieb recht
schwach geworden sein, so schwächlich wie das Denken selber, das abdankt, wenn
ein Krieg die Zeit bringt, wo »zu handeln« ist. Irrtum, zu sagen, daß es
abdanke, denn es hat ja nicht geherrscht. Es hat schon zuvor gehandelt und mit
sich handeln lassen.
Das Handeln
– politisches, militärisches, wirtschaftliches – wird heute mehr als je als der
schöpferische Akt schlechthin angesprochen, dem das Denken als kritische
Anstrengung des menschlichen Geistes untergeordnet sei. Nur in der Metapher und
fern allem wahrhaften Glauben, daß es wirklich so sei, wird eine
Glaubenshandlung oder ein Dichtwerk als Tat angesehn. Und dem entspricht, daß
man in der kritischen Tätigkeit ein Tun von noch viel zweifelhafterm Wert
erblickt, zumal Kritik heute in litteris so selten ist wie häufig das
Rezensententum, das von der Kritik nichts als sekundär-formale Derivate
entlehnt und seinen Unfug damit treibt; genau so wie das meiste dessen, was
sich heute Kunst nennt oder so genannt wird, von der Kunst formale Derivate
entlehnt und damit seinen manchmal interessanten Aufwand besorgt: innerhalb
dieses Bereiches protestiert der »Künstler« gegen seinen »Kritiker« und zitiert
die Goethesche Aufforderung, den Rezensenten totzuschlagen,
womit er sich übrigens nur auf die Seite Goethes schlagen will. Scheiden wir
diese falschen Wertträger und Wertgeber aus, um in der absoluten Sphäre von
Kunst und Kritik, von schöpferischer und kritischer Kraft zu bleiben, so geben
wir gleich den Rangunterschied zu und sagen, daß die schöpferische Kraft höhern
Ranges ist als die kritische, aber bemerken: daß sich vorhandene schöpferische
Kraft nicht ausschließlich in Werken der Kunst geäußert, ja daß es Epochen in
der Geschichte eines Volkes wie in der Einzelgeschichte der schöpferischen
Person gibt, wo sich diese Kraft in Kunstwerken gar nicht äußern kann und als
doch vorhanden andre Formen der Äußerung aufsuchen und ausbilden muß. Die
schöpferische Kraft setzt Elemente und Materien vorhanden voraus, mit und aus
denen sie als synthetisch gerichtete Kraft arbeitet: sie äußert sich in
keinerlei Werk, wenn diese Elemente und Materien nicht gegeben sind, als welche
wir in der Schriftkunst außer der Sprache die Ideen kennen, die in einer Zeit
gemein vorhanden sind; also nicht bloß die individuell erreichbaren Ideen –
nach denen immer jeder Epigone greift – oder gar von der Schriftkunst zu
schaffende Ideen. Ebenso auch nicht individuell erzeugte Sprechformen oder aus
deren altem Bestande erlernte. Nur bedingt ist der Dichter sprachschöpferisch,
aber Ideen zu schaffen ist gar nicht der Dichtkunst, sondern der Philosophie
Aufgabe. Damit sein Werk Erscheinung werde, muß der Dichter in einer
spirituellen Atmosphäre stehn, in einer gewissen Ordnung der Ideen hausen, um
sein synthetisches Werk herstellen zu können. Die Seltenheit solcher Atmosphäre
bezeugt die Seltenheit großer schöpferischer Epochen und bezeugt ferner das
Zu-kurz-kommen, das Ungenügende, Untragende im Werke an sich großer Begabungen
wie zum Beispiel Lenaus. Es ist das gelungene Werk eben nicht allein auf die
schöpferische Kraft des Einzelnen zu stellen, sondern auch auf diese zweite
Komponente, welche das ideell tragende Zeitmoment ist. Dieses Zeitmoment zu
schaffen, ist nicht nur außerhalb der Kraft des Dichters –
selbst es zu kontrollieren, ist nicht in seiner Artung und Macht. Aber diese
Kontrolle zu üben, liegt im Bereich der kritischen Kraft, deren Äußerung ist,
in allen Gattungen des Wissens, der Philosophie, Theologie, Geschichte, Kunst
den betreffenden Gegenstand zu sehn, wie er an sich wirklich ist, das heißt aus
ihm das Gesetz seines kritischen Methodus abzuleiten. Die Kritik tendiert, eine
Ordnung, einen Kanon der Ideen zu errichten, eine intellektuelle Situation zu
schaffen, in welcher die schöpferische Kraft des Dichters die für ihre Äußerung
günstige Atmosphäre findet. Denn es erreichen die von der Kritik aus der
phänomeno-logischen Anschauung ihrer Gegenstände gewonnenen ideellen Werte die
Gesellschaft, rühren, bewegen, ändern deren Leben – und damit ist der Boden
geschaffen, auf dem die schöpferischen Epochen der Literatur zustande kommen.
Ein Hinweis auf die kritische Vorperiode der deutschen Klassizität, die
Tätigkeit der Schweizer und Lessings, dürfte hier genügen und im Einzelnen
nicht auszuführen sein.
Es gibt kein
zeitloses Dichten, denn der Dichter lebt als ethisch höchst wertvoller Teil der
menschlichen Gemeinschaft in und aus einer bestimmten Zeit in die Zeiten, nicht
aus den Zeiten in seine Zeit; er ist nie und nimmer ein Unmensch, ein
Abstraktum, das sich wie zufällig und mit seinem Unwesentlichen in einem
Privatmenschen versteckt, der einen bürgerlichen Namen hat, um mit seinem
Wesentlichen, eben dem Dichterischen, außer der Zeit und Welt zu sein, die er
lebt – bei den Sternen etwa. So außerzeitlich lebend konzipiert sich rollenden
Auges nur der Dichterling und Dilettant. Es ist vielmehr so, daß der Dichter
seine Zeit am intensivsten lebt – erleidet – aus Energien solchen Mit-Lebens,
deren Übermaß die Unsterblichkeit seines Werkes nähren. Nur dieses Mit-Leben
gibt dem Dichter den Wert, der als ein ethischer sein Tun mit anderm Tun
vergleichen läßt. Es wird die sittliche Größe und Bedeutung des Werkes daran zu
erkennen sein, bis zu welchem Umfang der Dichter seine
erlebte und erlittne Umwelt zum Ausdruck bringt.
Je komplexer
das Leben, je durchworfener dessen kulturelle Wertigkeit, um so wichtiger wird
die kritische Arbeit zur Bereitung der von der Zeit her bestimmten Möglichkeit
einer dichterischen Entfaltung, welche die Dauer in sich trägt. Außerordentlich
war die kritische Arbeit, welche dem Erscheinen Goethes voranging, ihm Welt und
Leben als die geordneten Elemente und Materialien in ganz anders
durchgearbeiteter Weise bot als diese Elemente etwa jenen durchaus genialen
frühfertigen Engländern Byron, Shelley, Keats, Wordsworth gegeben wurden, deren
Werk immer noch, heute noch sanguinische Hoffnungen begleiten und begleiten
müssen, weil es für die in sich ruhende Dauer nicht vollendet und irgendwie am
frühen Sterben ihrer Schöpfer mitgestorben ist. So haben diese Schöpfungen
nicht viel mehr Dauer als Werke weit weniger glänzender Epochen, jener etwa,
aus der uns Herrick noch etwas bedeutet, dessen Wert doch gewiß als Eigenwert
geringer ist als der des Keats oder gar Byrons. Man kann sagen: jene Engländer
wußten nicht genug, und so fehlt ihrem Werke bei allem Glanz, aller Tiefe und
aller Energie die kulturelle Weite, die höchste sittliche Bedeutung und, nicht
zuletzt, die dichterische Mannigfaltigkeit. Dieses Werk blieb genialisch
unvollendet, weil ihm keine kritische vorgehende Kraft die Atmosphäre schuf.
Ein groteskes Beispiel solchen Nicht-Wissens aus fehlender Kritik, wie wir dies
verstanden haben wollen, bietet der sogenannte deutsche Naturalismus der 80er
Jahre, wo allerdings auch ein sehr großes kritisches Wissen nicht vermocht
hätte, aus diesen Dilettanten mit Nachahmungstrieb Dichter mit schöpferischer
Kraft zu machen. Einer der Gründe, daß dieses »jüngste Deutschland« so etwas
wie Epoche sein konnte, lag aber immer darin, daß keine Zeit kritisch
verwahrloster war als diese vom Jahre 1880 bis 1900 und nicht nur in der
speziell ästhetischen, sondern in jeder Kritik. Der geistige Zerfall aller
dieser Größen, die sich platt auf ein plattgesehenes Leben
warfen, um auf dem Bauche oder tiefer einen Abdruck davon zu nehmen, mußte
darum bereits in einem Alter eintreten, wo sonst der schöpferische Mensch erst
seines ganzen Umfanges inne wird: hier wurde man die gähnende Leere inne, in
die man rasch Errafftes von überallher stopfte: Klassik, Romantik, Symbolik,
Mystik – wie es Laune und Mode brachte. Die nachfolgende Generation erschrak
und besann sich: sie wurde kritisch. Und erst die dritte Generation seit jenen
Sudermann und so weiter ahnt Verantwortung, denn sie ist kritisch vorbereitet.
Über die
Bedeutung des gebrauchten Wortes Wissen ist noch einiges zu sagen. Vor allem,
daß es nicht etwa Belesenheit bedeutet. Daß der Dichter nichts lesen dürfe, war
ja nur deutsche Meinung jener »Dichter« um 1880. Aber daß der Dichter belesen
zu sein habe, ist keinerlei Forderung. Shelley war belesen, und Coleridge
verschlang Bibliotheken. Pindar aber dürfte nur sehr wenige Bücher gelesen
haben und auch Shakespeare nicht viel mehr. Aber in jenen Epochen, der des
Pindar und der Shakespeares, gab es ein immediates Wissen aus einem lebendigen
Kulturganzen; Volk oder Gesellschaft waren von Gedanken durchdrungen, welche
das Leben deutlich abformten; es bedurfte eines Umweges über Lernen und Bücher
gar nicht, um zu wissen; und war der Zustand dieser Gesellschaft, dieses Volkes
eben ein solcher, daß er ohne kritische Mittler schon die Basis für die
Auswirkung der schöpferischen Kraft gab, von diesem Zustand selber seine Data,
seine Materie und seine Elemente empfing. Nicht anders im Mittelalter, das die
im Verfalls-Latein aufgekommene Kritik wieder vergessen konnte, weil ein
Zustand war, der unmittelbar dem Minnedichter gab, was er brauchte. Alles
Wissen der Welt ist für den Dichter nur dann von Wert, wenn es ihm das
Zeitmoment vermittelt, das er lebt, damit sich seine schöpferische Kraft äußern
kann. Zu dieser Kraft selber kann er natürlich durch keinerlei Wissen gelangen,
denn sie ist nicht erlernbar, außer in jenen öden Zeiten,
wo für Dichten ein Nachahmen von Mustern galt. Aber diese Nachahmer von Mustern
waren Gelehrte und Bürgermeister und seltsame Pedanten, Dichter aber in gar
keinem Sinne des Worts.
Wo die
Gesellschaft nicht mehr so ist, daß sie sich ohne Mittler dem Dichter als
Element bietet, da mögen Bücher und Kenntnisse dazu Hilfen sein, daß Einer sich
eine seinem Bilde der Welt gleichende Welt aus Wissen und Einsichten
konstruiert, in der er leben und wirken möchte. Dieses Gebilde ist aber für den
Künstler durchaus kein volles Äquivalent für die verlorene kulturelle
Voraussetzung eines Shakespeare – wohl aber kann solches Konstruieren eine
Vorbereitung für eine kommende solche kulturelle Voraussetzung sein, eine
Beschleunigung ihres Eintretens, und darin liegt der Wert solcher konstruktiver
Vorwegnahmen dessen, was sein könnte, sein sollte, sein wird. Nichts war in dem
Deutschland von 1750 vorhanden, was das Perikleische Zeitalter auszeichnete
oder die Zeit der Elisabeth. Und hier ist der Grund für die schwierige weil
schwache Seite des Dichters seit dem Ende des Grand Siècle. Hier lag die
schwierige und schwache Seite auch Goethes. Aber seine Stärke darin, daß es
eine kritisch belebte und lebendige Bildungsschicht gab, diese wenigstens, und
welche bedeutend genug war, daß sie ein Äquivalent abgeben konnte für den
fehlenden allgemeinen Kulturstand. Goethe fand seiner schöpferischen Kraft den
Boden, wenn auch nicht in einem lebendigen kongenialen Leben der Nation, so
doch in einem lebhaften Dasein einer durchaus kultivierten gebildeten Schicht
gegeben, an deren kritischer Weiterbildung er, das dichterische Amt
beiseitesetzend, selber noch arbeitete. Jenen Engländern im ersten Viertel des
19. Jahrhunderts fehlte nicht nur das national-kulturelle Leben, sondern auch
die kritisch gebildete Schicht, und so verbrauchten sie ihre schöpferische
Kraft in einer Isolation von allen Seiten: sie kamen nicht zur Welt, die sie brauchten,
um das zu bedeuten, was sie ihrer Anlage nach bedeuten sollten.
Man erwartete von diesem Kriege, von dessen Erlebnis
man überhaupt alles erwartet wie von einem Universalautomaten, auch so etwas
wie eine fundamentale geistige Erneuerung der Literatur, und man dachte in
solcher Erwartung nicht nur wie auf der daran politisch interessierten Seite an
so etwas wie eine betont national-patriotische Literatur – die betreffenden
Sänger dürften sich ja wohl ausgezwitschert haben – sondern an allerlei geistige
Vertiefung und gefühlsmäßige Erweiterung, Mysterienspiele über das Erbarmen
vielleicht oder sonst so was Frommes, Weiches, Gütiges, Herzübergebendes. Wir
erlauben uns, diese damit dem Kriege zugeschobene Rolle des Kritikers durchaus
zu bezweifeln, denn wir vermissen in ihm gänzlich jene reinen Ideenkomplexe,
die allein für die Künste in Betracht kommen. Denn die genannten Gefühligkeiten
wird man doch wohl nicht als Ideen ansprechen wollen, so wenig wie vor dem
Kriege die mechanische Tatsache, daß die Menschen das Telefon bestaunten, weil
sie das Telefon mit der Stimme verwechselten, oder das Flugzeug anbeteten, weil
sie diese Maschine für die darin fahrenden Menschen hielten. Wir erinnern an
die französische Revolution, deren positive Wirkung auf die Kunst nicht nur
außergewöhnlich gering war im Verhältnis zu dem Ereignis, sondern welche, nach
Goethes Zeugnis, eher eine negative Wirkung auf die Kunst gehabt hat und nicht
nur in Deutschland. So außerordentlich stark der Rationalismus von 1700 bis
1770 als ein reiner Ideenkomplex auf die Gestaltung der europäischen
Literaturen wirkte, so gering war in diesem Bereiche die Wirkung der
Revolution, deren Ideen, sofern welche da waren, sich sofort auf eine
politische Praxis nicht nur wandten, sondern von ihr überhaupt als Ideen
ausgewählt wurden, indem von jeder Idee die Legitimation ihrer menschlichen
Vernünftigkeit verlangt wurde – sehr entsprechend so dem französischen Geiste,
wie es dem englischen Geiste entsprach, daß man 1642 bei jeder Einrichtung nach
deren Legalität fragte oder bei Ideen danach, ob sie in Übereinstimmung mit dem
Gewissen seien. Solche typisch insulare Haltung eroberte
sich die Welt nicht, während es den Ideen der französischen Revolution wohl
gelang, die allgemeine Begeisterung zu wecken, weil die geringste Rolle in den
menschlichen Betätigungen überall die Vernunft spielt. Daß sie, die man ein
Jahrhundert lang rein ideell manipulierte, von nun ab die erste Rolle im
praktisch-politischen Leben haben solle, begeisterte zu allem Sinn und Unsinn,
Heroismus und Verbrechen, welche die Revolution begleiten. Und dies, weil die
Ideen der Revolution unmittelbar praktisch gerichtet waren als die ganz
unkritisch »richtigen« Ideen – darum, weil sie in diesem unmittelbaren Sinn
praktisch-politisch waren, sind die Ideen von 1789 nicht mit reinen
Ideenkomplexen vergleichbar, wie sie die Renaissance und die Reformation
aufstellten, wohl aber vergleichbar mit den Ideen von 1917, die aus einer
Praxis abgezogen direkt in eine Praxis gebracht werden sollen. Das von
praktischen Erwägungen geleitete Hin- und Herschieben schafft, so riesig auch
die darauf verwandte Kraft ist, nicht das, was als eine geistige Atmosphäre für
die Kunst und den Künstler allein in Betracht kommt. Was hier geschieht, ist
kein geistes-kritisches Werk – das schon zehn Jahre vor dem Kriege einsetzte
und durch ihn gar nicht geändert oder auch nur modifiziert wurde – sondern ist
nichts als praktisch-politisches Bessermachen, wodurch diese Tätigkeit als
höchst wichtige durchaus nicht für ihren Bereich entwertet werden soll, sondern
nur für den Bereich der Kunst und der Kritik. Wer sich von der Änderung eines
Wahlmodus eine Aufbesserung der Kunst verspricht, irrt sich entweder über das
Wählen oder über die Kunst. Es sind nichts als praktische Gedanken, die einer
über Wählen, Sozialisierung des Kapitals und so weiter hat, aber es äußert sich
hier nicht der kritische Geist, den die Neugierde nach den besten Ideen leitet,
nicht nach den praktischsten. Indem so der kritische Geist sterile Konflikte
vermeidet, indem er sich nicht in die Sphäre begibt, innerhalb welcher enge und
relative Konzeptionen allein irgend Wert haben, mag er seinen augenblicklichen Einfluß mindern, aber nur dadurch gelangt er zu den weitern
und vollendeteren Konzeptionen, denen er allein sachlich verpflichtet ist. Jede
Art Praxis, sei diese politischer, moralischer, ja selbst religiöser Art,
beruht auf nur sehr inadaequaten Ideen, denn es ist den Menschen in ihrer
großen Mehrzahl nicht eigentümlich, daß sie ein brennendes Verlangen danach
haben, die reine Idee zu erkennen; sie begnügen sich bestenfalls mit dem
Beiläufigen. Aber auch dieses Beiläufige wird nur dann aufgenommen werden
können, wenn die dem kritischen Geist Verpflichteten eben nicht dieses
Beiläufige besorgen, sondern nur die reinen Ideen bedenken, mit andern Worten,
wenn sie nicht praktisch und relativ, sondern rein und absolut denken, mag man
sie auch im Augenblick wie immer mißverstehn, und mag dieses Mißverständnis so
universal sein wie in unsrer Zeit. Der spekulativ reine Kritiker wird zu seinem
eignen Mißverständnis, wenn er sich in die unmittelbare praktische Kritik
begibt, denn er muß als spekulativer Kritiker wissen, daß auf diesem Gebiete
die Werte der Wahrheit die geringste Kompetenz haben und sie darin, wenn überhaupt,
so nur in verzerrender Maskierung eingeschmuggelt werden können. Diese
Verstellung zu besorgen, aus was immer für Gründen, ist nicht nur nicht Aufgabe
des Kritikers, sondern deren Aufhebung. Es ist eine flach liberale Redensart
aller Arten von billigen Weltverbesserern, daß man es satt habe, solche
Subtilitäten echter und falscher Kritik zu unterscheiden und daß jeder
verpflichtet sei, so gut er könne, praktisch an dem Karren der Menschheit zu
ziehn, damit er aus dem Dreck käme, denn Bewegung sei die Hauptsache, und alles
wolle die Wahrheit, wofür wir nur schnell noch eine Partei gründen, nämlich die
der Praktisch-Denkenden. Nun, auf solche Weise würde die Erkenntnis der
Wahrheit eine amüsante soziale Angelegenheit werden, ein lustiges Wettrennen Aller
nach Allem, mit erheiterndem Übereinanderpurzeln und dem leichten Glücksgefühl
bequem genommener Hindernisse, kurz sehr viel Staub und sehr wenig Denken.
Äußern ungeduldige jugendliche Gefühle den Wunsch nach
solchem Praktischwerden der kritischen Kraft, so bedeutet das nicht viel Irrtum
und nur dies, daß diese Jugendlichen nicht wissen, daß das »Praktische« darin
besteht, ein Gesetz über die Reblausschäden brauchbar zu konzipieren oder eines
über das Lombardgeschäft; diese Jugendlichen denken bei ihrem Wunsche nach
»praktischem Denken« ans Weltumstürzen, weil sie in ihrem Temperamente, wie W.
Rathenau mir einmal schrieb, nicht wissen dürfen, daß eine umgestürzte Tonne
Teer ihren Inhalt wohl von sich gibt, aber höchst langsam, und daß sich die
Menschen die Form ihres Lebens in einem mühsamen Schritt vor Schritt ergangen
und nicht in Sprüngen erhüpft haben. Äußern aber die Alten den Wunsch, daß das
Denken praktisch werde, so wollen sie damit, wenn überhaupt etwas, die Beuge
des Reinen in ihr Unreines – zumeist aber ist es nichts weiter als Verachtung
des Denkens aus dem Unvermögen, aus dem Bauche das Denken nicht denken zu
können.
Allen diesen
Versuchungen gegenüber hat der kritische Geist zu widerstehn und nicht darauf
zu hören, daß auch er terrae filius sei. Périssons en résistant kann in
höchster Bedrängung immer nur sein letztes Wort sein. Der kritische Geist muß
geduldig zu warten wissen und darf nicht hurtig zum Ziel eilen wollen, weil es
von praktischer Wichtigkeit sei; er muß die Distanz zu den Dingen bewahren; er
muß imstande sein, Elemente auch dann als positive zu werten, wenn sie einer
Macht zugehören, die in ihrer praktischen Sphäre vom Bösen ist; er muß Elemente
auch dann als negativ wertig erkennen, wenn sie in ihrer praktischen Sphäre vom
Guten sind; denn das Praktisch-Gute und das Praktisch-Böse sind keine
Kriterien; und er muß dies, ohne hier der praktischen Sphäre zu schmeicheln,
dort ihr zu drohen, denn der kritische Geist ist nicht Partei. Ab integro
saeculorum nascitur ordo: dies ist der Leitsatz für die kritische Einstellung,
was nicht bedeutet, daß er in eine Abstraktizität verfallen soll, tautologisch
wie die Mathematik. Die Einstellung wird ihn nur davor bewahren, in Urteil und Wertung innerhalb des Relativen zu bleiben,
indem er das »Wenigst-Relative« als das schon »Fast-Absolute« auszeichnet. Auf
die literarische Kritik, der wir unsre Beispiele entlehnten, auch hier gewandt,
will das sagen, daß man etwa bei erkannter Unwertigkeit einer Literatur –
nehmen wir die deutsche von 1880 bis 1900 an – die Vergleichspunkte nun nicht
innerhalb dieses Unwertes selber sucht und das weniger Schlechte als Maß für
das Ganz-Schlechte aufstellt, sondern daß man auch den Zustand der
gleichzeitigen außerdeutschen Literatur in Betracht zieht oder, wenn auch dies
nicht zureicht, um die kritische, immer positive Aufgabe zu lösen, frühere
Literaturen.
Wir haben in
diesen Bemerkungen den Umfang des Gegenstandes kaum angedeutet, geschweige
erschöpfend beschrieben; wir wollten nur Wert und Wesen der Kritik prinzipiell
anmerken in einer Zeit, welcher der Begriff der Kritik sich verunreinigt hat so
sehr, daß Kritiker selber, dies nicht merkend, auch dann noch wahrhaft kritisch
zu sein vermeinen, wenn sie nichts als praktisch sind.
Achter Exkurs
In den
literarischen Betätigungen dieser Zeit wird an einem sehr vieldeutigen Begriff
»Dichter« aus einem mißverstandenen Traditionalismus festgehalten, mit dem sich
sowohl die Produzenten wie die Konsumenten des heute Gedruckten ihr harmloses
Vergnügen scheinbar veredeln, in Wahrheit aber verekeln und verbittern. Es
dürfte diese Zeit seit 1880 etwa an fünftausend im Schreiben tätige Deutsche
das Prädikat Dichter vergeben haben; jeder wurde, wenn auch nicht von allen, so
doch von einigen einmal, öfter oder immer ein Dichter genannt. In dieser noch
nie dagewesenen Armee von Dichtern mußte der Streit über die hierarchischen
Kompetenzen ausbrechen; es gibt, von »schlechten« Dichtern abgesehn, Chargen
aller Art vom »echten«, »gottbegnadeten Poeten« an bis hinunter zum »Unterhaltungsschriftsteller«. Zwischendurch gibt es
»mittelmäßige«, »verlogene« und so weiter Dichter, gibt es »Literaten« und
gemeinhin »Schriftsteller«, gibt es »Ästheten« und »nichts mit dem Leben zu tun
habende Phantasten« und so weiter. Etwas, das von geringem Gewicht ist, sucht
sich damit Schwere zu geben, daß es noch Leichteres als es selber ist aufzeigt.
Ein Gradunterschied wird als Wesensunterschied behauptet. Das Surrogat
entschuldigt sich nicht mit einem andern Surrogat gleicher Gattung, sondern
versucht das andre schlechthin zu entwerten, weil es dadurch schon das Ächte zu
werden meint. Die wahre innere Zusammengehörigkeit, der Treffpunkt im überhaupt
Leichten wird nicht zugegeben, sondern mit distanzierender Geste geleugnet,
wobei das Surrogat »Unterhaltungsliteratur« nichts gewinnt, aber das andre
Surrogat, das es nicht sein will, verliert. Man nimmt hier lieber den
literarisch zweifelhaften Ruf der Langweile auf sich, wenn man damit nur seine
Zugehörigkeit zur »Literatur« behauptet, als daß man mit zugegebener
Unterhaltlichkeit sich in eine Gegend rangiert, die kulturell und
gesellschaftlich nicht angesehn ist. Man kann diese krampfige Geste an einer
Äußerlichkeit sehn: die Selbst-Bezeichnung »Dichter« wird von diesen Dichtern
als ridikül abgelehnt und nur bei Jubiläen hingenommen; Literat gilt ihnen als
hämisches Schimpfwort; Schriftsteller finden sie vom Journalisten entwertet,
mit dem sie nicht verwechselt werden wollen. Da sie mit der Berufung
kokettieren, fühlen sie sich nicht als Beruf. Da sie nicht stehn, sondern der
Nachfrage unterliegen, fühlen sie sich nicht als Stand. Und ihre Lage erkennen
sie nur an der Auflage. Mit dem Bemühn, sich in einen Wesensgegensatz zur
Unterhaltungsliteratur zu stellen, haben diese Schriftsteller in ihre Arbeiten
eine aufgeregte Unsicherheit und in das harmlose Leben ihrer Leser eine
Unbehaglichkeit gebracht, wie sie der Zwang guter Manieren bei jenen
hervorruft, die ohne Kinderstube keine erworben haben. Der Heraufgekommene, der
nur das eine Ziel hat und haben kann: wie mehre ich meinen Kapitalbesitz und
den damit verbundenen Einfluß, läßt sich das kultiviertere
Leben, das ihm als das ihm zukommende eingeredet wird, sauer werden, aber nicht
lange. Der Kaufmann, der Fabrikant, der Unternehmer, sie lassen sich den
Anspruch jener Literatur auf Dichtung gefallen und begeben sich, beredet von
einer Presse, einer schöngeistigen Gattin, einer dichtenden Tochter seufzend in
das Unbequeme, vor dem Eintritt in diese Romane und Stücke gewissermaßen ihre
Schuhe auszuziehen und kunstrituelle Waschungen vorzunehmen; sie nehmen das
Kreuz der Vornehmheit auch in litteris auf sich, denn sie sind, wie sonst auch
hier, im Voraus eingestellt auf eine Anstrengung, die sich nicht »lohnt«, die
ihnen eigentlich nicht zukommt und die sie – ihren Geist in einer ganz andern
und ihnen respektablem, nämlich ihr eines Ziel fördernden Praxis betätigend –
nicht im Mindesten einsehn. Da der Bürger aus seiner eindimensionalen Welt die
Bedingungen der Dichtung nicht stellt, ist die Dichtung nicht nur seiner Zeit
nicht für ihn vorhanden, sondern alle Dichtung überhaupt wird ihm zu einem
Fremden. Bei dem, was er als die heutige, als sozusagen seine Dichtung
vorgeführt erhält, kommt ihm alsbald eine verblüffende Erkenntnis: daß was er
hier als Literatur liest um nichts besser ist als das Ullsteinbuch, nur
zeitraubender, weniger amüsant, umständlicher, psychologisch belasteter und
anspruchsvoller. Andre Unterschiede, die wie die größere Finesse der Bildung zu
Gunsten dieser Literatur ausschlagen, kann er nicht sehn, ja er findet oft bei
genauem Zusehn, daß in dieser Literatur, die mit dem dokumentarischen Anspruch
des »Stimmens« auftritt, vieles nicht stimmt, daß zum Beispiel eine
Banktransaktion ohne jede Kenntnis, die Maschinerie eines Ozeandampfers ganz
falsch und der Seelenzustand eines von seiner Frau hintergangenen
Fabrikdirektors unwahr beschrieben sind, auf welche »Richtigkeit« das
Unterhaltungsbuch sans phrase von vornherein verzichtet und nichts sonst will
als das durchaus Unwahrscheinliche, ja realiter Unwahre, – fast könnte man
sagen das Ästhetenhafte. Die Abneigung, die der männliche
Bourgeois-Leser nach seinen Erfahrungen damit gegen das bekommt, was sich ihm
heute mit hochgezogenen Brauen als Literatur vorstellt und als souveräne
Weiterführung der dichterischen Tradition, – diese Abneigung überträgt er,
gefördert von seiner artbedingten Unproduktivität geistiger Werte überhaupt,
auf alle Dichtung überhaupt: die ablehnende Meinung, die er aus der Literatur
Sudermann und Wassermann gewann, hat er auch für die Literatur Flaubert, die
ihm »dasselbe« wird, und er detestiert Homer wie Spitteler, weil dieser den
Homer, sich von ihm herleitend, zur Literatur macht. Man kann sagen, daß die
heutige Literatur mit ihrem Anspruch auf dichterische Geltung dem männlichen
Teile der heute repräsentierenden Klasse alle Dichtung entwertet hat dadurch,
daß sie sich ein Surrogat seiend für das Ächte ausgab, weil es noch
minderwertigere Surrogate gibt. Es vollzog sich in der Literatur der
Neugekommenen, was auch in ihnen sonst: sie wollen nicht als Leute von heute
erscheinen, wo doch das ganze Heute von ihnen repräsentiert wird; also geben
sie sich Ahnen, wenn sie deren Bildnisse auch nur an die Hausfassade hängen,
denn innen ist für das riesige Aufgebot von Vorderen, das heute getrieben wird,
gar kein Platz. Auch wäre mit ihnen zu leben oder ihnen gar nachzuleben eine
Bürde, deren Verpflichtung und Verantwortung sie gar nicht ertrügen, auch dann
nicht, wenn sich die usurpierten Ahnen auf die Menage einließen. Die Literatur
der Neugekommenen macht als deren Diener die gleiche Bewegung mit: sie sucht
ihre Ennoblierung durch einen Traditionalismus zu erreichen, um sich durch ihn
im Ganzen koordiniert zu datieren; mehr naiv als insolent hantiert sie mit dem
überlieferten dichterischen Gut, das die Gewerbe- und andern Freiheiten auf die
Gasse gestellt haben zum Gebrauch für jedermann, der ein Talent hat, denn die
Kunst ist zu nichts als einer Talent-Frage geworden. Die heutige bürgerliche
Literatur tut Unrecht gegen sich, wenn sie sich die neuere Literatur nennt und
damit Maßstäbe für sich und ihre gleich gesinnte Kritik
provoziert, an denen sie nimmer zu messen ist. Unrecht, denn sie fälscht damit
die einzige Bedeutung, die sie überhaupt haben kann: nichts als ein zeitliches
Dokument zu sein. Sie kann sich die neue Literatur nennen und sich dessen
bewußt werden, daß sie ihresgleichen in den Zeiten nie hatte, aus deren Kunst
sie nur das sekundärformale Convenü entlehnt und solange entlehnen muß, als sie
sich noch, über ihr eigentliches Wesen im Irrtum, der alten Dichtung
blutsverwandter Erbe und direkter Nachkomme glaubt, deren Ausdruck sie zu
sekundär gemachten Formmitteln mißbrauchen muß – »Form« und »Inhalt«, dieses
Untrennbare trennend – weil sie keinem Kulturkreis entwachsend wohl als ein
Zeitelement da ist, aber als vermeinte Dichtung sich selber mißversteht zusamt
den Begriffen der Dichtung und des Dichters.
Es zeichnet
das dieser Zeit gemäße und von ihr gebilligte Verhalten zu dem ihr fremden,
weil nicht in ihr bereitungsmöglichen Dichterischen aus, daß es wählend ist, wo
man nur schöpferisch oder überhaupt nicht sein kann. Und dieses wählende
Verhalten ist nicht einmal eklektisch, da es sich nicht für eine der zu
wählenden Formen entscheidet, sondern für keine und alle Formen, da nur Mode
die Wahl trifft und nicht die geringste innere Verwandtschaft zu irgend einer
der historisch gegebenen Formen. Ja manchmal glaubt diese Zeit, als ein rechter
Münchhausen, der sich am eignen Schopf aus dem Sumpf zieht, daß sie gerade im
Formlosen ihre spezifische Form gefunden habe. Oder sie erklärt, sehr
konsequent, das Materiale schon für das Geistige, womit sie auf den Geist
verzichtet, den sie nicht besitzt, und sagt, sie wolle ihn auch gar nicht und
gerade dies sei ihr »Geist«; so gebiert sie was sie ganz von außen sehend einen
»Stil« nennt aus den Gußformen des Beton in Bauten oder aus den plastischen
Hinterteilformen des Sitzenden in Stühlen: in dieser auf jede vom Geiste
hergebrachten Änderung verzichtenden Materialbetonung drückte sich diese Zeit
nicht aus, sondern sie ist es glatterdings.
Es muß durch eine Zwischenbemerkung mögliche
Verstimmung einiger Leser aufzuheben versucht werden, denn sie könnten das eine
oder andre Wort als ein mit nichts als affektiver Betonung gegen sich
gerichtetes halten und entsprechend darauf reagieren: verstimmt, unwillig,
geärgert oder bösartig das Schreiben als ein Rationalisieren auch des
Affektiven verkennen. So wenig wie den einzelnen Menschen eine negative
Beziehung zur Kunst diesen schon zu einem Menschen mindern Wertes macht, ebenso
wenig wird auch der gesamten heutigen Gesellschaft die Tatsache, daß sie die
Voraussetzungen zur Dichtung nicht schafft, als ein Vorwurf gesagt, sondern nur
und nichts als eine Tatsache konstatiert und über ihren Wert oder Unwert nichts
ausgemacht, dadurch allein noch nichts ausgemacht. Und daß sich diese Zeit, im
Erinnern befangen und ihrer sehr engen Determination zu entrinnen suchend, ihre
gedruckten und gelesnen Dinge als Dichtwerke einzureden bemüht – wie sie auch
alle ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, Erfindungen und Findungen als
Werte geistiger Art anspricht, – dies ist zu menschlich, als daß irgend
kleinster Spott darüber geschmackvoll wäre, so grauslich diese Erscheinung auch
im Einzelnen sich äußern mag und als lebenzerstörend von uns erkannt wird. Es
liegt ganz ferne, aufzustellen, daß keine Dichtung zu haben den Unwert einer
Zeit entscheide. Es ist ja durchaus denkbar nicht nur, sondern wie wir wissen
möglich, daß eine Zeit die Kräfte, die als Dichtung nicht zum Vorschein kommen,
anderswie äußert, und was dort Kraft wäre, kann in dem andern auch nur Kraft
sein. Wir denken etwa an die ersten Jahrhunderte der Christenheit, die voll
größten Lebens und innerhalb der Christenheit so gut wie ohne Dichter waren. Wir
vermeinen den Dichter, den Künstler durchaus nicht als die Spitze der Pyramide,
um derentwillen der ganze Bau menschlichen Lebens errichtet wird. Der heldische
Mensch, der heilige Mensch, der denkende Mensch stehn dem Künstler als
Höchstleistung der menschlichen Gattung mindest zur Seite, – alle sich
gleichbar in dem Einen, auf das alles menschliche Tun nur
bezogen werden kann: im Ethos, dessen Erscheinungsform sich nur wandelt im
dichterischen, heiligen, heldischen und denkenden Menschen. Nur konstatiert,
nicht vorgeworfen wird den führenden Klassen dieser Zeit und den Trägern ihrer
sogenannten Ideale, daß sie die Voraussetzungen ihres Dichters positiv nicht zu
schaffen imstande sind und sie ihrem Wesen nach gar nicht enthalten können; daß
sie sich die Surrogate als das ächte einzureden versuchen; und daß den Dichter
nicht zu haben eine Zeit durchaus nicht schon als eine im Vergleiche mit andern
Zeiten minderwertige charakterisiert. Und doch wird ein Rest der Verstimmung
nicht zu beheben sein, denn ihn wird diese Zeit immer über sich selbst
empfinden, wenn sie nicht mit Gewalt ihr Gewissen betäubt und die Minute im
Tage nicht flieht, wo sie sich, mit ihrem Gewissen allein, ins eigne Antlitz
sehn kann und schaudernd kaum mehr ein menschliches Gesicht erblickt, sondern
eine zerworfene Grimasse.
Die
Zwischenbemerkung, getan um den Leser an die Sachlichkeit unseres nichts als
rational bestimmten Wollens ausdrücklich und um seinetwillen zu erinnern, ist
geschlossen und stellt vor die zu beantwortenden Fragen: warum soll diese
zeittragende und repräsentierende Gesellschaft außerstande sein, die
Bedingungen der Dichtung als kultureller Äußerung in sich zu erzeugen oder zu
enthalten? Zu enthalten, weil die Gesellschaft behaupten könnte, sie enthielte
sie schon, nur fehle es an den dichterischen Personen. Und die andere Frage:
zugegeben, diese Zeit ermöglicht den Dichter, ihren Dichter nicht, – schafft
die so für andres frei werdende gleiche Kraft nicht ein dem Dichter in dem
einzig bezüglichen Bereiche, dem ethischen Bereiche, Gleichwertiges, weil die
gleiche produzierte Kraftmenge enthaltend?
Ernst
gefragt und ernst besprochen, unter Männern und nicht unter schöngeistig
schwärmenden Frauen, wird von jenen rasch zugegeben werden, daß alle diese in
den Gazetten und Salons und Theatern genannten und gerühmten Dichter
keine Dichter sind, auch nicht kleinere oder minderbegabtere als Hölderlin,
sondern überhaupt keine und nichts weiter seien als eine Weile mehr oder minder
unterhaltende Leute im schöngeistigen Fache, was aus der Wirkung auf das
weibliche Wesen und dessen hohe Selbsteinschätzung begreiflich, aber gar nicht
irgendwas oder -wen ernsthaft verpflichtend wäre. »Aber natürlich«, hört man,
»was ist das neben Bismarck, Zeppelin, Edison, Pierpont Morgan, Hindenburg! Die
Knochen des kleinsten Industrie-Chemikers sind mehr wert als ...« Anstrengung
und Leistung dieser bürgerlichen Dichterei sind ein vom betont Ernsthaften
dieser Zeit, dem Fabrikanten, Kaufmann, Ingenieur, Bankier rasch überschautes
sehr bescheiden eingeschätztes Quale und eine Quantité negligeable an den
»wirklichen Werten« dieser Zeit gemessen, die für Frauen und Unmündige zu
garnieren eben diese Literatur da sei. Die repräsentativen Männer dieser Zeit
wissen mit ihr nichts andres anzufangen als sie zu verachten und ihr nur dann
einige Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie sich in die ihnen allein gültige
Wertkategorie begibt: die des zahlenmäßig ausgedrückten Gewinnes. Hohe
Einkünfte aus literarischer Tätigkeit haben dem ernsthaften Manne dieser Zeit
einigen Respekt vor dem Schreibwesen abgenötigt; der kurante Nenner Bankdepot
gab dem Stande in der bürgerlichen Welt einiges Ansehn. Aber es könnte die
bürgerliche Literatur dagegen sagen, daß Aneignung oder Ablehnung, hohe oder
geringe Löhnung ihrer Hervorbringungen durch den bürgerlichen Menschen nichts
gegen den dichterischen Charakter beweise, da das Verhalten einer Zeit zu ihren
Werten, wie die Geschichte der Wertgeltungen zeige, nicht endgültig entscheide.
Doch wäre dieser Einwand auch dann nicht stichhaltig, wenn die Schillersche
Formel von der richtenden Weltgeschichte richtig wäre, denn es drückt sich in
der Stellung des bürgerlichen Menschen zu seiner Literatur auch noch ein andres
als bloß kritisches Verhalten aus, nämlich eben das, was im tiefern Grunde
allein hier in Frage steht: ob diese Zeit überhaupt die
Vorbedingungen ausbildet für jene Werte, die sich in einer Dichtung
manifestieren. Wir notieren diese Art, wie man sich mit dem in litteris
Erzeugten abfindet, nur als einen Oberflächenreflex der innern wertproduktiven
Fremdheit und Unfähigkeit dieser Zeit, deren wirklich vorhandene Dichtung nicht
aus ihren Trägern, nicht mit ihrer Welt, sondern gegen sie zustande kommt, und
deren einzige Beziehung zu dieser Zeit negativ ist, nämlich Ablehnung, woran
nichts ändert, daß Einzelnes dieser Dichtung eine Art Aneignung durch den Bürger
erfährt, weil er dieses Einzelne mißversteht wie Meredith oder Dostojewski, die
er wesentlich in der »Psychologie« vermutet. Er wird diese Aneignung aus Irrtum
auch immer gleich damit einschränken, daß er das Genannte »übertrieben« findet
– welche »Übertriebenheit« eben das dichterische ist – also etwa: Strindberg
ist dasselbe wie Ibsen, nur »krankhaft«, und Zola ist der »Fortsetzer«
Flauberts. Von der andern Seite her ist dann Ernst Hardt dasselbe wie
Hofmannsthal, nur »weniger ästhetenhaft«, oder Wildgans dasselbe wie George,
nur »lebensnäher«, und so weiter. Daß das kritische Verhalten des
kapitalistischen Menschen zu der Dichtung nicht nur dieser Zeit, sondern zu der
jeder Zeit durchaus die Wertmaßstäbe aus dem gewinnt, was die heutige
bürgerliche Unterhaltungsliteratur aller Grade konstituiert, davon kann sich
der Zweifler aus den deutschen Literaturgeschichten der letzten vierzig Jahre
überzeugen: keinen dichterischen Wert irgend einer Zeit vermag eine nicht
Werte, sondern nur Nutzformen ausbildende Gesellschaft anders sich einzuordnen
als durch Aufhebung des spezifisch dichterischen Wertcharakters und durch
Substituierung eines der Dichtung als einem ästhetischen Phänomen fremden
Begriffekomplexes aus biologischen, naturwissenschaftlichen, sozialen,
biographischen Elementen mit beiläufigem ästhetisch-philologischem Aufputz zur
Rettung der »Wissenschaftlichkeit«. Die intensivste Anstrengung des
bürgerlichen Geistes dieser letzten Jahrzehnte bringt die Vorstellung des
Bildungsdichters zustande, und sie macht damit die
tragische Not des deutschen Dichters seit Goethe, von keiner kulturellen
Bildung des Volkes getragen und gehalten zu sein, zu einer Tugend. Vergißt, daß
diese Not Hölderlin in den Wahnsinn trieb, und ahnt nicht, was es den Dichter
Goethe kostete, aus sich selber die nicht in seinem Volke gegebenen Bedingungen
des dichterischen Seins wenigstens für eine Zeitspanne zu schaffen. Noch ein-
und zum letztenmal seitdem versuchten dies die deutschen Romantiker, nicht mit
den Mitteln der Bildung, sondern dem der religiös-politischen Bindung. Auch
ihre Anstrengung mußte versagen wie jene dünne Bildungsschicht sich
verbrauchen, die in Weimar hergestellt worden war, – es blieben von Beiden nur
die historischen Begriffe, die ein lebendiger Inhalt nicht mehr füllt:
Klassik-Romantik.
Im
Epigonentum manifestierten sich nicht Dichter mit nur »geringerer Begabung« als
die Dichter, die sie nachbildeten, sondern eben diese vom Leben dieser Epigonen
abgetrennte Begabung – das Talent – wurde als dekorative Literatur manifest und
tauschte sich diese für den Begriff der Dichtung ein. In dem Jahre, da eine
sprachtaub gewordene Philologie, die Wilhelm von Humboldt nicht zum Meister
hat, den West-Östlichen Diwan in ihre banausischen Modi brachte, feierte ein im
Kriege siegreiches Geschlecht den schalen Witz eines »Mirza Schaffi« als
Dichtung, schrieb Vischer, der dickbäuchige Ästhetiker, unter dem Beifall der
Gebildeten eine Parodie auf den Faust, und gründete sich das Reich, womit die
klein-kapitalistische Periode der Bourgeoisie sich schloß. Was nach der
Reichsgründung noch vom dekorativen Epigonismus hervorgebracht wurde, erlebte
schon Widerspruch und Ablehnung, die sich bis zu jener »Revolution in der
Literatur« verdichteten, welche für das »neue Deutschland« eine neue, die
»veränderten Lebens- und Zeitumstände wiederspiegelnde Literatur« verlangte,
womit nicht die Einsetzung des Dichters gefordert wurde, sondern eine Änderung
im Nachzuahmenden. Aber bei dem epigonischen Nachahmen blieb man durchaus. Nicht mehr die frühere Dichtung sei nachzuahmen, sondern – das
Leben. In dem Maß als dieses neue Leben sich als kapitalistische Lebensweise
determinierte und seine Sicherungen ausbildete, die es als das Leben
schlechthin erscheinen ließen, anders weder denkbar noch wünschbar, im selben
Maße gewann die Revolution in der Literatur das Terrain und hatte von dem
Augenblick an völlig gesiegt, wo sie sich in die ausgebildete bürgerliche Welt
integrierte, die nun, wie für alle andern Kulturdinge, die sie nicht schaffen
konnte, eine Pauschalsumme für die Herstellung ihrer Literatur auswarf. Die
anfänglichen, aus der klein-kapitalistischen, vom Epigonentum gebildeten
Ideologie stammenden Vorurteile gegen die »neue Literatur« verschwanden – wie
die gegen Darwin, Sozialismus, Zola, Böcklin, Wagner – und vergingen in dem
Maße, als sich das Bürgertum in seine hochkapitalistische Form einlebte und
sich in ihr sozusagen vermenschlichte: von dem Momente ab erkannte es die neue
Literatur als seine Literatur, was sie von Anfang an gewesen war. Die führende
Klasse hat nicht immer und gleich den Mut zu ihrem Abbild – nicht weil sie in
ihre Literatur Zweifel setzt, sondern in sich selber Zweifel hat. Nur dieser
anfänglich oft mangelnde Mut erklärt so unbegreifliche Gegnerschaften, wie man
sie erst gegen Ibsen hatte, bis man sich auch in ihm ungefährdet erkannte und
dann auch gleich mit Stolz als »gedichtet« erkannte.
Bewegungen
innerhalb der bürgerlichen Literatur wie die angeblichen Gegensätze
Natura-lismus – Symbolismus oder Heimatkunst – Stilkunst und wie diese
Streitfälle alle heißen mögen, in denen sich manchmal so etwas wie ein dumpfes
Gefühl äußerte, daß uns die Flucht aus dem Bannkreis des bürgerlichen Geistes
Rettung aus der Literatur-Existenz bringe –, diesen Bewegungen im Einzelnen zu
folgen erübrigt sich, da nur das Wesentliche hier zur Entscheidung steht. Wie
auch immer Geste und Ton gewählt wird, dem Bürger die gegenwärtigen
Sehenswürdigkeiten in seinem Leben abzuspiegeln und zu deuten, mit welchem Aufwand auch immer Wechselfälle und Zufälle dieses
bürgerlichen Lebens als »menschliche Probleme« angesprochen werden: das Hin und
Her, Frage und Antwort, Aufgabe und Lösung bleiben Zeitbild und müssen es
bleiben, denn ein Weltbild konstituiert sich nur aus Werten, als welche der
kapitalistische Geist nicht hervorbringt, wenn er auch seine
naturwissenschaftlichen Methoden als Gesetze im Wertsinne mißversteht und
behauptet. Er drückt darin nur seine Form des Hinlebens aus, aber nicht das
Leben. Darum sagten wir in einer andern Schrift, daß was man die moderne
Literatur nennt in der Definition des bürgerlichen Menschen dieser Zeit
enthalten sei und ein andrer als ein soziologischer Zugang zu ihr nicht
bestünde, wenn man ihrem Wesen gerecht werden wolle und von ihr nicht Etwas
verlange, was sie sich selber vielleicht imaginiert, aber was sie nicht ist:
Dichtung. Die kapitalistische Welt kann eine Literatur, aber sie kann keine
Dichtung haben. Die Gradunterschiede innerhalb dieser Literatur werden von uns
ohne weiteres zugegeben, aber die Wesensgleichheit betont: sie ist eines
Geistes.
Um die
Überzeugung des Bourgeois, daß er eine im Begriff der Dichtung enthaltene und
von diesem Begriff definierte Literatur in dem habe, was er seine »moderne
Literatur« nennt, – um diese von Erzeugern wie Verbrauchern dieser Literatur
geteilte Überzeugung zu schwächen und damit das »gute Gewissen des
Kapitalismus« auch von dieser Seite aus unsicher zu machen, ist festgestellt
worden, daß der kapitalistische Geist seiner formalen Struktur und den
Kategorien seiner Werte nach gar nicht fähig ist, etwas anderes als ein im
Umkreis seines Hinlebens sich begebendes Schrifttum hervorzubringen, das bei
allen scheinbaren Verschiedenheiten untereinander wesentlich dasselbe und nicht
besser als mit dem Worte Unterhaltungsliteratur zu bezeichnen ist, weil es am
deutlichsten die zeitliche Hinfälligkeit und die ethische Gleichgültigkeit
ausdrückt im Gegensatz zu den sittlichen und ewigen Werten der Kunst, die immer
auf ein Weltbild orientiert ist. Wie der kapitalistische
Mensch – das heißt der Vital-Typus, der sich sowohl im »Kapitalisten« wie
»klassenbewußten Proletarier« inkarniert – seine immer umfangreicher werdenden
Gesetzbücher für »besser«, weil »fortgeschrittner«, hält als das ehmalige »auf
Treu und Glauben« der Gemeinschaft; wie er die staatliche oder vereinliche
Ablösung der Nächstenliebe für eine bessere Praxis dieser Tugend hält und die
Naturwissenschaften für »die moderne Philosophie«; wie er sich mit allen seinen
modernen Neuerungen nicht nur nicht als Antagon des Alten, sondern als dessen
Besserer und Vollender glaubt: so erscheint ihm auch in den von ihm
beigestellten Künsten die Kunst schlechthin zu mindest weitergeführt und auf
die Höhe seines sonstigen Fortschritts gebracht; er gibt höchstens zu, daß die
großen den ehmaligen Künstlern ebenbürtigen Talente heute noch nicht da seien,
nicht aber, daß sie gar nicht da sein können; er erwartet sie vielmehr sicher
und seiner Größe entsprechend. Diesen naiven Glauben zu widerlegen und das gute
Gewissen des kapitalistischen Menschen zu erschüttern war das einzige positiv
kritische Bemühen der letzten zwei Jahrzehnte: Dilthey, Tönnies, Tröltsch,
Scheler, Max Weber, Sombart, Rathenau, Croce, Chesterton waren, um nur einige
der älteren Generationen zu nennen, solche Kritiker, und positiv war ihre
Kritik, da sie den Typus des kapitalistischen Menschen feststellte nicht als
den Effekt eines besondern wirtschaftlichen Systems, wie dies die ganz im
kapitalistischen Geiste geübte sozialistische Kritik tut, sondern als dessen
Erreger, Träger und Verbreiter. Die sozialistische Kritik vollzieht sich
durchaus innerhalb, nicht wie sie meint außerhalb des kapitalistischen Geistes
und sie ist im angegebnen positiv kritischen Sinne ebensowenig gegen den
kapitalistischen Typus, in dem sie selber aufgeht, wie die moderne »soziale
Dichtung« von Hauptmann, Ibsen oder Gorki gegen ihn ist. Alle heute positive
Kritik kann nur und nichts als den kapitalistischen Geist, der des Menschen
ist, zum Objekt haben, von einem andern Geiste her, der
ebenfalls des Menschen ist. Wer in der Folge die Ursache sieht, den Menschen
als Folge seiner Wirtschaft, der wird kritisierend Wirtschaft gegen Wirtschaft
setzen und sich damit ganz im Gleise des kapitalistischen Geistes bewegen, so
staatssozialistisch er auch ist oder so revolutionär er sich auch dünkt. So wie
die Sozialgesetzgebung Funktion des Kapitalismus ist, den sie in seinem Geiste
nicht nur nicht aufhebt, sondern festigt, genau so festigt der Literat mit
»radikaler« Einstellung den kapitalistischen Geist, indem er dessen »übelste
Begleiterscheinungen und Auswüchse« satirisiert und lächerlich macht. Beides,
die Satire und die Sozialgesetzgebung, hat einen Nutzwert innerhalb der
kapitalistischen Welt und nur da, nicht und nirgends sonst: jene Gesetzgebung
hebt den Geist nicht auf, sondern nützt ihm, jene Satire ist sozialer Nutzwert,
aber nicht Dichtung, das heißt menschlicher Wert.
Die Tatsache
der erwähnten positiven Kritik am kapitalistischen Geiste zwingt zur Annahme
einer geistigen Position, die in dieser Zeit vorhanden ist, aber außerhalb des
herrschenden Geistes dieser Zeit ihre Wertinhalte aus einem Kulturbegriff
bekommt, der mit dem kurrenten bürgerlichen Kulturbegriff nichts gemein hat und
mit dem er nur durch die negative Ablehnung verbunden ist; was nicht heißt, daß
er aus dieser negativen Ablehnung erwüchse, denn die bloße Negation ist zu
einer positiven Bildung nicht zureichend. Aus diesem dem herrschenden »Geiste«
fremden Geiste dieser Kritik, aus dieser andern als
kapitalistisch-sozialistischen Ethik müssen wir die Speisung auch der andern
immanenten menschlichen Energien annehmen, wie solche jene kritischen sind. Da
wir als eine solche menschliche Energie das Kunstwollen kennen und dieses sich
in den verfallenden Schein gebilden der bürgerlichen Literatur als ethische
Energie nicht manifestieren kann, müssen wir ihre Entfaltung von jenem Punkte
ausgehend suchen, von dem aus das Ganze der bürgerlichen Welt kritisches Objekt
ist, und müssen die Energie des Kunstwollens aus einem Ethos gespeist annehmen,
das nicht jenes des bürgerlichen Typus ist. Dies wird in
allen Graden von Intention bis zu Gelingen das Wesen einer Kunst dieser
Zeit charakterisieren: daß sie nicht kapitalistischen Geistes ist und mit ihm
nur, wenn überhaupt, durch die bewußte oder naive gänzliche Ablehnung
zusammenhängt. Um es an Bekanntem zu explizieren: der »reaktionäre«
Dostojewski, dem sich der Westen als der bürgerliche Geist darstellen muß, den
er als Ganzes ablehnt, ist der Dichter; aber der »radikale« Mann ist nicht ein
»weniger talentierter Dichter«, sondern ein von Dostojewski ganz
wesensverschiedner schreibender Bürger kapitalistischen Geistes. Flaubert, dem
das Ganze der bürgerlichen Welt Objekt ist aus seinem ganz anders
qualifizierten Ethos heraus, ist der Dichter; aber Zola, der auf ein kleines
Entgegenkommen der bürgerlichen, bloß im Besserungssinne kritisierten Welt
nicht vergeblich zu warten brauchte, ist bürgerliche Schöngeistigkeit. Daß die
bürgerliche Welt ohne Unterscheidung mit dem einen wie dem andern als nur im
»Talent« oder »Temperament« Verschiedenen sich abfindet, das sagt nur über das
ethische Unvermögen dieser Welt aus, den Dichter zu erfassen, weil sie ihn ja
auch nicht bedingen kann; indem der Bürger über die vom Ethos abgelösten – er
kann das! – engern ästhetischen Werte der Genannten klug redet, unterschlägt er
das Problem, weil es das Problem seiner eigenen Existenz ist. Er unterschlägt
es aus Angst, wenn es ihm bewußt wurde, oder aus Taubheit seines sittlichen
Zustandes. Im ersten Fall hat er tausend Kniffe im Kampfe um seine im Innersten
aufgehobene und somit bedrohte Existenz ausgebildet. Das ehrlich-grobe Mittel
jenes Staatsanwaltes, der Flaubert wegen der Frau Bovary anklagte, hat sich aus
Zweckmäßigkeitsgründen sehr verfeinert, so sehr, daß innerhalb der
Bürgerlichkeit jener Staatsanwalt heute schon eine lächerliche Figur wurde,
aber die Zensur eine Institution des den bürgerlichen Typus als den
menschlich-allgemeinen Typus vertretenden Staates.
Die
gespannte Erwartung des Wirtschaftlichen, endlich doch die
ihm unbekannten Dichter dieser Zeit genannt zu bekommen, können wir nicht
befriedigen, denn er kennt sie auf seine Weise längst, schätzt sie und verehrt
sie auf seine Weise zum einen Teil, bezweifelt sie zum andern und würde sich
ihm bis nun unbekannt Gebliebenen nicht verschließen; er wird mit ihnen nach
dem ästhetischen Schema seiner spezifischen »modernen« Literatur – die kein
andres als ein beiläufig ästhetisches hergibt – fertig werden. Die seine Welt
kompromittierenden Begreiflichkeiten wird der typische Mensch dieser Zeit
unbegreifliche Schrullen, Snobismen und Pathologien nennen. Die pathetische
Einsamkeit Nietzsches, das Verkrochensein Cézannes, die politische Leidenschaft
jenes Russen, das Kreuztragen van Goghs, die Arbeitszelle Flauberts, Borchardts
Hermetik, der Aufschrei einer gläubigen Jugend: der Bürger, der diese Bücher
liest, diese Bilder kauft, er wird das Leben dieser Künstler, das er als
»Privatleben« vom Werke abtrennt, weil das von ihm Bestellte seiner »Kunst«
solches Trennen immer verträgt, ja verlangt, nichts weiter als absonderlich und
gesucht finden und daß es durchaus ohne solche »Extravaganz« gehe, wie ihm
Sudermann beweist, den er in jedem Salon ganz wie sich selber trifft, oder
Hauptmann, dessen 50. Geburtstag doch ein Nationalfest mit Orden war, oder
Bloem, mit dem er die Etappe besuchte. Umgängliche Leute, mit denen auch ganz
gut über Kapitalsanlagen zu reden ist. Anschauung und Praxis, daß das Leben des
Menschen in Sein und Tun zerfalle, zwischen welchen Getrennten allenfalls
Berufswahl, Neigung oder Talent eine nicht nötige Brücke bilde, ist dem bürgerlichen
Menschen dieser Zeit so vollkommen konstitutionell, daß es ihm wie ein
mysthischer Hokus-Pokus vorkommen muß, wenn gesagt wird, daß in der
menschlichen Person das Werk nichts andres ist als ihr Sein und dies nichts
andres als das Werk und daß hier nur der Draußenstehende eine Trennung
vornimmt, aber sich immer bewußt bleiben muß, daß diese Trennung willkürlich
geschieht, genau so wie die Trennung eines Gebildes in Inhalt und Form.
Es wurde die Grenze gezogen zwischen dem, worin sich
der bürgerlich-kapitalistische Typus als der herrschende dieser Zeit den seine
Literatur genannten Ausdruck gibt und nur geben kann, und dem, worin sich das
Kunstwollen in dieser Zeit manifestiert. Es wurde für das Diesseits der Grenze
der Vital-Typus des bürgerlich-kapitalistischen Ethos fixiert, von dem das
allgemein Unterhaltungsliteratur genannte ein vielfach schillerndes und
graduell sehr abgestuftes Derivat ist, eines Geistes bei plumpster Gemeinheit
des Mittels wie bei dessen höchster Raffinierung. Es wurde im kurz
hingestellten Gegensatz das Jenseits der Grenze angemerkt, gesagt, daß und
warum die Kunst dieser Zeit die Voraussetzung ihres Daseins nicht in der
kapitalistischen Welt haben kann und wo sie diese allein in dieser Zeit hat: in
einem anders qualifizierten Ethos als es das des modernen Typus ist und das
sich zum Teil als dessen völlige Negation, zum andern aus noch zu bestimmenden
Komponenten konstituiert.
Neunter Exkurs
Unter den
menschlichen Werken genießt allein das Kunstwerk das Privilegium, fast intakt
durch die Zeiten zu dauern, denn das wissenschaftliche Werk ist provisorisch,
das politische, das wirtschaftliche Werk wandelt sich alsbald in mechanische
Kräfte. Es sind außerhalb des Künstlerischen ungemein wenige historische
Figuren, die, dem Schicksal des Verblassens und Vergessens entgehend, mit den
unvergänglichen Gestalten des künstlerischen Ingeniums rivalisieren, und auch
diese Wenigen tun es nur mit ihrer Person, nicht mit ihrem Werke, denn
Alexanders Reich zerfiel wie das Cäsars, aber in unverändert reiner Linie ist
bleibend Platons Dialog und der Vers Vergils. Und es ist Alexanders und Cäsars
Größe nötig, die Schatten des Vergessens fernzuhalten, und weit weniger genügt,
ein Mimnermos und ein Properz, um als Dichter auf die Nachwelt zu kommen.
Dieser Umstand ist heute dem geringsten Reimer geläufig und
nicht nur ihm. Aber – und dies ist von Wichtigkeit – das Bewußtwerden dieser
Tatsache von der reinen Dauer des Künstlerischen hat ein
Gleichgewichtsverhältnis gestört, das vorhanden war, als die Tatsache noch,
ohne Wissen um sich selber in Bescheidenheit lebend, die nötigen Korrekturen
bekam.
Zeiten eines
intensiven Gesamtlebens der Menschen haben den Künstlern ihren bescheidnen und
oft niederträchtigen Platz angewiesen und sich wenig aus ihnen gemacht. Man
domestizierte diese wilden Tiere, indem man ihren Stolz bändigte und ihnen
bewies, daß sie weniger wichtig wären als Schuster und Bäcker. Man lese im
Plutarch das erste höchst grausame Kapitel des Lebens des Perikles, und man
denke an die Rolle der Dichter in Platons Republik. Wohl strömte das Volk in
heiliger Begeisterung zusammen, um ein neues Werk des Phidias zu sehn, aber es
ließ ihn im Gefängnis oder in der Verbannung sterben – wir wissen es nicht
genau, denn an der künstlerischen Person nahm die Antike gar keinen oder Anteil
nur dann, wenn die Person ihr politisch nützte oder schadete. Die Antike
kümmerte sich nur um das Werk, woraus sich, wie Plutarch in der genannten
Stelle schreibt, wenn dies gefällt, nicht notwendig ergebe, daß auch der
Verfasser zu loben sei. Hier reagiert eine ganz bestimmte Moralität, die auf
keine Weise ästhetisch infiziert ist wie alle heutige Moral. Der antike Mensch
ist auf seine Kunst stolz, weil er in ihrer Leistung ein Zeichen seiner
staatlichen Macht und seines kulturellen Reichtums sieht, aber einen
Aristokratismus des Künstlers duldet er nicht in der sozialen Ordnung; er weist
dem Artifex hinter den letztnützlichen Gewerben einen Platz an. Kein Zweifel,
die Kunst würde in solcher dauernd dem Künstler zugewiesenen Rolle verkommen,
denn der verträgt als ein Neuerer, der er ist, diese untergeordnete staatliche
Zugehörigkeit nicht, auch in einem weiter gedachten Staatswesen nicht, als es
die Polis war. Der Künstler kann die geforderte bescheidene Haltung zu einem,
zu seinem Werke nicht bewahren, das eine Nation führt und begeistert, er sei denn ein ganz mediokrer Schuster und Gelegenheitspoet
der Stadtverwaltung. Und er kann deshalb auch die soziale Geringachtung durch
seine Umgebung nicht vertragen, seiner Kunst, nicht seiner privaten Person
wegen, wie er ja auch gegen seine private essende, trinkende, sich gattende
Person von größter Bescheidenheit sein kann und wohl auch meist sein wird. Von
den beiden, dem Kunstwerke die Form gebenden Elementen, dem materialbelebenden
Künstler und seiner schöpferischen Umgebung, im vorigen Exkurs: hier haben
diese Elemente als die persönliche Inbrunst des Künstlers und als die sittliche
Wertachtung durch die Umgebung in ihrer Beziehung aufeinander die Bedeutung der
Belebung, Weiterbildung und Erneuerung der Formen. Man kann das relativ
Stationäre der Form immer dort bemerken, wo die Sozietät sich den Künstler fast
handwerklich einordnet, so daß er hinter seinem Werke verschwindet wie Molière
und Shakespeare als Komödianten. Der Konservativismus, der sich für die alten,
das heißt eingeübten Formen als die allein richtigen ausspricht, ist Ausdruck
der gering-schöpferischen oder überhaupt steril gewordnen Umgebung, die den
Künstler sozialisiert, weil sie ihm als Individuum mißtraut, ihn domestiziert,
weil sie die ausbrechende Bestie seiner unberechenbaren Phantasie fürchtet.
Nicht aber ist dieser Konservativismus Ausdruck des Künstlers selber und kann
das auch gar nicht sein aus seinem Wesen heraus, das durchaus neuerungserfüllt
ist und anders sich überhaupt aufhöbe. Man erinnere sich an die ständigen
Entschuldigungen des Euripides. Man denke an das schließliche Schweigen des
freigelassenen Racine, das mit Port-Royal gar nichts zu tun hat. Man überlege
die Vagabundenexistenz Villons, der nur durch Elend und Gefängnis die von
seiner Umgebung bedrohte Freiheit des Dichters gewann. Man denke an Christian
Günther, der sich in keinerlei schlesische Dichterschule finden konnte und um
seines Gedichtes willen lieber verreckte, statt als Stadtschreiber überflüssige
Reimereien zu verfertigen. Man erinnere sich an Lenz – aber mit der Figur dieses sich auflehnenden Hofmeisters sind wir schon in
einer wesentlich anders gerichteten Zeit: eine neue Ethik des Künstlers hebt
an, profitierend vom religiösen Zusammenbruch der Zeit und der wirtschaftlichen
Neugestaltung der Gesellschaft: es beginnt die Literatur.
Die
schöpferische Kraft der in Gemeinschaft mit der material-belebenden Person des
Künstlers die Form bildenden Umgebung ist schwankend, und sie zerfällt in dem
Maß, als sich diese Umgebung von der ideellen Einheitlichkeit entfernt und in
das Tausendfache dessen zerlegt, was man Interessenten und Publikum nennt.
Verschwand früher, in den Zeiten ideeller Einheitlichkeit, der Künstler hinter
seinem Werk, so dreht sich dies nun um: das Werk verschwindet hinter dem
Künstler. War dieser früher kaum sichtbar, weil seine Umgebung gar keine Notiz
von ihm nehmen wollte, so ist heute die Person des Künstlers öffentliche Notiz
und sein Werk das, was hinter ihm steht. Gab es früher ein Werk und gar keine
sichtbare Person, so gibt es heute eine Person im Licht von Scheinwerfern und
statt eines Werkes Bücher, die bestenfalls gelungene Skizzen darstellen,
Ansätze, Versuche. Wie in den sonstigen Wertträgern wurde auch hier eine
Substitution vorgenommen, indem man nun die Unsterblichkeit des dichterischen
Werkes, diese bewußt gewordene Tatsache, mit der Unsterblichkeit der
dichterischen Person identifizierte. Man gibt der künstlerischen Anschauung der
Welt einen absoluten Geltungscharakter um so mehr, als die andern dominierenden
Anschauungsweisen, wissenschaftliche, politische, wirtschaftliche, technische,
sich als nur relativ geltend enthüllen und die religiöse Anschauung sich gerade
in der Deklination befindet. Jeder Reimer reklamiert heute Goethe für sich,
jeder Kunstgewerbler Michelangelo, und sie entbinden sich mit solcher Berufung
von einer wertschaffenden Verpflichtung, weil die bloße künstlerische
Anschauung der Welt als die höchstwertige allein schon genügt. Wenn heute einer
Terzinen macht, so glaubt er, wenn auch an einem kleinen Seitenaltar, dieselbe
Messe zu zelebrieren wie Dante. Klebt ein Steinmetz seine
Figürchen an die Fassade eines Warenhauses, so tut er dies mit der Geste des
großen Florentiners. Und jeder malende Jüngling weiß sich, je nach Vorliebe,
dem Greco, dem Rembrandt oder meinetwegen dem van Dyck ein Bruder. Die
Tatsache, daß von allen menschlichen Werken allein das Kunstwerk sein Gesicht
unverändert wertvoll durch die Zeiten bewahrt, ist zu ganz allgemein bewußter
Notiz gekommen und der Künstler erhebt ganz erfüllt von diesem Bewußtsein die
Prerogative, als der Herr jeder Zivilisation zu gelten. Fataler Weise erhebt er
diese Prerogative und besitzt er dies Bewußtsein gerade in einer Periode nachlassender
werkschaffender Kraft bei beiden Komponenten, bei der künstlerischen Person und
bei der Umgebung. Diese bürgerliche Periode besitzt in Abundanz Neuerungen,
Erwerbungen, Erweiterungen, Freiheiten bei den künstlerischen Personen und in
gleicher Abundanz ein fast frenetisches Interesse bei der Umgebung, aber –: das
Werk fehlt. Es gibt interessante Bücher, Musiken, Bilder – aber das Werk fehlt.
Der Künstler ist sich seines einzigen absoluten Wertes mit großer Bewußtheit
sicher: er braucht nur zwei Zeilen Daktilen zu klopfen. Vor hundert und
etlichen Jahren freigelassen, ist er es, der heute das ihm zulauschende
Publikum zähmt, das in ihm seinen einzigen Wertschöpfer erkennt, weil er das
»Gleiche« tut wie Homer und weil dieses Tun das Ewige ist.
Wir erleben
so seit etwa dreißig Jahren das paradoxe Spektakel einer wachsenden Hegemonie
des Künstlers als Träger des absolut geltenden einzigen Wertes, und dieser
Künstler, der es weniger ist als je zuvor, kommandiert eine Umgebung, wie sie
unschöpferischer nie vorhanden war. Was einigen Großen der Zeiten als von ihnen
etabliert zukam, das maßt sich heute der ganze Stand an. Der kleinste Schreiber
schüchtert die sentimental gewordene Bourgeoisie seiner Zuhörerschaft mit der
Erinnerung ein, daß sie einen Büchner nicht erkannt habe, einen Grillparzer
verkümmern, einen Nerval sich erhängen ließ, Kleist und Keats umgebracht habe,
und eingeschüchtert beeilt sich das Publikum, lieber alles
herrlich zu finden, als das Verbrechen zu riskieren, einen neuesten Lyriker mißzuverstehn
oder gar verhungern zu lassen. Dem religiösen Werte entfremdet, am
wissenschaftlichen verzweifelnd, dem politisch-sozialen mehr als mißtrauend,
gibt sich diese der Kunst überhaupt geneigte Bourgeoisie ihr ganz hin als ihr
Publikum, fühlt sich ihr verpflichtet und verpflichtet sie ihrerseits wieder,
alles, durch ein mehr oder minder trübes künstlerisches Medium gebrochen, von
den Künstlern zu erhalten, von der Psychologie des Kindes angefangen bis zum
Glauben an Gott. Und die Künstler werfen sich in die Brust und quittieren
verlegen Schuldscheine, die sie nie einzulösen gedenken, denn sie wissen in
ihrem innersten Gewissen sehr gut, daß ja die Schuldscheine falsch sind und
sein müssen und es vertragen, mit falschem Gold oder gar nicht bezahlt zu werden.
Eigentümlich
ist unsrer desolaten dichterischen Jugend das fast zornige Schamgefühl, das sie
über ihr schön gelungenes Gedicht empfindet und das oft so stark ist, daß sie
sich am liebsten in das »häßliche« Gedicht stürzen möchte oder nichts als den Schrei
einer am Sittlichen der Welt verzweifelnden Kreatur ausstoßen; sie beschwert
sich das Gewissen mit der Frage an sich selber, ob nicht besser ein nur
sittliches als ein auch dichterisches Werk zu verrichten sei. Neben andern
drückt sich in dieser Haltung Verzweiflung darüber aus, daß die die Form
schaffende Umgebung fehlt und daß das, was als Publikum die leere Figurantin
solcher Umgebung ist, vollkommen der instinktsichern Erkenntnis mangelt, daß
das wohlgelungene Werk, an dem der Dichter und die Umgebung schaffen, ex se ein
sittliches ist und eine besonders betonte Sittlichkeit nur dort immer zeigt, wo
der Verfasser mit seiner Kunst nicht ordentlich zurecht kommt. Nun hat, wie es
scheint, die Armseligkeit dieser ihrer heutigen einzig möglichen Umgebung diese
jungen Dichter schon infiziert, so daß auch ihnen selber diese instinktive
Erkenntnis vom an sich schon Sittlichen des vollendeten Werkes sich ihnen
vertrübt und sie in ein Ethisches zu divagieren anfangen,
das immer nur problematisch sein kann, und daß sie den Beruf des Dichters so
schmählich ansehn wie König Philipp in jenem Plutarchschen Kapitel, wo er den
bei einem Feste mit aller Kunst singenden Alexander fragt, ob er sich nicht
schäme, so gut zu singen, und Plutarch hinzufügt, daß wohl kein Jüngling
rechten Verstandes und edler Geburt bei Betracht des Jupiterbildnisses in Pisa
den Wunsch hegen werde, ein Phidias zu werden, oder ein Polyktet, wenn er das
Junobildnis in Argos anschaue, oder ein Anakreon, ein Archilochos zu werden
verlange, denn all dies seien niedere und gemeine Künste. Also scheinen sich
nicht wenige der jungen Künstler heute einzustellen, weil sie den lebendigen
formschaffenden Zwang der Umgebung nicht haben und ihre Kräfte wie ins Leere
greifen; denn jenen billigen Trost der Dilettanten und Könner, die unbekümmert
in die Leere des Zufalles hinein schreiben, malen und musizieren – solchen
Trost können sich diese wenigen Künstler dieser Zeit nicht geben, weil sie
ihres göttlichen Auftrages inne sind und verantwortlich für das ihnen
Anvertraute sich durchaus fühlen, oder weil sie nur ehrliche gewissenhafte
Männer sind. Aber sie müssen an der Bestimmtheit des Auftrags, am Sinn ihrer
Arbeit zweifeln in einer Zeit, die nichts besitzt, was die rechte Erledigung
ihres Auftrages, den rechten Empfang ihrer Arbeit möglich macht, dadurch, daß
sie ihnen eben den Zwang der Form gibt. Die neue Erweiterung der künstlerischen
Wirkung, wie sie der Verfall der Gemeinschaft in Publikum und die alle Werte
setzende Hegemonie des Künstlertums mit sich brachten, nahm der nun ins
uferlose Leere schweifenden, zu keiner Form gezwungenen Kunst alle spezifische
Wirkung überhaupt und degradierte sie zu einem Interessanten, Amüsanten,
jedenfalls niemanden ernsthaft Verpflichtenden, das heißt zur Kunst verpflichtenden.
Das Kunstwerk ging dabei in Stücke, die, tausend Zwecken dienend, tausend Namen
haben, die alle Kunst meinen und keiner und alle zusammen nicht die Kunst – ein
Begriff, der durch die Emanzipation des Künstlers
verlorengegangen zu sein scheint und nur das Wort noch in lamentablen
akademischen Ästhetiken sein Unwesen treibt, deren Verfasser ästhetische
Prinzipien dort suchen, wo nur soziale Zwänge existieren und historisch
befangen das Novum der Literatur nicht sehn. Ist es auch nicht Kunst, so ist es
doch Ausdruck, und dieser ist überhaupt alles – mit diesem Bekenntnis zum
leidenschaftlichen Bekenntnischarakter der heutigen künstlerischen Person wird
das Problem der fehlenden Komponente des Werkes, nämlich die formschaffende
Umgebung, nicht erledigt: es ist eine romantische Illusion, welche das Mittel
für den Zweck, die Materie für die Form hält. Das Problem wird nicht gelöst,
sondern beiseite geschoben, der Künstler als Bekenner seiner Leidenschaft in
seiner Isolation gebilligt und von seiner Stimme, außer der Lauterkeit, nur
noch die Lautheit eines Predigers in der Wüste verlangt. Er war in diesen
letzten dreißig Jahren so vielerlei gewesen, Abschilderer des Wirklichen mit
und ohne Temperament, Träumer seiner Träume, Deuter des Natürlichen, Analytiker,
stilistischer Synthetiker, Plauderer, Ästhet, daß er nun, da alles das nichts
genützt hatte, um aus dem sterilen Publikum formschaffende mittätige Umgebung
zu machen, der große Aufrufer und sittliche Gesetzgeber der Menschheit werden
müsse, erst recht aus diesem Kriege, wo alle sittlichen Mächte versagt haben.
Daß der Künstler etwas auszudrücken habe, diese Entdeckung mußten heute wohl
jene machen, welche damals noch Kinder waren, als bei uns Künstler auftraten,
deren Stolz und Titel es war, daß sie rein gar nichts zu sagen und auszudrücken
hatten, außer ihre kleinen Lesefrüchte aus darwinistischen und sozialistischen
Broschüren. Aber es ist doch nur eine Wiederentdeckung nach dem kurzen
Interregnum einigen Stumpfsinnes und Ernüchterung dieser Wiederentdecker, die
in jenem Stumpfsinn »die Kunst« vermeinten wie alle Welt und mit aller Welt –,
an welche Welt sie sich aber doch nun wieder wenden, um ihr das neue Schauspiel
der Abwechslung, den Expressionismus, zu bereiten. Denn das Problem
des Kunstwerks, in dem die künstlerische Person und die Umgebung untrennbar
miteinander verbunden sind, ist nicht einseitig dadurch zu lösen, daß der
Künstler neue Saiten aufzieht, mit einer neuen Botschaft auftritt, nach der ja
kein darauf Wartender die Arme ausstreckt, sondern sich bestenfalls nur
zuhörerisch oder zuschauerisch bereit findet, das Schöne nach seinen eigenen
sittlichen, das Sittliche nach seinen eigenen schönen Grundsätzen zu richten.
Es ist da aber nichts weiter passiert als: nach den Parterreakrobaten und den
Seiltänzern treten die Feuerfresser und Fakire auf. O, es ist zu verstehn, daß
die paar Dichter dieser Zeit nicht wissen, ob sie die gehobene Hand nicht
lieber zerschmetternd als zupfend auf die so mißgehörte Leier fallen lassen
sollen, daß sie zaudern, irre werden und verzweifeln und aus der tiefsten Not
ihres so sehr mißverstandenen, übertriebenen, falsch exponierten Daseins
aufschreien in Gedichten, von denen sie bitter zugeben, daß es keine seien, und
nur die Kühnern den Mut haben zu sagen, diese gerade seien die rechten
Gedichte, und die Unzahl der konjunkturschnüffelnden Nachlaufer und Mitmacher
in alle Winde verkündet, das seien die überhaupt einzig schönen und richtigen
Gedichte und alles frühere und andre sei nichts als Dreck.
Aus einer
Gemeinschaft, die nicht ist, entbunden, fehlt dem Künstler die vis superba
formae, der Zwang der Form in einer mitschaffenden Umgebung. Er selber kann sie
nicht schaffen, denn da sein Wesen Mit-Teilung ist, setzt es, damit diese
zustande kommt, den andern Teil, eben die Umgebung, voraus, welche schöpferisch
teilnimmt. Dieser andre formschaffende Teil fehlt, und des Dichters ungeformte
Leidenschaft explodiert in ein Publikum, dessen blöde Geile er verachtet,
dessen teilnahmsloses um ihn Herumsein ihn verzweifeln macht darüber, daß er,
auf einer Säule stehend, nichts als sein Ich hat, das ohne Formgebundenheit zu
einer halluzinierten Menschheit aufschwillt, von deren Abstraktheit er keine
Form empfangen kann. Der Dichter entblößt sein Eingeweide mit der bewußt-häßlichen Geste einer sittlichen Tat, um nicht durch
eine schöne Geste in den Beifall des Pöbels zu sinken, der ihm Kunst und Leben
verekelt hat als das nichts als Ästhetische. Und immer noch schustert ja
daneben eine Schar von Leuten Jambendramen und schneidert Entwicklungsromane
und spinnt Blauveiglein mit und ohne Kriegserlebnis. So nennt also der Dichter
sein Buch Verse »Der Mensch schreit«, weil er möchte, daß der stumm sich
krümmende Mensch schreie, – aber es hört den Aufruf zum Schrei immer nur die
schöne Leserin und der ihr befreundete Professor, der im Tageblatt die Welt mit
einem neuen Dichter bekannt macht. – Was sich die neue Kunst nennt, will als
sittliche Tat schlechthin genommen sein; sie lehnt nichts als ästhetische
Kriterien ab und fordert sittliche, denn sie drückt, wie sie erklärt, die
sittliche Wahrheit und nicht die sittlich indifferente Schönheit aus; die
sittliche Wahrheit ist ihr die alleinige Schönheit, und was man bis nun die
Schönheit nannte, hat sie im Verdacht, das Böse zu sein. Der Roman des
Familienblattes ist nicht häßlich, sondern unsittlich und deshalb häßlich; die
Malereien von Franz Marc sind nicht schlechthin schön, sondern sittliche
Wahrheit und deshalb schön. Man könnte glauben, sich hier in der vorklassischen
Ästhetik der Schweizer zu bewegen oder nichts als eine reaktive Verkehrung des
Wildeschen Ästhetizismus zu erleben. Aber es ist weder das eine noch das andre.
Es ist vielmehr eine, wenn auch sich selber noch unklare Absage an die Kunst
als heute läufigen Begriff überhaupt und eine Deklaration des noch ungeformten
Halbgebildes zum Ganzgebilde. Man hat es satt, nach einer die Form schaffenden
Umgebung zu hungern, die nicht kommen will. Man lehnt Verständigung und
Verstehbarkeit, das heißt die Mit-Teilung ab, da man sich vom Mißverstehn
korrumpiert weiß. Man will es dem nichts als sensuell alle seine Werte durch
den Kunstgenuß aufnehmenden Publikum mit dem ganz entsinnlichten, auf die
Geometrie reduzierten Kubismus fürderhin unmöglich machen, sinnlich zu
reagieren. Man verdammt die verlockende Metapher. Man
vermeidet die sehr vage und schwindelhafte Gemeinsamkeit im Psychologischen.
Man skelettiert den sprachlichen Ausdruck. Man gibt das klassische Ideal des
Gleichgewichts zwischen gesprochner und geschriebner Sprache auf, verwirft die
erste vollkommen als künstlerisches Ausdrucksmittel und erweitert und erneuert
die letzte. Man hat definitiv erkannt, daß man ganz einsam ist und keine
Mit-Teilung mehr möglich, – wenigstens nicht mehr zu dem bisherigen
formsterilen Publikum hin. Den daraus folgenden fatalen Esoterismus einer Kunst
für die Künstler glaubt man mit dem Appell an eine neue Menschheit zu
überwinden, die auf dem Marsche ist. Denn diesen seinen Irrtum, sich die
Führung der Menschheit zu arrogieren, hat auch der heutige Künstler noch nicht
aufgegeben, und in diesem Irrtum ist er noch immer nichts weiter als der
Freigelassene der individualistischen Bourgeoisie, deren ästhetisch-ethischer
Garkoch er nicht mehr sein will, um ethisch-ästhetischer Küchenchef einer
Menschheit zu werden, das heißt bis auf weiteres doch nur für den alten
Sensationalismus seines alten Publikums den neuesten Gang zu servieren, zum
Beispiel den Nachtisch des Expressionismus.
Zwei
Richtungen markieren sich deutlich, in denen man auf eine formschaffende Umgebung
treffen kann, wenn auf beiden Seiten, auf der des Künstlers wie auf der dieser
möglichen Umgebung, gewisse Bedingungen erfüllt sind. Den Einen und den Andern
sieht man den Weg nach diesen Richtungen einschlagen: nach der sozialen
Demokratie und nach der Kirche. Daß diese beiden zu ihrem Geiste erwacht sich
vereinigen müssen, um formschaffende Umgebung (und natürlich nicht nur dies,
sondern vor allem kulturelle Gemeinschaft) sein zu können, davon ist in diesem
Zusammenhang nicht zu sprechen. Der klassenbewußte Radikalismus aus dem Bauche
ist auch mit einer wissenschaftlichen Theorie noch kein kulturelles Prinzip.
Und eine von der Staatsgewalt soutenierte und der herrschenden Macht dienende
Kirche ist kein Instrument des reinen Gottglaubens, das die
civitas dei vorbereitet, sondern die vorhandene civitas diaboli verhärtet. Die
einen und andern Künstler, die den Weg zur Kirche oder zur sozialen Demokratie
betreten, verlassen nicht nur das Publikum, sondern geben auch das Komplement
dieses Publikums auf, nämlich die falsche Prärogative des Standes, die irrige
Hegemonie des Künstlertums; sie stellen sich auf den Dienstplatz ihrer
Verrichtung und dienen, wofür ihnen die Form zu teil werden wird, die sie mit
keiner noch so titanidenhaften Anstrengung als Herren innerhalb ihres
bourgeoisen Publikums diesem Publikum entringen können, das selber unbestimmt
keine Bestimmung geben kann, das ein Scherbenhaufen, aber kein Boden ist, in
den Wurzeln schießen, Halt und Nahrung gewinnen können. Der Abschied vom
Publikum wird heute dem Künstler gewiß leichter sein als je. Schwer aber der
Eintritt in den Dienst, da er solchen Dienstverhältnisses zu lange entwöhnt
ist. Denn nicht darum handelt es sich, der Künstler der sozialen Demokratie
oder der Kirche zu werden, deren Stofflichkeiten sich thematisch anzueignen und
also draußen zu bleiben, sondern es handelt sich um die volle menschliche
Hingabe, um den Eintritt in eine geistige Ordnung. Nicht darum handelt es sich,
die sozialistische Kunst oder die katholische besser zu machen, als sie ist,
nicht um solches Äußerliches handelt es sich, denn das ist kein Dienst und
würde alles so lassen wie es ist, indem es nur den Inhalt des Publikums
änderte. Mit der äußersten Bescheidenheit sich in den gemeinen und religiösen
Dienst stellen: nur dadurch kann der Dichter zu seinem Werk kommen. Er muß sich
ein-, nicht überordnen.
Hier ist nun
der Ort, von dem gebrauchten Begriff »formschaffender Umgebung« zu sprechen,
der aus dem Systembegriff bei R. Avenarius abgeleitet ist und mir schon im andern
Exkurs zur Aufhellung des Komplexes diente. Auf seine große Bedeutung für den
Gegenstand hat neuerdings P. Bekker in seiner Schrift über das deutsche
Musikleben der Gegenwart mit besonderer Anwendung auf das musikalische
Kunstwerk hingewiesen, um aber doch wieder seine kategoriale Aufstellung
insofern zu verwischen, als er die das Werk schaffenden und bestimmenden
Momente: materialgestaltende Person des Künstlers und formgebende Tätigkeit der
Umgebung in eine Wechselbeziehung vertauschter Rollen durchgängig auflöst,
während meines Erachtens dieser Vertausch nur statthaben kann, nicht aber muß.
Die nach scheinbar innern Gesetzen vom Künstler geordnete Materie wird Form
erst dann, wenn sie wahrgenommen wird. Den Akt der Wahrnehmung vollzieht die
Umgebung: in diesem Akt ist die Beziehung zwischen Materie und Umgebung
gesetzt, aus der die Form allein entsteht, das heißt das vollendete Werk. Die
Wahrnehmung ist ein Akt, denn sie ist Tätigkeit, nicht passives,
widerstandsloses Erleiden. Unter Materie ist nicht zu verstehn, was man heute
den »Inhalt« eines Kunstwerkes nennt, sondern die spezifischen Ausdrucksmittel
aller »Inhalte«: Sprache also in der Dichtkunst. Der Schaffensakt der
dichterischen Person ist sprachschöpferisch; durch ihn wird das Material Sprache
nach scheinbar innern Gesetzen dieser Materie vom Dichter geordnet. Die Gesetze
dieser Materie sind relativ konstant. Veränderlich und damit verändernd ist
aber die wahrnehmende Kraft der Umgebung, von deren Wahrnehmungsbedingungen die
Formwerdung der gestalteten Materie abhängt. Diese Bedingungen sind
unerschöpflich wechselnd wie die Umgebung selber, und so wechselnd sind daher
auch die Formwerdungen. Unter Form ist nicht zu verstehn, was man in heutigem
Sprachgebrauch so nennt, wo man sich ohne formschaffende Umgebung eklektisch
aller bereits Konvention gewordenen, ehmals durch die aktive Teilnahme einer
Umgebung geschaffnen Formen nur »bedient«. Heute kann der Dichter ganz richtig
sagen, daß er der formgebende Teil sei, insofern er eben der unter dem Zwang
der Konventionen, das heißt erstarrter Formen die Form wählende, auswählende
ist. Der Wahlakt täuscht ihm einen Schaffensakt um so leichter vor, als sich in
einer eben nicht vorhandnen formschaffenden Umgebung kein
Widerspruch erhebt, wenigstens kein positiver, denn der Einwand gegen ein
theatralisches Werk, daß es mehr ein novellistisches sei, ist kein solcher
positiver Widerspruch aus Vermögen eignen Formwillens, sondern ist nur ein
ästhetisch-kritischer Einwand von bestrittener Gültigkeit, denn er hat seine
Gründe nur in einer vagen gelehrten Kunstverständigkeit, nicht in einer
produktiven aktiven Umgebung. Diese ist nicht vorhanden, und was ihre Stelle
vertritt, ist nur ein passives Genießer- oder Kennertum. Darum fügt der heutige
Dichter zu seiner von ihm geordneten Materie das zum Werke fehlende der Form
aus scheinbar eigner Kraft hinzu, indem er die Materie in eine der vorhandenen,
früher einmal von der Umgebung geschaffenen Formen hineinpaßt; die Wahl trifft
ein Gefühl für die stärkste Wirkungsmöglichkeit, und diese stärkste Wirkung
erreicht der, der sich am besten mit dem die Wirkung verspürenden Publikum
identifizieren kann. Der Heutige handelt hier genau, wie der Dichter der
Sequenz Eia recolamus hinsichtlich seiner beigestellten Materie handelte, als
er sie der formgebenden Umwelt seiner gläubigen Gemeinde exponierte, deren
Glied er war. Hier aber war die Identifizierung natürlich und ein andres
überhaupt nicht denkbar. Während beim heutigen Unterhaltungsschriftsteller
diese Identifizierung artifiziell ist, da er nicht die Form bekommt, sondern
unter Konvenü gewordnen Formen wählt und jene wählt, mit der er auf die
breiteste Eingeübtheit dieser Form beim Publikum stößt. Womit zusammengeht, daß
solche im stärksten Konventionialismus der sekundär gewordnen Formen getroffne
Wahl auch schon eine Wahl in der Materie getroffen und jene gewählt hat, die
sich am leichtesten dem Konvenü hingibt: die Sprache wird auf ein Minimum ihres
Ausdrucks gebracht, wodurch der sogenannte Inhalt nackt und betont zum Vorschein
kommt. Das passive Publikum nimmt nur die am stärksten von ihm eingeübten
Schwankungen hin, deren Lösung keinerlei aktive Teilnahme verlangt, also nicht
Schwierigkeiten bereitet, die es zu lösen nicht vermag und
als »unkünstlerisch« alles ablehnt, was ihm solche Schwierigkeiten der Lösung
zumutet. Es hat sich darum in Verlegern, Direktoren, Agenten, Kunsthändlern
vermittelnde Zwischenglieder geschaffen, deren Aufgabe es ist, das Publikum in
erster Instanz gewissermaßen zu repräsentieren und welche mit ihrem Gelde dafür
garantieren, daß das Publikum nicht Schwankungen ausgesetzt wird, die es, da es
eben Publikum und nicht Umgebung, das heißt passiv und nicht aktiv ist, nicht
mit positivem Gewinn für sich aufheben kann. Der Hinweis muß hier genügen, daß
die genannten repräsentativen Zwischenglieder nur darin, daß sie mit ihrem in
ihr Unternehmen gesteckten Kapital bürgen, eine wirtschaftliche Rolle spielen,
die ganz nebensächlich ist neben der geistigen Aufgabe, mit der sie betraut
sind und die darin besteht, »ihr Publikum zu kennen« und zu wissen, »was sie
ihm bieten können.« – Es wäre ein Abriß der Kunstgeschichte nötig, um an
Beispielen aufzuweisen, daß die hier dargelegte Wechselbeziehung zwischen der
künstlerischen Person und ihrer Umgebung notwendige Voraussetzung für das
Zustandekommen des Werkes ist, und daß diese notwendige Wechselbeziehung
zwischen der materialordnenden Person und der formgebenden Umgebung nur dann
stattfindet, wenn ein definiter Kulturkreis als ungebrochne Einheit Person und
Umgebung in der Weise umschließt, daß die künstlerische Person darin als Glied
enthalten ist. Ich müßte beim Beispiel des Aurelius Ambrosius beginnen, um es
bis zu dem Bruch dieser Einheit zu führen, das heißt bis zum Auftreten der
modernen Gesellschaft im achtzehnten Jahrhundert, in welcher Zeit der
Schriftsteller beginnt, das heißt der Abgelöste, der sich der Bildung bedienen
muß, um den kulturellen Bruch zu überbrücken: was ihm im immer mehr abnehmenden
Maße gelingt bis zum Versagen auch dieser Verbindung im Zeitalter des
Hochkapitalismus, das wir leben und in dem bei weiter bestehendem Kunstwillen –
der als eine der menschlichen Betätigungen ja nicht aufhören kann – eine
völlige Durchwerfung der das Werk konstituierenden Teile
statt hat. Der zu keiner Umgebung mehr zugehörige Dichter entbehrt das formende
Element und vermeint es durch »Inhalt« und »Gestaltung« zu ersetzen; schon
zweifelt und verzweifelt er am verbrauchten Konvenü der sekundär weiter
bestehenden Formen, und seine Haltung gegen seine Mitwelt wird wesentlich
kritisch, worauf das Publikum ebenso kritisch reagiert. Das Dichten steht heute
im Streite sittlicher Meinungen, der mit ästhetischen Waffen geführt wird, an
deren Schärfe weder Dichter noch das Publikum mehr recht glaubt und die es nur in
Erinnerung an die Kunst und in falscher Anwendung dieses Begriffes braucht,
denn die Literatur stellt in ihrem Wesen ein vollständiges Novum dar, dem mit
den aus der Dichtung gewonnenen Anschauungen nicht beizukommen ist. Aber dem
Wesen der Dichtung auch nicht aus den Anschauungen aus der Literatur! Denn die
Kunst ist nicht aus den Interpretationen der wirklichen oder angeblichen
Funktionen zu bestimmen, welche sie im Leben der Menschen und dessen Geschichte
erfüllt oder erfüllen sollte. Gewiß hat alles was ist einen Seins-Grund, aber
der Seins-Grund eines Faktums steckt in der Ursache des Faktums, nicht in den
Funktionen, die es erfüllt. Aus der Summierung aller wirklichen, eingebildeten,
möglichen und denkbaren Funktionen, welche die Kunst erfüllt und je erfüllt
hat, ist deren Wesen so wenig bestimmbar wie das der Elektrizität aus den Arten
ihrer Verwendung. Der angebliche historische und dokumentarische Wert der Kunst
ist nichts als moderne Prätension einer bestimmten theoretischen Anschauung
über das Kunstwerk »wie es sein soll«, Victor Hugo gab in einem Kapitel der
Misérables ein historisches Bild des Jahres 1817 mit aller Prätension
historischer Exaktheit, und fast jeder Satz ist ein historischer Irrtum. Die
moderne Definition der Kunst als »Spiegel ihrer Zeit« wäre auch dann noch
irrtümlich, wenn der Begriff »ihre Zeit« wirklich genau zu bestimmen wäre. Was
sich einen historischen Roman nennt, ist nicht das irgendwie romanhaft
fassonierte Quellenstudium seines Verfassers, so viel er
dessen auch getrieben haben mag, und daß der Leser ihn goutiert, ist mit
nichten von seinem historischen Wissen bestimmt, mit dem er seinerseits das
romanhaft hergerichtete Wissen des Verfassers kontrolliert, richtig oder
mangelhaft findet. Schon beim Historiker ist die Forderung, daß er »alles
wissen« müsse, nie zu erfüllen – an den Romanzier gestellt wird sie ganz
absurd, denn seine Absicht ist auch im sogenannten historischen Roman keine
historische, sondern eine künstlerische, die primär nicht aus der Welt der
Objekte zu bestimmen ist als »Inhalt«, sondern als eine bestimmt geartete
individuelle Aktivität. Was in diese Individualität eingeht, ist die formende
Aktivität der Umgebung, welche dann das Werk als ein bestimmtes differenziert,
und in diesem Sinn kann man allein von der Kunst einer »bestimmten« Zeit, eines
»bestimmten« Kulturkreises, einer »bestimmten« Sprache reden. Die historischen
Romane der Frau Handel-Mazzetti sind interessantes Beispiel, wie hier ein Roman
werk nur darum historisch wird, weil sich der Dichter eine Umgebung fiktiv
koordiniert, die als eine kulturelle Einheit ihm allein die nötige Form gibt,
damit das Werk überhaupt werde. Die Dichterin von »Jesse und Maria« ist sowohl
in ihrer sprachschöpferischen Kraft, wie in der Form von allen guten Geistern verlassen,
wenn sie sich dem Heutigen überläßt, so sehr, daß sogar die hohen Qualitäten
ihres in den historischen Romanen sichtbar werdenden Glaubens in ihren modernen
Produkten völlig ins Banale des billigsten Komtessenkatholizismus sinken. Nicht
anders ist der Historismus Hofmannsthals aufzufassen: er fingiert
formschaffende Umgebung, um zum Werke zu gelangen. – Wenn ich in Früherm die
Aufgabe des Ästhetikers als eine nichts als kritische definiert habe, so sagt
das nicht, daß diese alleinige Aufgabe eine psychologische sei und die Ästhetik
ein Teil der Psychologie. Denn diese studiert den Mechanismus der mentalen
Phänomene, während der ästhetische Kritiker auf die Inhalte dieses Mechanismus
reflektiert, welche Inhalte die Psychologie ignoriert, um die
»passiven« Phänomene voranzustellen, zum Beispiel die Lustempfindung. Die
Psychologie betrachtet die Arten der ästhetischen Wirkungen, ohne sich dabei
aufzuhalten, daß für das Zustandekommen dieser Wirkungen ein Kunstwerk da sein
muß, und daß dieses zu kennen vor allen nötig ist. Denn so wenig wie aus den
sozialen Nebenfunktionen der Kunst, Erhebung, Besserung, Bildung, Belehrung und
so weiter ist ihr Wesen aus den psychologischen Effekten: Lustempfindung,
Erschütterung und so weiter bestimmbar. Und Kunstwerke, die heute aus solchen
Einstellungen auf die sozialen und psychologischen Wirkungen zustande kommen,
sind allenfalls heutige Literatur, aber nicht Kunst.
Folge
heutiger Anschauung über das Kunstwerk als ein durch nichts sonst als die
individuelle Aktivität der künstlerischen Person zustande Kommendes ist die
Reihe jener extravaganten Theorien über das Genie, sowohl jener, welche es als
ein mystisches Sprachrohr Gottes (oder der »Menschheit«) ansehn, wie der
andern, die das Genie als eine pathologische Erscheinung in die Nähe des
Verbrechers oder des Minderwertigen und Überkompensierenden stellen, welche
beide Anschauungen insofern identisch sind, als sie die künstlerische Person
übermenschlich machen, zu einem Halbgott oder zu einem Halbidioten, also zu einem
Dementen mit wechselndem Vorzeichen. Ein allgemeines Merkmal aller geistigen
Demenz ist ein psychischer Automatismus, der von der Schwäche der synthetischen
Urteile abhängt, und gerade das Gegenteil, nämlich die Stärke der synthetischen
Kraft, zeichnet die künstlerische Person aus, also höchste sittliche Stärke,
wie den Narren größte sittliche Schwäche: jenen als einen Menschen stärksten
Verantwortungsgefühles im Zusammensein mit der Menschheit, den Narren als einen
jedes solchen Gefühles Entbundenen, aus der Menschheit Isolierten. Die
Isolierung, die der Dichter dieser Zeit als künstlerische Person durch die
fehlende formschaffende Umgebung in seinem fragmentarischen Werke erleidet,
wofür er sozial durch die Möglichkeit, bürgerlich-kapitalistischer
Besitzer zu werden, entschädigt sein soll, zeitigte solche diagnostische
Ästhetik des Genies als eine moderne Form der Domestizierung des Künstlers, die
nicht seine bürgerliche, sondern seine geistige Person trifft.
Der Künstler
arbeitet nicht um eine Zeit zu spiegeln, nicht um bestimmte sittliche Gefühle
auszulösen, wenn beides auch als sekundäre Wirkung als im Kunstwerke
eingeschlossen hinzutreten kann. Er »fühlt sich« nicht und in nichts »ein«; er
betreibt weder »äußere« noch »innere Nachahmung« – was sollte er nachahmen? Die
andern »Spieltriebäußerungen« in andern Büchern? Soll er sich in ein andres
»Eingefühltes« einfühlen? Dieses Einfühlen und innere Nachahmen reduzierte das
ästhetische Phänomen auf einen nichts als subjektiven Akt, der im Belieben
dessen steht, der ihn erfüllt, und damit wäre das Problem ins Mystische
gedrängt, das neben dem Pathologischen der zweite Ort ist, wohin der verlegene
Psycholog flüchtet. All diese Kunsttheoretiker manifestieren nichts sonst als
ihre Inkompetenz in den Dingen der Kunst, weil sie »zurückführen« wollen auf
mehr oder minder vertraute allgemeine biologische, psychologische,
anthropologische und gesellschaftliche Phänome, insoweit diese eine
wissenschaftliche Gruppierung bekommen haben. Aber es manifestiert sich im Kunstwerke
»eine ganz neue Kraft« (Schiller), nämlich die Kraft der künstlerischen Person,
das Material in der Wirkungsrichtung auf eine formschaffende Umgebung wählend
zu ordnen. Beim Läuten einer Türklingel wie bei einer Symphonie handelt es sich
um Töne, bei einer Wiese wie bei einem Bilde um Farben, bei den Bezeichnungen
eines Fahrplanes wie eines Gedichtes um Worte, bei einem natürlichen
Menschenleib wie bei einer Plastik um eine Gestalt im Raum, aber Töne, Farben,
Worte und Plastik drücken als geordnete und geformte Materie in der Kunst ein
vollkommen Neues aus, das mit den korrespondierenden Bildungen, Geräuschen,
Erscheinungen des natürlichen Lebens wohl vergleichbar, aber von ihnen nicht
ableitbar oder abgeleitet oder in dessen Nachahmung
entstanden ist, noch in dessen Vereinfachung (»Stil«), noch in dessen
Steigerung zum »Sinn« (»Symbol«). Die Materien bekommen ihren Ausdruckswert
erst durch die synthetische Kraft der sittlichen Person, die man Künstler
nennt.
Alle nicht
der Kunst selber abgewonnenen Methoden ihrer Begrifflichkeit sind, auf sie
angewandt, falsch und ergebnislos, so gelehrt auch ihr Herkommen sein mag und
so angesehn die Wissenschaft, deren sie sich bedient. Es ist so, als benützte
man für die Probleme der Botanik die Methode der Rechtswissenschaft oder für
die Aufgaben der Astronomie die Arbeitsweisen der Medizin. Das Naturgegebene
ist nicht die wesenbestimmende Substanz der Kunst, und darum ist sie
wissenschaftlich von keiner jener Disziplinen her zu bestimmen oder zu
erkennen, welche mit den Naturgegebenheiten als ihrer Substanz arbeiten. Die
Kunst ist nicht »zurückführbar« auf etwas andres als auf ihr ganz autonomes
Selbst innerhalb der sittlichen Welt. Von dem, der sich mit der Kunst der Kunst
beschäftigt, ist eine wissenschaftlich nicht erwerbbare Zugehörigkeit zu
verlangen, die absoluter ist als die zur Chemie etwa oder einer sonstigen
wirklichen Wissenschaft, die ohne solche innre Zugehörigkeit durchaus erlernbar
ist. Ästhetik als Kritik der Kunst ist so wenig erlernbar wie die Philosophie,
die man »haben« muß, um sie wissenschaftlich das heißt methodisch zu treiben,
die man aber nicht erlernen kann, um sie dann zu »haben«, wenn auch die
Tatsache so außerordentlich vieler Professoren der Philosophie und Dozenten der
Ästhetik dagegen zu sprechen scheint. Aber Professor der Philosophie und
Philosoph ist ja wie man weiß nicht dasselbe; Schiller hat als Künstler in
seinen ästhetischen Schriften Wahrheiten zum Gegenstande gesagt, die ein bloßer
Gelehrter wie zum Beispiel Groos nur mißverstehn kann, im Ganzen wie im
Einzelnen. Denn es gibt keine ästhetischen »Einzelphänomene«, die allenfalls
von dem in der Kunst inkompetenten Gelehrten studiert und gelöst werden können.
Die künstlerischen Phänomene stehen untereinander in
unlösbarer Abhängigkeit von einander und sind nicht isolierbar, – werden sie
doch isoliert, so sind sie damit völlig um ihre ästhetische Zugehörigkeit
gebracht und in irgendwas gewandelt, das mit der Kunst das Geringste nicht mehr
zu tun hat – »Kunst und Krieg«, »der Arbeiter und die Kunst« und so weiter;
aber auch alle sogenannten sinnespsychologischen Einzeluntersuchungen werden
ästhetisch nur dann in Betracht kommen, wenn der sie Untersuchende in seinem
Gesichtsfelde die Kunst als ein Ganzes und zudem kritischen Sinn genug hat, den
untersuchten Teil immer auch Teil eines angeschalteten Ganzen sein zu lassen,
welches Ganzes die Kunst ist, nicht der Krieg, der Arbeiter, die
Netzhautreaktion. Ästhetik wäre danach autonome, nach ihrem eigenen Methodus
vorgehende Kritik der künstlerischen Sachgegebenheiten, welche nur und nichts
sonst als das Kunstwerk beibringt, wie es aus der Kraft der materialschaffenden
Person des Künstlers und der aktiven, die Form gebende Teilnahme der Umgebung
zustande kommt. Daß die heutige Ästhetik, insofern sie die moderne Kunst in
ihre Betrachtung zieht, dieser Definition nicht entspricht und gar nicht
entsprechen kann, ergibt sich aus dem mit keiner Dichtung vergleichbaren
Charakter der heutigen Literatur.
Zehnter Exkurs
Dieser
handelt von der deutschen Sprache. Hört man einen deutschnationalen
Parteiführer oder Abgeordneten, so könnte ein Naiver für Sprache das halten,
worin sich die Leute einer Gegend kaufend, verkaufend und zeitungschreibend
verständigen, möchte ein Naiver, sage ich, fast glauben, es läge jenem
Patrioten vor Gott und der Welt nichts anderes am abgeordneten Herzen, als
Wahrung des Kulturgutes deutsche Sprache. Ich will den Standpunkt des Naiven zu
dem meinen machen und nicht im Leisesten glauben, daß die lauten Hüter der
deutschen Sprache, seien es Abgeordnete, Professoren oder
Studenten, ganz andere Moventia eignen. Will glauben, daß alle diese teutschen
Männer Profit, Dividende, Bonus, Kapitalvermehrung, Avancement, Protektion usw.
usw. vergaßen, als ob es nichts wäre, weil sie sich in dem Einen
zusammenfanden: in der schweren Sorge um das bedrängte Kulturgut der deutschen
Sprache. Und nicht etwa um solche in beiläufigem »Deutsch« geredete
Internationalismen wie »die nächste Zuckerkampagne soll bringen eine Erhöhung
der Dividende um fünfzehn Prozent«, oder weniger gejüdelt, doch deutsch auch
nur so geredet, daß es ebensogut botokudisch gesagt werden könnte: »die
böhmische Industrie ist deutsch-völkisch und wird es bleiben immerdar, hie alle
Wege, das walte Gott, ei Potz!« Liest oder hört man unsere Nationalisten, so
kommen einem ja schwere Bedenken, ob sie den hier angedeuteten Unterschied
zwischen Sprache, die ein Kulturgut, und dem so Reden, was ein Verkehrsmittel
ist, auch nur zu ahnen vermögen, denn in dem nationalistischen Reden ist meist
nicht ein Satz deutscher Sprache zu finden, den sie je gebildet hätten. Sie
bedienen sich deutscher Bezeichnungen, in Figuren und Wendungen geordnet, die
sicher irgendwie aus der deutschen Sprache herkommen, aber gewiß nie wieder zu
ihr zurückkehren, sie hütend, wahrend oder gar mehrend. Sie reden auf deutsch
und sie meinen, sie sprächen deutsche Sprache. Sie reden auf deutsch, auch wenn
sie ängstlich Fremdwörter vermeiden, wie ihre Sprachreiniger es fordern, die
wissen sollten, was die Nationalisten nicht zu wissen brauchen: daß das
Deutsche so etwas wie eine tote Sprache ist – was nicht bedeutet, eine nicht
mehr gesprochene. Ohne weiter fremdartig zu wirken, gehen alle Neubildungen
römisch-griechischer Art in den Besitz jener Sprache über, die man Tochtersprachen
des Romanischen nennt, besonders des Französischen, welches die Lehnssprache
ist, die man auf französischem Boden heute spricht, wo das autochthone Baskisch
und Bretonisch so gut wie ganz verschwunden sind, in welchen beiden Sprachen
das Wort »Automobil« ein Fremdwort sein würde, das es im Französischen
gar nicht und im Englischen nur bei dichtenden Fanatikern des Angelsächsischen
– und das es im Deutschen immer ist. Denn das Deutsche ist als eine autochthone
Sprache längst fertig in seinem wesentlichen Bestand an Wörtern wie an
Grammatik. Daraus erklärt sich die »Dunkelheit« der deutschen Sprache, von der
die Franzosen sprechen, denn wir haben eine nicht geringe Anzahl von Wörtern,
deren je eines für drei und mehr Begriffe verschieden da ist. Wir sagten
Kielfeder, als man mit der Kielfeder schrieb. Wir blieben bei Feder, als man
schon nicht mehr mit der Feder schrieb, sondern mit der geteilten Stahlspitze.
Und wir gebrauchen das gleiche Wort Feder für die Spirale in der Uhr und für
einen Teil des Schiffsbodens. So haben wir ein Wort für vier verschiedene
Begriffe, ein Wort, das wir nicht einmal im Geschlechte differenzieren.
Neunundneunzig neue Bezeichnungen für Gegenstände betreffen seit fünfzig Jahren
technische Dinge: wir müssen dafür entweder das »Fremdwort« hinnehmen, oder wir
müssen mit einem Wort bezeichnen, das schon andern Begriffen als Attribut dient
oder wir müssen den Begriff umschreiben, was dem Individuellen des Begriffes
widerspricht, der ein Wortindividuum verlangt. Die erste Möglichkeit, das
Fremdwort zu adoptieren, ist die beste, und die alten sprachreinigenden
Gesellschaften haben der deutschen Sprache wie der deutschen Politik einen
schlechten Dienst mit ihrer Tätigkeit erwiesen, eine deutsche Sprache dadurch
rein zu erhalten, daß sie in neunundneunzig von hundert Fällen für fremde Worte
deutsche Sprachungetüme erfanden. Oder sie haben deutsche Politik richtig
geahnt, indem sie ihr jeden Expansionismus und Imperialismus als sprachlich
unmöglich absprachen. Denn die Sprache hat eine politische Immanenz: England
kommt zu seiner Weltstellung dank seiner Sprache, die in der glücklichen Lage
ist, germanisch und romanisch in sich zu vereinigen. England kommt
sprachorganisch zu Kolonien, weil die englische Sprache dafür ein englisches
Wort hat. Deutschland verliert die seinen, weil es dafür kein deutsches Wort
hat.
Die Bezeichnung »Telegraph« ist die bestmögliche in
deutscher Sprache. Der absolute Purismus würde die deutsche Sprache unter
Monstrositäten begraben. Zu Beginn des Krieges, als dem deutschnationalen
Patriotismus der Schaum vor dem Munde stand, wütete man gegen die
»Fremdwörter«. Man wußte nämlich nicht, daß der Mensch die Sprache nicht
erfunden hat wie eine weittragende Kanone, denn der Mensch ist, wie Wilhelm von
Humboldt sagt, Mensch durch die Sprache. Die Nationalisten aber glaubten, der
Mensch habe die Sprache erfunden und könne daher immer weiter erfinden mit
gutem Rechte. Sie hielten Gerücheerzeuger, das sie für Parfumeur forderten, für
ein deutsches Wort, wie Kraftwagen für Auto und Fernsprecher für Telephon. Im
Jahr 1915 erschien ein dickes patriotisches Verdeutschungswörterbuch, ein
Monument der Sprachmißhandlung – es ist seltsam, wie unbekannt die deutsche
Sprache gerade jenen ist, die sich aus Patriotismus mit ihr beschäftigen. Es
ist bemerkenswert, wie unbekannt überhaupt alles jenen ist, die sich aus
nationalistischem Patriotismus mit irgendwas beschäftigen. Es ist nicht der
sittliche Defekt nationaler Schwäche, der den Deutschen inmitten eines
anderssprachigen, etwa des englischen Milieus in den U. S., das Deutsche
vergessen läßt. Wer für den Begriff keine andere Bezeichnung hat als Autorität,
der wird eben sehr bald autority sagen und der Rest folgt bald nach. Man hat im
wilhelminischen Deutschland diesen imperialistischen Mangel der deutschen
Sprache in den imperialistischen Zentren empfunden und sich so etwas wie ein
kosmopolitisches Deutsch erfunden, in all den Abbreviaturen, Wörtern aus
Anfangsbuchstaben usw. Man empfand, daß die neuen Wörter, die man für die neuen
Gegenstände vorschlug, keineswegs neue deutsche Wörter, sondern nur sehr
grausliche Zusammensetzungen alter Wörter und dazu auch ohne die Fähigkeit
wären, den Gegenstand zu bezeichnen so eindeutig, wie es nötig war. Man empfand
das Hindernis, das den Deutschen die deutsche Sprache in einer
industrialisierten Zeit und deren politischen Auswirkungen bereitet,
und machte verzweifelte aber vergebliche Anstrengungen, über dieses Hindernis
wegzukommen – vergebliche, denn: die deutsche Sprache ist keine lebende
Sprache. Man mache eine Statistik der Verhältniszahlen. Man wird in den
ungefähr tausend Worten, die der durchschnittliche Berliner Kaufmann kennt und
braucht, fünfhundert nichtdeutsche finden. Man wird unter den ungefähr
vierzigtausend deutschen Worten, die es gab und gibt, mehr als zehntausend
zählen, die weder mehr gekannt, noch gar gesprochen oder auch nur geschrieben
werden. Die Zeitungen sorgen für die Verkümmerung der letzten Sprachquelle, der
Dialekte, denn die Zeitungen sind alle in dem ins sogenannte Hochdeutsche
übertragene Argot der Großstädte geschrieben, also in einem Verkehrsdeutsch,
das mit dem nationalen Kulturgut der Sprache nichts zu tun hat. Denn ob die
Frage: »Wie hoch stehen De Beer-Aktien?« auf deutsch, englisch oder krowotisch
gestellt wird, das ist im Sinn des Kulturgutes Deutsche Sprache gänzlich
gleichgültig.
Ich kann der
politischen Bedeutung der Sprache im Zusammenhange dieses Buches nicht ins
Einzelne nachgehen, aber ich muß die Aufmerksamkeit auf einige Fakten lenken.
Im Süden wie im Westen endete die Expansion Germaniens, das bis zur Saale und
zur Elbe reichte, damit, daß die in Italien und Gallien eindringenden Germanen
als die kulturell schwächeren von den romanisierten Galliern und Italikern
aufgesogen wurden. Das gleiche Schicksal, das die germanischen Stämme der
Langobarden in Italien erlitten, die fränkischen Stämme in Gallien, erlitten
die sächsischen in Britannien. Wie sie es heute noch in Amerika erleiden.
Anders war es mit der Expansion nach dem Osten. Die slavischen Völker der
Wenden, Kassuben, Sorben, Prussen waren kulturell schwächer als die Germanen,
welche über die Elbe gingen und hier das Herrenvolk wurden im Laufe der
Jahrhunderte. Kulturell unterwertig war, was die Germanen nach dem Süden und
Westen brachten, wo sie sich romanisierten. Kulturell überwertig war, was sie
den slavischen Stämmen brachten, mit deren Blut sie sich
wohl vermischten, deren Sprache aber nicht nur nicht annahmen, sondern ihnen
die ihre gaben – ein Prozeß, der bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts
dauerte, um sich bis an die Weichsel auszuwirken; und dem auch die Tschechen
nicht widerstanden hätten, wäre das Werk anders getan worden als durch die
Gegenreformation, wo es zu spät war; denn von einer kulturellen
Minderwertigkeit der Tschechen gegenüber den Deutschen konnte nun nicht mehr
die Rede und kein Grund sein, daß diese Slaven von den Deutschen etwas
annahmen, was sie selber schon besaßen. Heute ist der Prozeß sprachlicher
Eroberungen durch die Deutschen, der nach Westen nie statt hatte, auch nach dem
Osten geschlossen. An der Weichsel hatte das Deutsche seinen entferntesten
Punkt der Wirkung erreicht, um auch diese Linie zu verlieren, weil es in den
letzten fünfzig Jahren wieder von dem Vergeblichen, nach dem Westen zu
expandieren, gefangen war. Es hat für die Deutschen immer nur den östlichen Weg
gegeben, aber man ging unbelehrt die Wege in allen Richtungen der Windrose. Um
sich damit auch den östlichen Weg ungangbar zu machen. Wäre die deutsche
Philologie ihren Begründern treu geblieben, so hätte die deutsche Politik
vielleicht ein anderes Gesicht bekommen als das ihr jene Philologen gaben, die
sich damit legitimierten, daß sie aus Telegramm »Funkspruch« machten.
Elfter Exkurs
Dem
Veranstalter eines teuern Literaturblattes – es kosten die vier Hefte
zweitausend Mark – sagte eine Berliner Zeitung, daß er mit seinem Unternehmen
auf Kriegsgewinner spekuliere, und in einem Ghetto-Deutsch verteidigte sich der
Mann damit, daß »Kriegsgewinner lieber Sachen zum Hängen als zum Hinlegen
haben« und rief Sternheim zum Zeugen, der bestätigte, daß »von Volk niemals
Anregung oder Hülfe für die Dichter komme«. Hier wurde vorbeigeredet. Der
Veranstalter verteidigte mit Augenaufschlag nur seine
Spekulation, was Sternheim mißverstand. Aber er rührte an eine wichtige Sache.
Was die Publizität betrifft, so kommen dabei weder »Volk« noch »Reiche« ins
Spiel, das ausschließlich dem Geschäftlichen und seiner Überlegung gehört; denn
der Dichter arbeitet weder für viele, noch für wenige, sondern für alle
Menschen. Wie viele es dann praktisch-geschäftlich sind, entscheidet oder
vermutet der Verleger nach der ersten Auflage, und das Resultat kann den
Dichter erfreuen oder betrüben, aber nicht veranlassen, anders zu dichten oder
es überhaupt sein zu lassen. Bei ehrlichem künstlerischen Gewissen hätte jener
Veranstalter die einfachste weil selbstverständlichste Antwort geben können,
daß es an dem Faktum vorhandner Literatur nichts ändert, ob man sie in Massen
für viele billig oder in kleiner Zahl der Auflage für wenige teuer verbreitet,
ob sie von vielen, von wenigen oder von keinem gelesen wird. Aber er sprach als
Unternehmer die Erfahrung aus, die er sich vom irregeführten Sternheim
bestätigen ließ, daß der Sinn für die Kunst bei denen sei, die sie hoch
bezahlen können. Er meinte damit aber: das Geschäft mit der Kunst ist nur mit
den Reichen zu machen, womit er durchaus recht hat. Er traute sich nur nicht,
diese geschäftstüchtige Wahrheit zu sagen und schrieb den Reichen den Sinn für
die Kunst zu. Der ist aber weder bei ihnen noch bei den Armen, wenn wir auch
bemerken können, daß der Bankdirektor X, wenn er überhaupt etwas liest, den
Schundroman, sein armer Kommis aber die Gedichte von Werfel liest. Aber dies zu
verallgemeinern, wäre falsch, denn in dem Gegensatz Arm-Reich liegt gar nicht
das hier prinzipiell trennende Moment oder wenigstens nicht in so schematischer
Form. Sicher korrespondiert die jeweils neue Literatur mit der herrschenden
Klasse, nicht in dem Taineschen Sinn, daß die Literatur Ausdruck der
herrschenden Gesellschaft sei, denn das ist sie, so allgemein gesagt, nicht,
sondern sie steht in einer direkten Beziehung zu dem Bildungsniveau, das die
herrschende Klasse erreicht hat. Dieses Bildungsniveau setzt die herrschende
Klasse in Stand, sogar eine Literatur zu goutieren, deren
Tendenz ihren politischen und sonstigen Idealen und Interessen entgegengesetzt
ist und diese angreift wie im Fall Leonhard Frank. Und eben dieses Niveau, eben
dieser der ästhetischen Sensibilität der herrschenden Klassen entsprechende
formale Ausdruck wird jenen Klassen als »zu gebildet« nicht liegen, die mit der
Tendenz eines Frank durchaus sympathisieren. So wird ein Francis Jammes dem
Wiener christlich-sozial Gläubigen viel »zu literarisch« sein, er wird ihn
nicht verstehn, wie wir ja auch in neuern Kirchen den Kreuzweg nicht von
Marées, Hofer oder Feistauer gemalt sehn, sondern von dem ödesten Kitschier, in
den katholischen Feuilletons eine fromme aber schlechte Literatur finden, in
den sozialdemokratischen eine schlechte aber gesinnungstüchtige und, wie gleich
gesagt sei, in den Zeitungen der herrschenden Klassen eine zumeist schlechte,
aber gesinnungslose. Träte heute jene vielbesprochene Revolution ein, durch
welche die herrschenden Klassen von den bisher beherrschten des Proletariats
und Kleinbürgertums abgelöst würden, so wäre die dann herrschende Literatur
ganz der heutigen Bildung dieser Klassen entsprechend: Spielhagen, Rosegger,
Freiligrath, Schiller – dieser als Grenze nach rückwärts wie als Grenze nach
vorwärts –, Björnson, der Ibsen des Volkfeinds, der Hauptmann der Weber und des
Rautendelein. Es ist unleugbar, daß – wofür die Ursachen auf der Hand liegen –
die derzeit herrschende bürgerliche Klasse das Privilegium der künstlerischen
Kultur besitzt und allein nur besitzen kann. Denn was das Volk besitzt, ist
nicht eine besondre Literatur, sondern Abfall der Literatur der herrschenden
Klasse, vermehrt um die vom Volke konservierte Literatur aus frühern Epochen
eben dieser herrschenden Klasse. Alle Bemühungen der Volksbildungsvereine
verbreitern im besterreichten Fall die Masse der herrschenden bürgerlichen
Bildung, bringen aber kein neues Element in sie, gar nicht zu reden davon, daß
dieses Bemühn keine wesentlich andre Bildung schafft, auf die der Dichter sich
beziehn und die herrschende bürgerliche Bildung entbehren
könnte. Die Literatur des Volkes, das heißt das, was das Volk liest, ist immer
konservativ die Literatur von ehegestern und wird paradoxer Weise künstlerisch
reaktionär immer dort sein, wo das Volk politisch radikal oder revolutionär
ist: sozialdemokratische Liederdichter, katholische Erzähler in klerikalen
Blättern. Während die vorlaufende, sich auf das gebildete Niveau der
herrschenden Klassen stützende Literatur immer künstlerisch revolutionär ist,
auch bei »reaktionärer« Gesinnung: Huysmans, Claudel, Sorge. Man erinnere sich
an das durchaus Reaktionäre in der französischen Revolutionsdichtung, die jede
Tradition unterbrechend auf den Formausdruck von 1700 zurückging, während die
Neuerer unter den reaktionären Emigranten waren.
Käme heute
das sozialdemokratische Proletariat zur Herrschaft, es würde als seinen besten
literarischen Ausdruck so etwas wie den Zolaismus entdecken, also künstlerisch
reaktionär sein. Die ununterbrechbare künstlerische Tradition aber würde von
den überlebenden Besiegten getragen werden, und von ihnen müßte die neue
herrschende Klasse empfangen.
Das alles
hat mit den »Reichen« nichts zu tun. Die wenigen Schöpfer neuer dichterischer
Gebilde korrespondieren mit wenigen, die für die Aufnahme bereit sind. Diese
wenigen werden sich gewiß immer nur in den herrschenden oder diesen
bildungsgemäß affilierten Klassen finden, aber von einer absoluten Koinzidenz
der Dichter und der herrschenden Klasse ist nicht zu sprechen. Die wenigen, den
Dichter Erkennenden sind, wenn auch zur herrschenden Klasse gehörig, weder in
deren Herrschaftsinteressen befangen, noch deren vornehmste Träger, am
allerwenigsten sind sie aber mit den Reichen schlechthin zu identifizieren, wie
jener Herr mit Händen und Schultern behauptet, der den Geschundenen auf
Japanpapier vorführt – wie er behauptet, um sich einen sittlichen Grund für das
unsittliche Geschäft zu geben, daß er eine Novelle, die man im Verlage Wolff
für achtzig Pfennige haben kann, für etwa zwanzig Mark liefert
– ja, das ist das Wort, denn seine Reichen sind nicht nur »die, wo was zum
Hängen lieben«, denn sie mögen, wo was teuer kostet, auch wenn man nur kann
hinlegen und ist nur nebbich Literatur.
Zwölfter Exkurs
Dem Urteil
der Eingeweihten überlasse ich es, ob ich eine Wirklichkeit oder eine Utopie
mit dem folgenden Versuch eines Geistes der konservativen Parteien beschreibe.
Ihn anzustellen schreckt mich der Umstand nicht ab, daß O. A. H. Schmitz einmal
als Retter des preußischen Konservativismus versagte. Möglich, daß ich mit
meinem Versuch Eulen nach Danzig oder München, oder wie sonst das konservative
Athen heißt, trage und das, was sich in den respektiven Blättern und Reden
äußert, nur Maske ist für den wahren und verborgen gehaltnen Geist und dieser
sich mit meinem Versuche deckt. Doch ist Tatsache, daß der sich äußernde Geist
doch mehr »Jeist« ist und nur höchst dürftig eine im übrigen recht korpulente
Blöße deckt, strotzend in Interessen höchst ungeistiger, wenn auch (kartoffel-)
spiritueller Art. Das Mantelstück, das sich der heilige Schmitz abschnitt, war
gut gemeint, aber es rutschte ob seiner Kleine vom umfangreichen Leibe des
Bettlers im Geist. Wir wollen freigebiger sein, nicht nur ab-, sondern auch
gleich zuschneiden, wobei es uns auf den Umfang des zu Bedeckenden, nämlich die
konservative Partei im Engern so wenig ankommt, daß wir sie gleich im Weitesten
erfassen, ganz Alldeutsch dazunehmen, ferner die D. V. P. und das Zentrum dort,
wo es dem Grundsatz huldigt: commercialia non sunt turpia.
Unbekümmert
darum, ob ich damit zu spät komme, bringe ich also den folgenden Geist der
konservativen Parteien zum Vorschlag und schicke voraus: politischer Geist ist
ein zweckhafter Geist, kein reiner, weshalb es hier ohne Belang ist, die
Existenz Gottes oder eine geoffenbarte christliche Religion überhaupt
vorauszusetzen, denn wichtig ist hier allein, die Religion
als dem konservativen Zwecke dienend zu beweisen. Ich nehme uns unter uns an
und vermeide darum aufhaltende Redensarten. Wir tun also ganz ungeniert so, als
gäbe es so etwas wie Gott und christliche Religion nicht, oder noch nicht, um
freien Platz für eine dem konservativen Geiste taugende erkenntnistheoretische
Grundeinstellung zu bekommen, hinreichend, darauf alles andre, auch Gott und
die Religion, aufzubauen. Unsre Grundeinstellung krümmt allerdings den
menschlichen Stolz in den spitzesten Winkel, aber solches ist die notwendige
Voraussetzung jeder rohen Machtpolitik, die ja niemals von einer Würde des
Menschen abgeleitet werden kann. Und wir sagen demnach: wenn auch der
Determinismus, das heißt die mechanische Konzeption der Welt nicht alles
erklärt, so versteht man doch hinwieder ohne ihn überhaupt nichts. Somit
erkennen wir, daß wir nichts sind als Effekt und Resultat von elementaren
Kräften, unbekannt und unerkennbar der lebendigen Materie. Wir produzieren nur
leere Worte darüber, wie Freiheit, diesen kindlichen Traum eines verzweifelten
Wahnes, wie Gleichheit, ewig dementiert von den Fakten, wie Gerechtigkeit,
diese Jeremiade der Besiegten. Das Individuum, mechanisches Produkt von es
determinierenden Ursachen, ist nicht frei, sondern liegt in den Ketten des
Erbes, ist verwurzelt den Toten, die es im Weiterschreiten der Zeit immer mehr
und stärker beherrschen. Es ist aber auch nicht gleich, sondern verschieden,
und darum als Einzelnes, als Rasse, als Klasse unterlegen oder überlegen. Der
Nachbar ist nicht der Bruder, sondern der Gegner, wenn nicht der Feind, so will
es das vitale Gesetz, welchen Konflikt die Gerechtigkeit, diese
unwissenschaftliche, ideologische Illusion des menschlichen Geistes, nicht
lösen kann. Aus dem Zusammenstoß komplexer und ungleicher Kräfte impostiert
sich diese amoralische Feststellung: der Sieg des besser Geeigneten. Somit ist
die Gewalt das Regulativ des Fortschrittes und der Krieg der Vater aller guten
Dinge. Der Krieg ist der natürliche Zustand alles dessen, was lebt.
Im Kriege bilden sich und lösen sich die Rassen auf.
Er ist der Schmelztiegel, in den die in ihrer Fruchtbarkeit unparteiische Natur
die Gattungen wirft, die sie schafft. Der Krieg eliminiert die Untauglichen des
Lebens, die mißglückten Elemente, die minderwertigen Völker. Durch den Krieg
hat der Mensch gelernt, daß er sich der Notwendigkeit einer Disziplin zu
unterwerfen habe; durch den Krieg hat er begriffen, daß und warum es ihm
Bedürfnis ist, sich einem Plan unterzuordnen. Aus Mißtrauen gegen den Nachbar,
aus Furcht vor ihm, hat er seine eigene Rasse lieben und den Wert des
moralischen und materiellen Patriotismus schätzen gelernt, den er von seinen
Vorderen überkommen hat. Der Krieg vereinigte die Individuen des gleichen
ethnischen Charakters, der gleichen Sprache, der gleichen sittlichen und
geistigen Artung und der gleichen Geschichte. Die aus dem Kriege geborene
Disziplin ist die Kraft, welche es dem Menschen möglich gemacht hat, der
gegenwärtige zivilisierte Mensch zu sein. Er erkennt nun, daß er nur als Folge
seiner Ahnen existiert: aus seiner Tradition. Hier wäre Kant, der viel für den
ewigen Frieden Mißbrauchte, mit jener Bemerkung zu zitieren, die ausführt, daß
es Zustände der Zivilisation geben könne, die keinerlei Freiheit des Geschehens
mehr erlauben und wo der Krieg das einzige und unerläßliche Mittel ist, eine
also erstarrte Zivilisation weiter zu bringen. Es hat die aus dem Kriege als
notwendig erkannte Disziplin den Menschen notwendig bescheiden gemacht und ihn
an die geringe Rolle erinnert, die ihm zu spielen zukommt. Diese Disziplin hat
seinen Wahn gemindert, sie hat ihm die Freude des Verzichtes beigebracht und
den Enthusiasmus des Opfers.
Aber erst
die Religionen geben dieser Disziplin den definitiven Sinn und die Subtilität,
indem sie das bloße Seinsbedürfnis des Menschen und die Freude daran versöhnen
mit der harten und absoluten Notwendigkeit, sich in die Tyrannei der
natürlichen Gesetze des Lebens zu finden. Die Religionen machen das
Transitorische und Gelegentliche der aus dem Kriege gebornen Disziplin zur
dauernden Zucht. Der Anthropomorphismus der Religion verrät
den Geist, der sie konzipiert hat, und aus dem Anthropomorphismus haben hier
wieder die Religionen die Macht des Einflusses auf den Menschen, den sie nun
ihrerseits ändern, indem sie ihn aus einem tierischen, niedern und gemeinen Instinkten
unterworfenen Wesen zu einem sittlichen und frommen Geschöpf umbildeten. Von
der Religion lernten die dem Tierischen nahestehenden Massen die Resignation;
die Religion schuf den Begriff der Ordnung; und sie gestattete und sicherte das
Überleben und die Veredlung der Gattung, indem sie das Individuum durch eine
notwendige Lüge dahin brachte, sich ihrer Funktion zu unterwerfen.
Von der
Gewalt erhalten die Menschen das Gut ihrer Gemeinschaft in der Rasse; von der
Religion die Hilfe der Tradition, der Autorität und des Verzichtes, die allein
das Dasein in der Gemeinschaft möglich machen, in welcher der Einzelne nichts
bedeutet, weil er nur als Erbe lebt und nur das vom Krieger und vom Priester
bewahrte und gehütete Erbgut ihm das Leben als gesitteter Mensch überhaupt
möglich macht.
Es kann den
konservativen Geist nur zieren, wenn er sich etwas an Darwin akkommodiert, der
ja über die Zeit, wo er nicht fair war, hinaus ist. Zudem wird es den
grundbesitzenden Konservativen, soweit sie etwas Landwirtschaftliches gelernt
haben, leicht sein, eine Fülle neuerer naturwissenschaftlicher Beobachtungen
hier beizusteuern, welche das Gesagte stützen. Ich erinnere nur an die
Veredlungsversuche und die Rolle, welche dabei der Atavismus spielt; auch die
Chemie der Dungmittel liefert Belege, die sich nur im Grade der Komplexität von
dem über den Menschen Gesagten unterscheiden. Zudem ist, wen der Darwin
schrecken sollte, rasch mit einem Zitat aus Joseph de Maistre zu beruhigen, der
sagt: »II faut purifier les volontés ou les enchaîner; leur donner un frein
moral ou une entrave matérielle; les gouvernements ont besoin d'une foule
muette forcée d'obéir, ou d'une foule croyante à qui l'on persuade d'obéir.«
(Ich will dieses Zitat nicht den Proletariern preisgeben, weshalb
ich es französisch zitiere.) Eigentlich ist in diesem Zitat alles gesagt, wovon
ein konservativer Geist leben kann. Doch aber ist die modernere
wissenschaftliche Begründung nötig, einmal weil Wissenschaftlichkeit heute
beliebt und angesehn ist, und dann, weil sie schönere Paradepferde liefert. Das
Haben, Behalten und Mehrhaben der konservativen Pleonexie ist ja öffentlich
nicht vorführbar und ist auch allein noch kein Geist, als welcher eben die
Aufgabe hat, diese Pleonexie mit guten philosophischen Gründen zu rechtfertigen
nicht nur, sondern ihre Einziggültigkeit zu etablieren. Jeder Geist einer
Partei muß an sich die Forderung stellen und zu erfüllen trachten, daß er der
Geist der Menschheit sei. Der Konservativismus muß beweisen können, daß nur
jene den Sinn des Lebens ergreifen, welche ihn als eine ständige Exaltation des
Kultus der Ehre und Befolg der Ahnentugenden betrachten, jener Ahnen unsres
Stammes, welche den Boden erobert haben, auf dem wir hausen, welche die Quellen
unsres nationalen Patrimoniums aufgeschlossen haben, von denen wir leben, und
welche uns mit der heroischen Leidenschaft des Opfers die Freude am Verzicht
auf all das überliefert haben, was den Menschen vom moralischen Ideal seiner
Rasse, seines Volkes entfernt. Ob wir an den offenbarten Charakter der
christlichen Religion glauben oder nicht – wichtig ist, daß wir diese Religion
als Regel unsres Lebens erkennen: als die verstärkte Tradition und den Ruf zum
Gehorsam. Diesen wahren Sinn der Welt fälscht der Individualismus, als welcher
eine unwissenschaftliche aus der Reformation geborene Ideologie ist, die den
Protest und die Revolte als eine konstante Notwendigkeit behauptet. In allen
Revolutionen ging immer der Geist eines Volkes zugrunde, wurde immer eine
vorhandene Zivilisation einer Ideologie geopfert, die ohne Zusammenhang mit
irgendeiner Rasse, einem Volke jene Internationalität besitzt, welche als der
wahre Träger einer toll gewordenen Modernität diese zwei auflösenden Elemente
gezeugt hat: den Freimaurer und den emanzipierten Juden. Und als drittes die
Forderung der Demokratie, die dem Volke das Wort gibt, das
ihm wie dem Caliban nur dazu dient, jene zu verfluchen und zu verleumden, von
denen es das Wort gelernt hat. Gegen diese zerstörenden, die Größe
vernichtenden Tendenzen gibt es nur diese beiden Gewalten: die Kirche und die
Armee.
Der hier
vorgeschlagene Geist hat seine schwachen Stellen, wir verhehlen das nicht. Es
ist von der Rasse die Rede, und wir wissen auch ohne den Semi-Gotha, daß hier
im Punkt der Reinheit nicht alles stimmt. Man wird darum die Bedeutung des
nationalen Erbgutes mit einer Rassentheorie stützen müssen, die sich mehr auf
Geist und Seele als auf Nasen und hängende Schultern gründet. Die Götter der
Wagnerschen Opern wären ganz aus dem Spiel zu lassen, wie sich überhaupt die
Alldeutschen bei dieser theoretischen Grundlegung etwas mäßigen müßten. Aber im
ganzen sind wir überzeugt, daß man in Ansehung der Wichtigkeit, die eine
wohlfundierte konservative Weltanschauung für alles, was konservativ ist,
besitzt, die Lücken ohne Fehl sowohl in der Rassentheorie ausbauen wird, wie
auch die in der andern Voraussetzung des Determinismus. Dieser kann nämlich so
komplex sein, daß es unmöglich wird, wissenschaftlich den Anteil der
verschiedenen Elemente zu fixieren, welche den Menschen ändern. Die im Kampfe
Überlebenden werden bei geänderten Kampfmitteln und mit dem Auftreten der Masse
problematisch. Dies zu hindern, wird der Konservative in seiner Geldheirat mit
der Industrie bestrebt sein müssen, der Stärkere zu bleiben und immer zu
bedenken, daß die schwachen Stunden der Frau ihre starken sind. Die Kinder
dieser Stunden sind die bewußt werdenden Massen und deren Spielzeug die
Maschinen, sowohl die der Fabrikation wie die andern der Wahlurnen. Ein drittes
Bedenken beträfe die Möglichkeit einer Änderung der Anschauungen über das
summum bonum, aber dieses Bedenken ist so lange das geringste, als die
kirchliche Lehre sich bewußt ist, eine Machtlehre zu sein, das heißt über Gott
nicht den Priester vergißt. Und dies ist bis auf weiteres nicht zu befürchten.