Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers
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Walter Benjamin
Die Aufgabe des Übersetzers
Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die
Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar. Nicht genug, daß
jede Beziehung auf ein bestimmtes Publikum oder dessen Repräsentanten vom Wege
abführt, ist sogar der Begriff eines ›idealen‹ Aufnehmenden in allen
kunsttheoretischen Erörterungen vom Übel, weil diese lediglich gehalten sind,
Dasein und Wesen des Menschen überhaupt vorauszusetzen. So setzt auch die Kunst
selbst dessen leibliches und geistiges Wesen voraus — seine Aufmerksamkeit aber
in keinem ihrer Werke. Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem
Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.
Gilt eine Übersetzung den Lesern, die das Original nicht verstehen? Das scheint
hinreichend den Rangunterschied im Bereiche der Kunst zwischen beiden zu
erklären. Überdies scheint es der einzig mögliche Grund, ›Dasselbe‹ wiederholt
zu sagen. Was ›sagt‹ denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der
sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch
könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die
Mitteilung — also Unwesentliches. Das ist denn auch ein Erkennungszeichen der
schlechten Übersetzungen. Was aber außer der Mitteilung in einer Dichtung steht
— und auch der schlechte Übersetzer gibt zu, daß es das Wesentliche ist — gilt
es nicht allgemein als das Unfaßbare, Geheimnisvolle, ›Dichterische‹? Das der
Übersetzer nur wiedergeben kann, indem er — auch dichtet? Daher rührt in der
Tat ein zweites Merkmal der schlechten Übersetzung, welche man demnach als eine
ungenaue Übermittlung eines unwesentlichen Inhalts definieren darf. Dabei
bleibt es, solange die Übersetzung sich anheischig macht, dem Leser zu dienen.
Wäre sie aber für den Leser bestimmt, so müßte es auch das Original sein.
Besteht das Original nicht um dessentwillen, wie ließe sich dann die
Übersetzung aus dieser Beziehung verstehen?
Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen
auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit
beschlossen. Die Frage nach der Übersetzbarkeit eines Werkes ist doppelsinnig.
Sie kann bedeuten: ob es unter der Gesamtheit seiner Leser je seinen
zulänglichen Übersetzer finden werde? oder, und eigentlicher: ob es seinem
Wesen nach Übersetzung zulasse und demnach — der Bedeutung dieser Form gemäß —
auch verlange. Grundsätzlich ist die erste Frage nur problematisch, die zweite
apodiktisch zu entscheiden. Nur das oberflächliche Denken wird, indem es den
selbständigen Sinn der letzten leugnet, beide für gleichbedeutend erklären. Ihm
gegenüber ist darauf hinzuweisen, daß gewisse Relationsbegriffe ihren guten, ja
vielleicht besten Sinn behalten, wenn sie nicht von vorne herein ausschließlich
auf den Menschen bezogen werden. So dürfte von einem unvergeßlichen Leben oder
Augenblick gesprochen werden, auch wenn alle Menschen sie vergessen hätten.
Wenn nämlich deren Wesen es forderte, nicht vergessen zu werden, so würde jenes
Prädikat nichts Falsches, sondern nur eine Forderung, der Menschen nicht
entsprechen, und zugleich auch wohl den Verweis auf einen Bereich enthalten, in
dem ihr entsprochen wäre: auf ein Gedenken Gottes. Entsprechend bleibe die
Übersetzbarkeit sprachlicher Gebilde auch dann zu erwägen, wenn diese für die
Menschen unübersetzbar wären. Und sollten sie das bei einem strengen Begriff
von Übersetzung nicht wirklich bis zu einem gewissen Grade sein? — In solcher
Loslösung ist die Frage zu stellen, ob Übersetzung bestimmter Sprachgebilde zu
fordern sei. Denn es gilt der Satz: Wenn Übersetzung eine Form ist, so muß
Übersetzbarkeit gewissen Werken wesentlich sein.
Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich — das heißt nicht, ihre
Übersetzung ist wesentlich für sie selbst, sondern will besagen, daß eine
bestimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt, sich in ihrer
Übersetzbarkeit äußere. Daß eine Übersetzung niemals, so gut sie auch sei, etwas
für das Original zu bedeuten vermag, leuchtet ein. Dennoch steht sie mit diesem
kraft seiner Übersetzbarkeit im nächsten Zusammenhang. Ja, dieser Zusammenhang
ist um so inniger, als er für das Original selbst nichts mehr bedeutet. Er darf
ein natürlicher genannt werden und zwar genauer ein Zusammenhang des Lebens. So
wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne
ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht
aus seinem Leben so sehr denn aus seinem ›Überleben‹. Ist doch die Übersetzung
später als das Original und bezeichnet sich doch bei den bedeutenden Werken,
die da ihre erwählten Übersetzer niemals im Zeitalter ihrer Entstehung finden,
das Stadium ihres Fortlebens. In völlig unmetaphorischer Sachlichkeit ist der
Gedanke vom Leben und Fortleben der Kunstwerke zu erfassen. Daß man nicht der
organischen Leiblichkeit allein Leben zusprechen dürfe, ist selbst in Zeiten
des befangensten Denkens vermutet worden. Aber nicht darum kann es sich handeln,
unter dem schwachen Szepter der Seele dessen Herrschaft auszudehnen, wie es
Fechner versuchte; geschweige daß Leben aus den noch weniger maßgeblichen
Momenten des Animalischen definiert werden könnte, wie aus Empfindung, die es
nur gelegentlich kennzeichnen kann. Vielmehr nur wenn allem demjenigen, wovon
es Geschichte gibt und was nicht allein ihr Schauplatz ist, Leben zuerkannt
wird, kommt dessen Begriff zu seinem Recht. Denn von der Geschichte, nicht von
der Natur aus, geschweige von so schwankender wie Empfindung und Seele, ist
zuletzt der Umkreis des Lebens zu bestimmen. Daher entsteht dem Philosophen die
Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem umfassenderen der Geschichte zu
verstehen. Und ist nicht wenigstens das Fortleben der Werke unvergleichlich
viel leichter zu erkennen als dasjenige der Geschöpfe? Die Geschichte der
großen Kunstwerke kennt ihre Deszendenz aus den Quellen, ihre Gestaltung im
Zeitalter des Künstlers und die Periode ihres grundsätzlich ewigen Fortlebens
bei den nachfolgenden Generationen. Dieses letzte heißt, wo es zutage tritt,
Ruhm. Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im
Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat. Sie dienen daher
nicht sowohl diesem, wie schlechte Übersetzer es für ihre Arbeit zu
beanspruchen pflegen, als daß sie ihm ihr Dasein verdanken. In ihnen erreicht
das Leben des Originals seine stets erneute späteste und umfassendste
Entfaltung.
Diese Entfaltung ist als die eines eigentümlichen und hohen Lebens durch eine
eigentümliche und hohe Zweckmäßigkeit bestimmt. Leben und Zweckmäßigkeit — ihr
scheinbar handgreiflicher und doch fast der Erkenntnis sich entziehender
Zusammenhang erschließt sich nur, wo jener Zweck, auf den alle einzelnen
Zweckmäßigkeiten des Lebens hinwirken, nicht wiederum in dessen eigener Sphäre,
sondern in einer höheren gesucht wird. Alle zweckmäßigen Lebenserscheinungen
wie ihre Zweckmäßigkeit überhaupt sind letzten Endes zweckmäßig nicht für das
Leben, sondern für den Ausdruck seines Wesens, für die Darstellung seiner
Bedeutung. So ist die Übersetzung zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des
innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander. Sie kann dieses verborgene
Verhältnis selbst unmöglich offenbaren, unmöglich herstellen; aber darstellen,
indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht, kann sie es. Und zwar ist
diese Darstellung eines Bedeuteten durch den Versuch, den Keim seiner
Herstellung ein ganz eigentümlicher Darstellungsmodus, wie er im Bereich des
nicht sprachlichen Lebens kaum angetroffen werden mag. Denn dieses kennt in
Analogien und Zeichen andere Typen der Hindeutung, als die intensive, d. h.
vorgreifende, andeutende Verwirklichung. — Jenes gedachte, innerste Verhältnis
der Sprachen ist aber das einer eigentümlichen Konvergenz. Es besteht darin,
daß die Sprachen einander nicht fremd, sondern a priori und von allen
historischen Beziehungen abgesehen einander in dem verwandt sind, was sie sagen
wollen.
Mit diesem Erklärungsversuch scheint allerdings die Betrachtung auf
vergeblichen Umwegen wieder in die herkömmliche Theorie der Übersetzung
einzumünden. Wenn in den Übersetzungen die Verwandtschaft der Sprachen sich zu
bewähren hat, wie könnte sie das anders als indem jene Form und Sinn des
Originals möglichst genau übermitteln? Über den Begriff dieser Genauigkeit
wüßte sich jene Theorie freilich nicht zu fassen, könnte also zuletzt doch
keine Rechenschaft von dem geben, was an Übersetzungen wesentlich ist. In
Wahrheit aber bezeugt sich die Verwandtschaft der Sprachen in einer Übersetzung
weit tiefer und bestimmter als in der oberflächlichen und undefinierbaren
Ähnlichkeit zweier Dichtungen. Um das echte Verhältnis zwischen Original und
Übersetzung zu erfassen, ist eine Erwägung anzustellen, deren Absicht durchaus
den Gedankengängen analog ist, in denen die Erkenntniskritik die Unmöglichkeit
einer Abbildtheorie zu erweisen hat. Wird dort gezeigt, daß es in der
Erkenntnis keine Objektivität und sogar nicht einmal den Anspruch darauf geben
könnte, wenn sie in Abbildern des Wirklichen bestünde, so ist hier erweisbar,
daß keine Übersetzung möglich wäre, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem
letzten Wesen nach anstreben würde. Denn in seinem Fortleben, das so nicht
heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert
sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte. Was zur
Zeit eines Autors Tendenz seiner dichterischen Sprache gewesen sein mag, kann
später erledigt sein, immanente Tendenzen vermögen neu aus dem Geformten sich
zu erheben. Was damals jung, kann später abgebraucht, was damals gebräuchlich,
später archaisch klingen. Das Wesentliche solcher Wandlungen wie auch der
ebenso ständigen des Sinnes in der Subjektivität der Nachgeborenen statt im
eigensten Leben der Sprache und ihrer Werke zu suchen, hieße — zugestanden
selbst den krudesten Psychologismus — Grund und Wesen einer Sache verwechseln,
strenger gesagt aber, einen der gewaltigsten und fruchtbarsten historischen
Prozesse aus Unkraft des Denkens leugnen. Und wollte man auch des Autors
letzten Federstrich zum Gnadenstoß des Werkes machen, es würde jene tote
Theorie der Übersetzung doch nicht retten. Denn wie Ton und Bedeutung der
großen Dichtungen mit den Jahrhunderten sich völlig wandeln, so wandelt sich
auch die Muttersprache des Übersetzers. Ja, während das Dichterwort in der
seinigen überdauert, ist auch die größte Übersetzung bestimmt in das Wachstum
ihrer Sprache ein-, in der erneuten unterzugehen. So weit ist sie entfernt, von
zwei erstorbenen Sprachen die taube Gleichung zu sein, daß gerade unter allen
Formen ihr als Eigenstes es zufällt, auf jene Nachreife des fremden Wortes, auf
die Wehen des eigenen zu merken.
Wenn in der Übersetzung die Verwandtschaft der Sprachen sich bekundet, so
geschieht es anders als durch die vage Ähnlichkeit von Nachbildung und
Original. Wie es denn überhaupt einleuchtet, daß Ähnlichkeit nicht notwendig
bei Verwandtschaft sich einfinden muß. Und auch insofern ist der Begriff der
letzten in diesem Zusammenhang mit seinem engern Gebrauch einstimmig, als er
durch Gleichheit der Abstammung in beiden Fällen nicht ausreichend definiert
werden kann, wiewohl freilich für die Bestimmung jenes engern Gebrauchs der
Abstammungsbegriff unentbehrlich bleiben wird. — Worin kann die Verwandtschaft
zweier Sprachen, abgesehen von einer historischen, gesucht werden? In der
Ähnlichkeit von Dichtungen jedenfalls ebensowenig wie in derjenigen ihrer
Worte. Vielmehr beruht alle überhistorische Verwandtschaft der Sprachen darin,
daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das
dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander
ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. Während nämlich alle
einzelnen Elemente, die Wörter, Sätze, Zusammenhänge von fremden Sprachen sich
ausschließen, ergänzen diese Sprachen sich in ihren Intentionen selbst. Dieses
Gesetz, eines der grundlegenden der Sprachphilosophie, genau zu fassen, ist in
der Intention vom Gemeinten die Art des Meinens zu unterscheiden. In »Brot« und
»pain« ist das Gemeinte zwar dasselbe, die Art, es zu meinen, dagegen nicht. In
der Art des Meinens nämlich liegt es, daß beide Worte dem Deutschen und
Franzosen je etwas Verschiedenes bedeuten, daß sie für beide nicht vertauschbar
sind, ja sich letzten Endes auszuschließen streben; am Gemeinten aber, daß sie,
absolut genommen, das Selbe und Identische bedeuten. Während dergestalt die Art
des Meinens in diesen beiden Wörtern einander widerstrebt, ergänzt sie sich in
den beiden Sprachen, denen sie entstammen. Und zwar ergänzt sich in ihnen die
Art des Meinens zum Gemeinten. Bei den einzelnen, den unergänzten Sprachen
nämlich ist ihr Gemeintes niemals in relativer Selbständigkeit anzutreffen, wie
bei den einzelnen Wörtern oder Sätzen, sondern vielmehr in stetem Wandel begriffen,
bis es aus der Harmonie all jener Arten des Meinens als die reine Sprache
herauszutreten vermag. So lange bleibt es in den Sprachen verborgen. Wenn aber
diese derart bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die
Übersetzung, welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben
der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die Probe auf jenes heilige
Wachstum der Sprachen zu machen: wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung
entfernt sei, wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag.
Damit ist allerdings zugestanden, daß alle Übersetzung nur eine irgendwie
vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.
Eine andere als zeitliche und vorläufige Lösung dieser Fremdheit, eine augenblickliche
und endgültige, bleibt den Menschen versagt oder ist jedenfalls unmittelbar
nicht anzustreben. Mittelbar aber ist es das Wachstum der Religionen, welches
in den Sprachen den verhüllten Samen einer höhern reift. Übersetzung also,
wiewohl sie auf Dauer ihrer Gebilde nicht Anspruch erheben kann und hierin
unähnlich der Kunst, verleugnet nicht ihre Richtung auf ein letztes,
endgültiges und entscheidendes Stadium aller Sprachfügung. In ihr wächst das
Original in einen gleichsam höheren und reineren Luftkreis der Sprache hinauf,
in welchem es freilich nicht auf die Dauer zu leben vermag, wie es ihn auch bei
weitem nicht in allen Teilen seiner Gestalt erreicht, auf den es aber dennoch
in einer wunderbar eindringlichen Weise wenigstens hindeutet als auf den
vorbestimmten, versagten Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen. Den
erreicht es nicht mit Stumpf und Stiel, aber in ihm steht dasjenige, was an
einer Übersetzung mehr ist als Mitteilung. Genauer läßt sich dieser wesenhafte
Kern als dasjenige bestimmen, was an ihr selbst nicht wiederum übersetzbar ist.
Mag man nämlich an Mitteilung aus ihr entnehmen, soviel man kann und dies
übersetzen, so bleibt dennoch dasjenige unberührbar zurück, worauf die Arbeit
des wahren Übersetzers sich richtete. Es ist nicht übertragbar wie das
Dichterwort des Originals, weil das Verhältnis des Gehalts zur Sprache völlig
verschieden ist in Original und Übersetzung. Bilden nämlich diese im ersten
eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung
ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten. Denn sie bedeutet eine
höhere Sprache als sie ist und bleibt dadurch ihrem eigenen Gehalt gegenüber
unangemessen, gewaltig und fremd. Diese Gebrochenheit verhindert jede
Übertragung, wie sie sie zugleich erübrigt. Denn jede Übersetzung eines Werkes
aus einem bestimmten Zeitpunkt der Sprachgeschichte repräsentiert hinsichtlich
einer bestimmten Seite seines Gehaltes diejenigen in allen übrigen Sprachen.
Übersetzung verpflanzt also das Original in einen wenigstens insofern —
ironisch — endgültigeren Sprachbereich, als es aus diesem durch keinerlei
Übertragung mehr zu versetzen ist, sondern in ihn nur immer von neuem und an
andern Teilen erhoben zu werden vermag. Nicht umsonst mag hier das Wort ›ironisch‹
an Gedankengänge der Romantiker erinnern. Diese haben vor andern Einsicht in
das Leben der Werke besessen, von welchem die Übersetzung eine höchste
Bezeugung ist. Freilich haben sie diese als solche kaum erkannt, vielmehr ihre
ganze Aufmerksamkeit der Kritik zugewendet, die ebenfalls ein wenn auch
geringeres Moment im Fortleben der Werke darstellt. Doch wenn auch ihre Theorie
auf Übersetzung kaum sich richten mochte, so ging doch ihr großes
Übersetzungswerk selbst mit einem Gefühl von dem Wesen und der Würde dieser
Form zusammen. Dieses Gefühl — darauf deutet alles hin — braucht nicht
notwendig im Dichter am stärksten zu sein; ja es hat in ihm als Dichter
vielleicht am wenigsten Raum. Nicht einmal die Geschichte legt das
konventionelle Vorurteil nahe, demzufolge die bedeutenden Übersetzer Dichter
und unbedeutende Dichter geringe Übersetzer wären. Eine Reihe der größeren wie
Luther, Voß, Schlegel sind als Übersetzer ungleich bedeutender denn als
Dichter, andere unter den größten, wie Hölderlin und George, nach dem ganzen
Umfang ihres Schaffens unter den Begriff des Dichters allein nicht zu fassen.
Zumal nicht als Übersetzer. Wie nämlich die Übersetzung eine eigene Form ist,
so läßt sich auch die Aufgabe des Übersetzers als eine eigene fassen und genau
von der des Dichters unterscheiden.
Sie besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird,
zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird. Hierin liegt
ein vom Dichtwerk durchaus unterscheidender Zug der Übersetzung, weil dessen
Intention niemals auf die Sprache als solche, ihre Totalität, geht, sondern
allein unmittelbar auf bestimmte sprachliche Gehaltszusammenhänge. Die
Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald
der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu
betreten ruft sie das Original hinein, an demjenigen einzigen Orte hinein, wo
jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache
zu geben vermag. Ihre Intention geht nicht allein auf etwas anderes als die der
Dichtung, nämlich auf eine Sprache im ganzen von einem einzelnen Kunstwerk in
einer fremden aus, sondern sie ist auch selbst eine andere: die des Dichters
ist naive, erste, anschauliche, die des Übersetzers abgeleitete, letzte,
ideenhafte Intention. Denn das große Motiv einer Integration der vielen
Sprachen zur einen wahren erfüllt seine Arbeit. Dies ist aber jene, in welcher
zwar die einzelnen Sätze, Dichtungen, Urteile sich nie verständigen — wie sie
denn auch auf Übersetzung angewiesen bleiben —, in welcher jedoch die Sprachen
selbst miteinander, ergänzt und versöhnt in der Art ihres Meinens,
übereinkommen. Wenn anders es aber eine Sprache der Wahrheit gibt, in welcher
die letzten Geheimnisse, um die alles Denken sich müht, spannungslos und selbst
schweigend aufbewahrt sind, so ist diese Sprache der Wahrheit — die wahre
Sprache. Und eben diese, in deren Ahnung und Beschreibung die einzige
Vollkommenheit liegt, welche der Philosoph sich erhoffen kann, sie ist intensiv
in den Übersetzungen verborgen. Es gibt keine Muse der Philosophie, es gibt
auch keine Muse der Übersetzung. Banausisch aber, wie sentimentale Artisten sie
wissen wollen, sind sie nicht. Denn es gibt ein philosophisches Ingenium,
dessen eigenstes die Sehnsucht nach jener Sprache ist, welche in der
Übersetzung sich bekundet. »Les langues imparfaites en cela que plusieurs,
manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais
tacite encore l'immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche
personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe
unique, elle-même matériellement la vérité.« Wenn, was in diesen Worten
Mallarmé gedenkt, dem Philosophen streng ermeßbar ist, so steht mit ihren
Keimen solcher Sprache die Übersetzung mitten zwischen Dichtung und der Lehre.
Ihr Werk steht an Ausprägung diesen nach, doch es prägt sich nicht weniger tief
ein in die Geschichte.
Erscheint die Aufgabe des Übersetzers in solchem Licht, so drohen die Wege
ihrer Lösung sich um so undurchdringlicher zu verfinstern. Ja, diese Aufgabe:
in der Übersetzung den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen, scheint
niemals lösbar, in keiner Lösung bestimmbar. Denn wird einer solchen nicht der
Boden entzogen, wenn die Wiedergabe des Sinnes aufhört, maßgebend zu sein? Und
nichts anderes ist ja — negativ gewendet — die Meinung alles Vorstehenden.
Treue und Freiheit — Freiheit der sinngemäßen Wiedergabe und in ihrem Dienst
Treue gegen das Wort — sind die althergebrachten Begriffe in jeder Diskussion
von Übersetzungen. Einer Theorie, die anderes in der Übersetzung sucht als
Sinnwiedergabe, scheinen sie nicht mehr dienen zu können. Zwar sieht ihre
herkömmliche Verwendung diese Begriffe stets in einem unauflöslichen Zwiespalt.
Denn was kann gerade die Treue für die Wiedergabe des Sinnes eigentlich
leisten? Treue in der Übersetzung des einzelnen Wortes kann fast nie den Sinn
voll wiedergeben, den es im Original hat. Denn dieser erschöpft sich nach
seiner dichterischen Bedeutung fürs Original nicht in dem Gemeinten, sondern
gewinnt diese gerade dadurch, wie das Gemeinte an die Art des Meinens in dem
bestimmten Worte gebunden ist. Man pflegt dies in der Formel auszudrücken, daß
die Worte einen Gefühlston mit sich führen. Gar die Wörtlichkeit hinsichtlich
der Syntax wirft jede Sinneswiedergabe vollends über den Haufen und droht
geradenwegs ins Unverständliche zu führen. Dem neunzehnten Jahrhundert standen
Hölderlins Sophokles-Übersetzungen als monströse Beispiele solcher Wörtlichkeit
vor Augen. Wie sehr endlich Treue in der Wiedergabe der Form die des Sinnes
erschwert, versteht sich von selbst. Demgemäß ist die Forderung der
Wörtlichkeit unableitbar aus dem Interesse der Erhaltung des Sinnes. Dieser
dient weit mehr — freilich der Dichtung und Sprache weit weniger — die
zuchtlose Freiheit schlechter Übersetzer. Notwendigerweise muß also jene
Forderung, deren Recht auf der Hand, deren Grund sehr verborgen liegt, aus
triftigeren Zusammenhängen verstanden werden. Wie nämlich Scherben eines Gefäßes,
um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu
folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß, anstatt dem Sinn des Originals
sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne
hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide
wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren
Sprache erkennbar zu machen. Eben darum muß sie von der Absicht, etwas
mitzuteilen, vom Sinn in sehr hohem Maße absehen und das Original ist ihr in
diesem nur insofern wesentlich, als es der Mühe und Ordnung des Mitzuteilenden
den Übersetzer und sein Werk schon enthoben hat. Auch im Bereiche der
Übersetzung gilt: en archê ên ho logos, im Anfang war das Wort. Dagegen kann,
ja muß dem Sinn gegenüber ihre Sprache sich gehen lassen, um nicht dessen
intentio als Wiedergabe, sondern als Harmonie, als Ergänzung zur Sprache, in
der diese sich mitteilt, ihre eigene Art der intentio ertönen zu lassen. Es ist
daher, vor allem im Zeitalter ihrer Entstehung, das höchste Lob einer
Übersetzung nicht, sich wie ein Original ihrer Sprache zu lesen. Vielmehr ist
eben das die Bedeutung der Treue, welche durch Wörtlichkeit verbürgt wird, daß
die große Sehnsucht nach Sprachergänzung aus dem Werke spreche. Die wahre
Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm
nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes
Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem
Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort,
nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer
vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.
Wenn Treue und Freiheit der Übersetzung seit jeher als widerstrebende Tendenzen
betrachtet wurden, so scheint auch diese tiefere Deutung der einen beide nicht
zu versöhnen, sondern im Gegenteil alles Recht der andern abzusprechen. Denn
worauf bezieht Freiheit sich, wenn nicht auf die Wiedergabe des Sinnes, die
aufhören soll, gesetzgebend zu heißen? Allein wenn der Sinn eines
Sprachgebildes identisch gesetzt werden darf mit dem seiner Mitteilung, so
bleibt ihm ganz nah und doch unendlich fern, unter ihm verborgen oder
deutlicher, durch ihn gebrochen oder machtvoller über alle Mitteilung hinaus
ein Letztes, Entscheidendes. Es bleibt in aller Sprache und ihren Gebilden
außer dem Mitteilbaren ein Nicht-Mitteilbares, ein, je nach dem Zusammenhang,
in dem es angetroffen wird, Symbolisierendes oder Symbolisiertes. Symbolisierendes
nur, in den endlichen Gebilden der Sprachen; Symbolisiertes aber im Werden der
Sprachen selbst. Und was im Werden der Sprachen sich darzustellen, ja
herzustellen sucht, das ist jener Kern der reinen Sprache selbst. Wenn aber
dieser, ob verborgen oder fragmentarisch, dennoch gegenwärtig im Leben als das
Symbolisierte selbst ist, so wohnt er nur symbolisierend in den Gebilden. Ist
jene letzte Wesenheit, die da die reine Sprache selbst ist, in den Sprachen nur
an Sprachliches und dessen Wandlungen gebunden, so ist sie in den Gebilden
behaftet mit dem schweren und fremden Sinn. Von diesem sie zu entbinden, das
Symbolisierende zum Symbolisierten selbst zu machen, die reine Sprache
gestaltet der Sprachbewegung zurückzugewinnen, ist das gewaltige und einzige Vermögen
der Übersetzung. In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und nichts
mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen
Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn und alle
Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind. Und eben aus
ihr bestätigt sich die Freiheit der Übersetzung zu einem neuen und höhern
Rechte. Nicht aus dem Sinn der Mitteilung, von welchem zu emanzipieren gerade
die Aufgabe der Treue ist, hat sie ihren Bestand. Freiheit vielmehr bewährt
sich um der reinen Sprache willen an der eigenen. Jene reine Sprache, die in
fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der
Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers. Um ihretwillen bricht
er morsche Schranken der eigenen Sprache: Luther, Voß, Hölderlin, George haben
die Grenzen des Deutschen erweitert. — Was hiernach für das Verhältnis von
Übersetzung und Original an Bedeutung dem Sinn verbleibt, läßt sich in einem
Vergleich fassen. Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte
berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz
vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so
berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des
Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der
Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen. Die wahre Bedeutung dieser
Freiheit hat, ohne sie doch zu nennen noch zu begründen, Rudolf Pannwitz in
Ausführungen gekennzeichnet, die sich in der »krisis der europäischen kultur«
finden und die neben Goethes Sätzen in den Noten zum »Divan« leicht das Beste
sein dürften, was in Deutschland zur Theorie der Übersetzung veröffentlicht
wurde. Dort heißt es: »unsere Übertragungen auch die besten gehn von einem
falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische
verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen
verenglischen, sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen
sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks ... der grundsätzliche
irrtum des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eignen spräche
festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen, er
muss zumal wenn er aus einer sehr fernen spräche überträgt auf die letzten
demente der sprache selbst wo wort bild ton in eines geht zurück dringen er
muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen
begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich
verwandeln kann sprache von sprache fast nur wie mundart von mundart sich
unterscheidet dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht sondern gerade wenn
man sie schwer genug nimmt.«
Wie weit eine Übersetzung dem Wesen dieser Form zu entsprechen vermag, wird
objektiv durch die Übersetzbarkeit des Originals bestimmt. Je weniger Wert und
Würde seine Sprache hat, je mehr es Mitteilung ist, desto weniger ist für die
Übersetzung dabei zu gewinnen, bis das völlige Übergewicht jenes Sinnes, weit
entfernt, der Hebel einer formvollen Übersetzung zu sein, diese vereitelt. Je
höher ein Werk geartet ist, desto mehr bleibt es selbst in flüchtigster
Berührung seines Sinnes noch übersetzbar. Dies gilt selbstverständlich nur von
Originalen. Übersetzungen dagegen erweisen sich unübersetzbar nicht wegen der
Schwere, sondern wegen der allzu großen Flüchtigkeit, mit welcher der Sinn an
ihnen haftet. Hierfür wie in jeder andern wesentlichen Hinsicht stellen sich
Hölderlins Übertragungen, besonders die der beiden Sophokleischen Tragödien,
bestätigend dar. In ihnen ist die Harmonie der Sprachen so tief, daß der Sinn
nur noch wie eine Äolsharfe vom Winde von der Sprache berührt wird. Hölderlins
Übersetzungen sind Urbilder ihrer Form; sie verhalten sich auch zu den
vollkommensten Übertragungen ihrer Texte als das Urbild zum Vorbild, wie es der
Vergleich der Hölderlinschen und Borchardtschen Übersetzung der dritten
pythischen Ode von Pindar zeigt. Eben darum wohnt in ihnen vor andern die
ungeheure und ursprüngliche Gefahr aller Übersetzung: daß die Tore einer so
erweiterten und durchwalteten Sprache zufallen und den Übersetzer ins Schweigen
schließen. Die Sophokles-Übersetzungen waren Hölderlins letztes Werk. In ihnen
stürzt der Sinn von Abgrund zu Abgrund, bis er droht in bodenlosen Sprachtiefen
sich zu verlieren. Aber es gibt ein Halten. Es gewährt es jedoch kein Text
außer dem heiligen, in dem der Sinn aufgehört hat, die Wasserscheide für die
strömende Sprache und die strömende Offenbarung zu sein. Wo der Text
unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren
Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin.
Nicht mehr freilich um seinet-, sondern allein um der Sprachen willen. Ihm
gegenüber ist so grenzenloses Vertrauen von der Übersetzung gefordert, daß
spannungslos wie in jenem Sprache und Offenbarung so in dieser Wörtlichkeit und
Freiheit in Gestalt der Interlinearversion sich vereinigen müssen. Denn in
irgendeinem Grade enthalten alle großen Schriften, im höchsten aber die
heiligen, zwischen den Zeilen ihre virtuelle Übersetzung. Die
Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller
Übersetzung.