Vladimir Koljazin: Gleichnis in allen Sprachen
Montags=Text
Vladimir Koljazin
GLEICHNIS IN ALLEN SPRACHEN
ПРИТЧА ВО ВСЕХ ЯЗЫЦЕХ
(Poetische Erwiderung auf ein
den Lebensmut anregen wollendes Schreiben Kathinka Dittrichs, der ersten
Leiterin des Goethe-Instituts in Moskau und späteren Kulturdezernentin
der
Stadt Köln)
30.03.- 10.04.2022
Übertragung aus dem Russischen:
Wolfgang Schiffer mit Hilfe von Katharina Thiwald und Kathinka Dittrich
Nicht zu sprechen ist wie nicht
zu atmen.
Не говорить это все равно что не дышать
Nicht zu denken ist wie sich
nicht zu rühren.
Не шевелить мозгами это все равно что не
шевелиться
Die Zunge zu verschlingen ist wie
sich selbst in den Kerker zu sperren und sich selbst auszupeitschen wie die
Witwe eines Unteroffiziers.
Проглотить язык
это значит посадить самого себя в каталажку и высечь себя как унтерофицерская
вдова
Zu verbieten, die Wahrheit zu sagen, ist wie alle zehn Gebote Gottes zu
missachten und sich an seiner Macht zu
vergreifen.
Запретить говорить
правду это все равно что презреть все девять заповедей Бога и покуситься на его
власть
Die Wahrheit nicht wissen zu
wollen heißt, die Blindheit zu genießen.
Не желать знать правду это значит
наслаждаться слепотой
Die Wahrheit zu fürchten ist wie
den trockenen Bach zu fürchten.
Бояться правды это все равно что пугаться
сухого ручья
Nicht die Wahrheit zu sagen ist
wie die Liebe nicht zu kennen.
Не говорить правду это все равно что любви
не ведать
Liebe nicht zu
kennen ist wie tot geboren zu sein.
Не ведать любви это все равно что заживо
не родиться
Die Vernunft nicht zu kennen ist
wie ewig zu kriechen.
Не познать ума это все равно что вечно
пресмыкаться
Sich dem Dummkopf zu unterwerfen,
ist wie auf einem Esel zu reiten, sich dem Tyrannen zu unterwerfen, ist wie
selbst zum Esel zu werden.
Подчиниться глупцу все равно что
проехаться на осле подчиниться тирану все равно что самому стать ослом
Mit einem Volk zu leben, das sich
einem Tyrannen fügt, ist wie Tag für Tag sein Leben in den Müll zu werfen und
sich damit zu trösten, dass man saubere Wäsche trägt.
Жить вместе с народом покорившемся тирану
это все равно что день за днем выплескивать свою жизнь на помойку и утешать
себя тем что носишь чистое белье
Sich nicht vom
Sinn des Lebens loszusagen, heißt, die Sonne zu sehen, aber keine Angst zu
haben, die Wolke zu verjagen, wenn sie die Sonne verdeckt.
Не отказываться от смысла жизни это значит
видеть солнце но не бояться сказать туче вон когда c солнце зашло в тень
Nicht die Sonne zu sehen ist wie
Gott nicht zu kennen.
Не видеть солнца это все равно что не
знать Бога
Gib mir einen Punkt, wo ich
hintreten kann, und ich hebe die Erde aus den Angeln, sagte Archimedes. Gib mir
einen einzigen Fernsehkanal und ich stülpe alles um in deinem Kopf, sagte unser
Steuermann.
Дайте мне точку опоры и я переверну Землю!
Сказал Архимед Дайте мне один единственный телеканал и переверну все в вашей
голове верх дном! сказал кормчий
Mit der Paranoia zu kämpfen, ist
sinnlos, man muss die Tür schließen und die Ohren verstopfen, um selbst nicht
zum Paranoiker zu werden.
Бороться с паранойей бессмысленно
необходимо закрыть дверь и заткнуть уши чтобы самому не стать параноиком
Unsere basalen Instinkte
schlummern, bis sie von Reptilien geweckt werden.
Наши базовые инстинкты спят пока их не
разбудят рептилии
„Umarmen
wir uns, aber stochern wir nicht in deiner Wunde“, das heißt, einen echten
Freund zu haben, Besitzer eines Heliostats, der Sonnenstrahlen bündelt an dem Ende der Welt,
wo es diesen Widersacher nicht gibt.
«Обнимемся но не будем
глубже теребить твою рану» это значит иметь настоящего друга владельца гелиостата
собирающего солнечные лучи в пучок на том конце
земли где нету этого супостата
Nicht den Schmerz des Nächsten zu
erkennen ist wie ein lebendiger Leichnam zu sein.
Не ведать боли ближнего значит быть живым
трупом
Schmerz zu kennen, bedeutet in
Russland, ein Herz zu haben, aber nicht den Willen und die Kraft, dem zu
widerstehen, der ihn verursacht.
Ведать боль в России это значит иметь
сердце но не иметь воли и рук чтобы сопротивляться
ее причинившему
"Das Herz liebt es nicht, die Liebe mit jemandem zu teilen", sagte der ukrainische Dichter.
"Auch wenn du es nicht magst, auch wenn du es nicht magst, ertrage es, ertrage es, meine
Schöne", sagte der russische Macho.
«Не так любит сердце, чтобы с кем-то
делиться», сказал украинский поэт
- «Не
нравится, не нравится, терпи, терпи, моя красавица!», сказал русский мачо
Butscha zu ignorieren, heißt, den
Abgrund zu negieren.
Не ведать Бучи – не падать с кручи
Euer Krieg ist nicht unser Krieg.
Ваша война – это не наша война
Hyänen des Krieges, stopp! Heult
über den Krieg und legt so die Keime für Frieden.
Гиены войны – остановитесь! войте на войну и станете генами мира
Den Krieg mit den Verehrern des
Westens zum Ziel des Lebens zu machen, heißt, das Fenster nach Europa zu
schließen, das Zar Peter der Erste weit aufgemacht hat.
Сделать войну с западопочитанием целью
жизни -
яко затворить окно в Европу которое настежь распахнул Петр первый
Zu sagen, dass unser Krieg mit Ukraine
ein Kulturkrieg sei, heißt, den Tod der russischen Kultur zu säen.
Говорить что наша война с Украиной –
культурная война яко сеять русской культуре смерть.
Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. – Uns das Wort zu
stehlen, heißt, uns Gott zu stehlen. Aber Gott gibt das Wort immer zurück und
bestimmt die Strafe für den Diebstahl.
В начале было слово И слово было у Бога и
слово было Бог - Украсть у нас Слово
означало украсть у нас Бога Но Бог
всегда возвращает Слово и назначает кару за похищение
Vladimir Koljazin, geb. 1945 nahe Neshin in der
Ukraine, seit dem Armeedienst 1968 in Moskau lebend, ist ein russischer
Theaterhistoriker, Germanist, Übersetzer und Lyriker. Er absolvierte 1972 das
Staatliche Institut für Theaterkunst, später und bis heute arbeitet er als wissenschaftlicher
Mitarbeiter (Dr.h.c.) des Staatlichen Instituts für Kunstwissenschaft. Er
übersetzte u.a. Arthur Schnitzler, Martin Sperr, R.W. Fassbinder, Peter Handke,
Botho Strauss, Heiner Müller und Elfriede Jelinek ins Russische. Von ihm
erschienen in Russland u.a.: » Monografien über deutsch-russische
Theaterbeziehungen« (1998, 2. erw. Auflage 2013); »Mysterium und Karneval«
(2002); » Peter Stein: Schicksal eines Theaters« (2012), Hrsg. und Co-Autor
»Erwin Piscator« (2022). Poetische Lesungen in Moskau, Berlin, Wien. Vladimir Koljazin lebt in Moskau.
Zu Teil 2 des Gleichnis-Triptychons »