Veronica Forrest-Thomson: Sternzeichen Schütze
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Kristian Kühn
Veronica Forrest-Thomson: Sternzeichen Schütze.
Gedichte, ausgewählt und aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort
von Norbert Lange. Berlin, Schupfart (roughbook 060) 2023. 172 Seiten. 15,00
Euro.
Projektionsflächen
Veronica Forrest-Thomson – am 28. November 1947
geboren, also Schützin – wurde als Tochter eines schottischen
Kautschukplantagenbesitzers in Malaysia geboren, in Glasgow erzogen, studierte
Literatur in Liverpool und Cambridge, wo ihr Doktorvater der legendäre J.H.
Prynne war. Einige nennen sie Dichterin und Essayistin der kritischen Theorie. Denn
ihre Studie zur zeitgemäßen Literaturtheorie, an der sie bis zu ihrem frühen
Tod 1975 arbeitete, (Poetic Artifice: A Theory of Twentieth Century Poetry) versucht,
„alternative sprachliche Ordnungen als neue Sichtweise auf die Welt zu
betrachten“ und wurde 2016 wieder aufgelegt. Im Alter von 27 Jahren verstarb
sie jedoch im Schlaf früh an einer Überdosis verschriebener Medikamente und
Alkohol.
„Sternzeichen Schütze“ heißt nun der Band mit
ausgewählten Gedichten aus ihrer Feder und gleich das erste Gedicht in ihm ist
das namengebende:
„Das sich selbst gesteckte Set an Fragenbiegt den Sachverhaltim Ganzen auch nicht gerade.Aspekte klemmen.“(S. 3)
Und mehr zum Ende dieses Gedichts hin, lesen wir:
„Der Geist, ein praller Abszess,braucht einen Schnitt; womit– liegt nicht paratdie Schneide zum Sägensinnloser Scheiben Persönlichkeit.“(S. 5)
Immer wieder sucht ihr kritischer Blick die Maske, die
Phrase, den Schwindel. Doch in den Spiegel schauend bleibt sie – dies wissend –
auch hängen, verfängt sich. Deshalb ist eines ihrer Themen das „Phantom-Bild“,
das abgefangen wird und verschleiert:
„Ähnlichkeit verlangt wird nicht,solange der Eindruck stimmt.Filtre, was Zweifel weckt, sich wehrt,damit das Bild Kontur gewinnt.“(S. 7)
Dieses wahre Bild sucht sie auch „Hinter den Spiegeln“,
stets in doppelter Richtung, um ihre Identität kämpfend:
„Spieglein,
Spieglein an der Wand,
mach nacheinander mir bekannt
all meine Masken, dass ich schau,
welcher ich mich anvertrau.“
(S. 13)
Das entbehrt natürlich, bei aller Intellektualität
ihrer Gedichte, nicht einer kräftigen Portion englischer Ironie:
„[…] The
art of Englisch Poesie?
„Such synne is called yronye““
(S. 56)
Doch wendet sie sich dabei nicht nur an die alte Form von Romantik, sondern auch an jene, die in den Sprachspielen von Joyce und Wittgenstein liegt.
Die archaisch klingende Phrase, dass auch Ironie eine Sünde sei, findet sich in einem anonymen Buch mit dem Titel: „The Ordynarye of Crystyanyte or of Crysten Men“ von 1503 wieder, das die zurechtweist, welche aus Schwäche sich in Demut anbiedern wollen, um ihre Reputation zu wahren, und dabei die Gefahr, unentschieden zwischen zwei Standpunkten zu stehen, herunterspielen.
Dieses Dilemma, kritisch zu sein und zugleich das Archetypische zu suchen, beschäftigt Forrest-Thomson in manchen Gedichten, etwa in „Cordelia, oder: Ein Gedicht soll nicht besagen, sondern sein“ (S. 137 ff.):
„Nicht ohne Schwingen, will ich, dass es klare Worte gibt …“
Und ebenso am Ende dieses Gedichts:
„Lest in der Ilias nach, lest es in der OdysseeLest es nicht bei Freud, der immer daneben liegtWobei, selbst Freud hat keinen Sohn wie Lacan verdient.Vor allen Dingen aber lest mich, die GeliebteDie getötet wurde im allgemeinen Schlachtgetümmel.“(S. 147)
Die doppelte Frau, archetypisch und kritisch, sieht diese Polarität in sich als substanziell an. Und die von Norbert Lange bei roughbooks vorgelegte Gedichtauswahl endet denn auch mit der Erkenntnis, sie könne beim Schreiben:
„auf keine Antwort warten.“
(S. 159)
Stattdessen finden sich in dem Band zwei Annäherungen an große Mythen, die Forrest-Thomson auf ihre Weise angeht.
„Die Lady von Shalott“, ursprünglich eine vierteilige Ballade von Alfred Tennyson über Elaine, eine Figur aus dem Artuskomplex, die – durch einen Zauber gefangen – allein auf einer Insel lebt, die inmitten eines Flusses liegt, der nach Camelot führt. Schnitter, die auf dem nahen Feld arbeiten, berichten von ihren Gesängen. Sie verwebt ihre Gesichte, deren Bilder sie aus einem Spiegel empfängt, zu einem endlosen Teppich, so wie einst Penelope ihr Brautkleid, das sie – auf ihren Gemahl Odysseus wartend – vor den Freiern tagsüber weben musste, aber nachts wieder auflöste. So darf Elaine nicht aus dem Fenster schauen, sieht aber im Spiegel den Ritter Lancelot und folgt ihm in einem Kahn, der Spiegel zerbricht, was den ihr auferlegten Fluch auslöst. Und so stirbt die Liebende schließlich ausgezehrt im Schutze des Ritters auf Camelot. In den viktorianischen Zeiten war diese Legende ein häufig dargestelltes Narrativ. 1888 hat John William Waterhouse im Stil der Präraffaeliten einen Bilderzyklus dazu gemalt.
Der Text von Forrest-Thomson, Ode genannt, ist eine lose Reflektion über Mythologeme des Alltags, eher wie Roland Barthes, deutet die Lügen im Angebot, vom Häusermakler, über das Haus, in dem es keine Spuren von Glück gibt, zum Wasserhahn, aus dem statt Wasser Sand fließt. Doch auch der Kühlschrank ist kaputt, die Telefonleitung defekt. Und die Lady kniet nieder: „In Parodie ein Bittgebet.“
„Uns da Erkenntnis vorstellen als Licht?Es reicht schon, sie zu sehen.Und sie gesehen, ist die Botschaft bekanntFür jeden, der auf Wissen sinnt(Sind nur wenige):Schnell, zurück ins Dunkel gerannt;Wir haben im Schnee gesehen das Kind.“(S. 121)
Das andere Gedicht, das ich hier noch kurz aufgreifen will, weil es einen alten orphischen Mythos vollkommen verdreht und doch zugleich in kryptischer Form bei ihm ist, handelt von der jungen Persephone in „Proserpinas Garten“ (S. 123 ff.) Der orphische Mythos spricht von Zeus, der nicht an sich halten kann und zu seiner jungen Tochter, Kore, dem Mädchen, in Gestalt einer Schlange kriecht und sie vergewaltigt. Sie wird den Zagreus gebären, der eines Tages Zeus nachfolgen soll, zuvor aber von den Titanen zerrissen, gekocht und verspeist wird. Bis auf das Herz des Kindes, es wird von Athena gefunden und an Zeus übergeben, derweil er die Titanen mit Blitz und Donner vernichtet. Aus dem geretteten Herzen wird die Göttin Semele ihm Dionysos gebären, aus dem Staub der vernichteten Titanen werden die Menschen entstehen, die – dem Mythos gemäß – einen göttlichen Teil durch den titanischen Verzehr in sich tragen. Forrest-Thomson mischt dieses orphische Narrativ mit dem offiziellen homerischen Mythos, der die junge Persephone mit anderen Mädchen auf der Wiese Blumen pflücken lässt, derweil der Unterweltgott sie – wie mit Zeus vereinbart – in den Hades zieht und zu seiner Gemahlin macht.
Die lyrische Stimme bei Forrest-Thomson bittet derweil ihrerseits die Aphrodite, nach-zuhelfen und ihr den Liebesgürtel zu leihen. „Du kannst doch eine Stunde auf ihn warten,/ Bis Zeus zurückgefunden hat zu seiner Erektion.“
„Ich lieg allein. Bin müde, müde,
Ich wollt‘ ich wäre tot.“
Und sie reflektiert, sei die Liebe auch die Hölle:
„Nie wirkt der Tod bei Dichtern als besonders aufschlussreiches Thema,Doch hindert er sie nicht, sich lang und breit darüber auszulassen.Nur, dass sie über alles sich auslassen würden.Die Liebe aber, abgedroschen kann sie sein, bleibt spannend,Auf jeden Fall für die in ihren KlauenUnd üblicherweise auch für ihre Leser.“(S. 123 f.)
In seinem luziden Nachwort schreibt der Übersetzer Norbert Lange dazu über ein fast kindlich suchendes Ich, das nie Herr im eigenen Haus ist:
„Stattdessen ist es auf eine ausgelagerte Instanz angewiesen, eine Spiegel-Imago, deren emphatische Anrufung die triumphale Setzung eines Ideal-Ichs garantieren soll, dessen Einheit und Dauerhaftigkeit, dessen Präsenz und Omnipotenz das Ich auf eigenem Weg nicht herstellen könnte.“
Deshalb dürfe ihre Liebessuche nicht überbewertet werden:
„Keines ihrer Gedichte lässt sich ohne weiteres als Wiedergabe eines Gefühls oder einer Erfahrung auffassen.“
Zwar würden, wie Lange schließt, die Gedichte in ihrer Zusammensetzung Projektionsflächen bilden, und zwar einer außerhalb der Sprache verorteten Welt. Diese außerhalb des Gedichts verorteten Narrative kommen dabei von anderen Gedichten und anderen Einflüssen auf ihre Texte. Dies sei ihr poetischer Kunstgriff. Deshalb spricht die Wissenschaft bei ihr auch von Linguistically Investigative Poetics.
Eine für Deutschland große Entdeckung!