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Ulrich Schäfer-Newiger: W. G. Sebald. Austerlitz. Ich.

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Ulrich Schäfer-Newiger


W. G. Sebald. Austerlitz. Ich.



Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen,
nicht ahnend,
daß der kalte Planet Saturn die Konstellation
der Stunde regierte und daß über den Bergen
schon das Unwetter stand, das bald darauf
die Bittgänger zersprengte und einen
der vier Baldachinträger erschlug. …


Nach der Natur, Die dunckle Nacht fahrt aus.



I.


Anno 2007 im März habe ich ohne erinnerten Anlass in einem Münchner Buchladen, von dem ich nicht einmal mehr weiß, welcher es war, ein Buch gekauft. Ich nahm es von einem entlegeneren Bücherstapel und bezahlte es an der Kasse, ohne überhaupt hineingesehen zu haben, sodass ich keinerlei Kenntnis hatte von dem mir sonst immer wichtigen ersten Satz, noch von den in den Text hinein verstreuten schwarz-weißen Fotos. Der Name des Autors, den ich irgendwo schon einmal gehört hatte, den Zusammenhang aber hatte ich vergessen, sagte mir nichts und was er schrieb, davon hatte ich keinerlei Vorstellung. Auch der Titel „Die Ringe des Saturn“ ließ mich an nichts denken.

    Selten ist es indessen nicht, dass ich Bücher ohne jegliche Kenntnis des Autors oder des Inhaltes kaufe. Geleitet bin ich dabei von einer mir bis heute unbekannt gebliebenen und unbegreiflichen Intuition oder Macht oder Fügung. Zum Beispiel bin ich auf diese irrationale Weise zuletzt gestoßen auf die wunderbar herbe Lyrikerin Kathrin Schmidt, oder zuvor auch auf Anna Achmatova. Auf das Werk des genialisch-absonderlichen Hanns Henny Jahnn – dem ich zeitweilig regelrecht verfallen gewesen bin – bin ich überhaupt nur aufmerksam geworden, weil eine Tante von mir vor Jahrzehnten im Hans-Henny-Jahnn-Weg in Hamburg gewohnt hat.

    ‚Die Ringe des Saturn‘ des mir bis dahin unbekannt gewesenen W. G. Sebald habe ich in einem Stück gelesen, unterbrochen nur durch die tägliche Erwerbsarbeit, Essen und Schlafen. Schon auf der ersten Seite bin ich ergriffen worden von einer zunächst kaum merklichen, dann immer stärker werdenden Kraft, oder besser von einem Sog. Denn ich fühlte mich immer tiefer hinein- und hinabgezogen in ein mir bis dahin unbekanntes gedankliches Sprachenland, in einen mir bis dahin unbewusst gewesenen, tatsächlich in meinem Innersten aber längst zerstörerisch wirkenden Gefühls- und Geisteszustand, in eine fahle, grau englische, verfallende Landschaft. Erst allmählich habe ich einen Begriff davon bekommen, wodurch dieser (nämlich mein Gefühls- und Geisteszustand) im Text Sebalds ihren idealen Ausdruck gefunden hat: Durch den traurig-altertümelnden, gehobenen, alltagsfernen Sprachstil und durch die Manie, in jeder Veränderung  Verfall zu sehen und ihn in extenso lustvoll zu beschreiben und mit ihm die unwahrscheinlichsten und entferntesten persönlichen und geschichtlichen Ereignisse und Begebenheiten zu verknüpfen.

    Die Sprache Sebalds ist unmodern. Das macht sie ideal für einen zur Traurigkeit, zur Melancholie neigenden Leser, fühlt der doch im Lesen durch die Vergegenwärtigung ungebräuchlicher Wörter und Redewendungen einen weiteren Verlust, nämlich den einer früher mutmaßlich verwendeten Sprache und erhält dadurch eine Selbstbestätigung. Mit „unmodern“ sind Redewendungen und Wörter gemeint wie „mich dünkte“, „Fußreise“, „Anfechtung“, „Flughafengebäude“, „schandbare Unbeholfenheit“, „Schmerzensspuren“, „begann in mir eine undeutliche Besorgnis aufzuquellen“,  „mehrere Klafter tief,“ „das unvermutete Angerührtwerden“, „weil es sich nicht verlohnte“, „Der alte Mann, der wenig mehr als vier Fuß messen mochte“, oder: „Das Ausländische des Menschen in der Natur“ oder: „Vierundvierzigerjahr“ und so fort. Wie keinem sonst gelingt es Sebald, allein durch die Sprache Melancholie zu evozieren. Dieser sein Sprachstil aber schafft auch, und ich meine, Sebald beabsichtigt dies ausdrücklich, Distanz, Distanz zwischen Autor und Leser, zwischen einer Vergangenheit, die Sebald beschwört, welche er aber selbst nicht mehr hat kennenlernen können, und unserer Gegenwart, Distanz schließlich auch zwischen von Sebald aufgerufenen Figuren und Menschen. Nie gibt es in seinen Texten die direkte Rede.

    Befremdend, dadurch interessant und zugleich eigenartig spannend, wird der Sprachstil Sebalds durch die aus dem englischen Satzbau übernommene Eigenart, das Verb nach vorne zu ziehen. Zur Beurteilung dieser bei ihm zum Teil zur Manie werdenden und ihm vorgeworfenen angeblich falschen Handhabung des Deutschen (vor der sich der Autor dieser Zeilen erkennbar selbst nicht vollständig zu schützen weiß) sei aus dem Gedächtnis ein hervorragender Kenner der deutschen Sprache zitiert: „Und“, wurde Mark Twain nach seiner Deutschlandreise gefragte, „haben Sie auch Hegel auf Deutsch gelesen?“ Antwort: „Ja, viele Bände.“ „Und, was sagen Sie dazu?“ „Ich kann bislang nichts dazu sagen, denn ich warte immer noch auf das Verb.“  

    Mehr noch als diese sprachlichen Sonderheiten und Wendungen machten mich die mit dieser Sprache gezeichneten Bilder des Niedergangs und Verfalls süchtig. Das beginnt mit scheinbar so harmlosen Sätzen wie: „Unweit der Küste zwischen Southwold und der Ortschaft Walberswick führt eine schmale eiserne Brücke über den Blyth, auf dem vor Zeiten einmal schwere Wollschiffe seewärts gegangen sind. Heute gibt es so gut wie keinen Verkehr mehr auf dem weitgehend versandeten Fluss.“ Das schöne Niederziehen des Lesers wird fortgesetzt und verstärkt mit Beschreibungen wie: „Dunwich mit seinen Türmen und vielen tausend Seelen ist aufgelöst in Wasser, Sand und Kies und dünne Luft. Wenn man vom dem Grasplatz über dem Meer hinausblickt in die Richtung, wo die Stadt einst gewesen sein muß, dann spürt man den gewaltigen Sog der Leere.“

    Solche Sätze nahm ich auf in mich wie ein Schwamm, ohne zunächst auch nur zu ahnen, warum. Nahezu in jedem Ort des vom Autor durchwanderten englischen Landstriches findet er solche gedanklichen Verbindungen und Spuren der vergangenen und vergehenden Vergangenheit, seien es (um nur drei Beispiele zu nennen) Hinweise auf Josef Conrad, der in einem dieser Orte seinen Fuß erstmals auf englischen Boden setzte, oder im Zusammenhang mit ihm auf Roger Casement, der bekanntlich gehenkt wurde im Londoner Tower im Jahre 1916 wegen Hochverrats; seien es Hinweise auf und Beschreibungen der schier unerschöpflichen Heringsernte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, von der nunmehr nur noch ein kläglicher Rest oder nichts mehr übrig geblieben ist. Keinem aber ist auch eine schwarzgalligere Beschreibung der Allgäuer Berggegend wider die übliche Postkartenidylle gelungen mit Sätzen wie: „Eine dunkle, ins Schwarzfarbene übergehende Wolkendecke lag über dem ganzen Tannheimer Tal, das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte.“

    Sebald versucht, seine Berichte aus den von ihm durchwanderten oder durchfahrenen Landschaften mit eher undeutlichen und unscharfen Schwarzweiß-Bildern, gelegentlichen Zeichnungen und Skizzen z.B. diverser Festungsbauten gleichsam zu beglaubigen. Sie ergänzen den Text, der Leser nickt, ja, sagt er sich, da ist, über was geschrieben wird, abgebildet. Die Fotos scheinen allesamt älter zu sein, als sie sind. So gewinnt die Behauptung des Verfalls einerseits den Charakter des Dokumentarischen, des Glaubwürdigen. Anderseits – und das ist der tiefere Sinn der Verwendung dieses Mediums – rührt, schreibt Sebald, an fotografischen Bildern „das eigenartig jenseitige, das uns manchmal anweht aus ihnen. …. Und weil das Abbild noch fortdauerte, wenn das Abgebildete längst vergangen war, so lag auch die ungute Ahnung nicht fern, daß dem Abgebildeten, den Menschen und der Natur, ein geringerer Grad von Authentizität eigne als der Kopie, dass die Kopie das Original aushöhle, wie es auch heißt, daß einer, der seinem Doppelgänger begegnet, sich selber vernichtet fühlt.“ Die Verwendung der Fotografien soll gleichsam den „Schrecken der sukzessiven Derealisierung“ (Sebald) des Gelesenen oder des Geschauten vergegenwärtigen. Wir beginnen zu ahnen, wo die Wendung „zu Tode fotografiert“ ihren Anfang genommen hat.

    Die Enttäuschung über das Ende dieses – meine Gefühlslage auf eigenartige, mir zunächst selbst nicht klar werdende Weise unablässig bestätigenden – Buches wurde getröstet dadurch, dass ich, nachdem ich den letzten Satz gelesen hatte ( „…in Holland sei es zu seiner Zeit Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder Früchte der Felder zu sehen waren, mit seidenem Trauerflor zu verhängen, damit nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat“), ohne jegliche Unterbrechung mit dem Lesen fortfuhr, und zwar wieder mit dem ersten Satz des Buches: „Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluss einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können.“  Und so weiterlesend, fügte ich mich zum zweiten Mal hinein, um alles Gelesene noch einmal und wieder neu und noch intensiver zu durchleben.  

    Kurz nach Beginn der zweiten Runde der Lektüre erstand ich, um mir eine Vorstellung machen zu können von den traurigen, verfallenden Weilern, Dörfern und Städten Ostenglands, welche der Autor auf seiner Fußreise durchlaufen oder in denen er sich aufgehalten hatte, und wo ich noch nie gewesen war und seither auch nicht gewesen bin, eine Landkarte von der Gegend. Nicht hineingefahren in diese, während der Lektüre immer mythischer werdende Landschaft bin ich – sondern habe mir eine Landkarte gekauft. Denn sich eine Vorstellung von Orten und Gegenden zu machen, hat für mich immer schon von Kindesbeinen an bedeutet, sie auf Landkarten und Atlanten zu identifizieren. Dort fand ich, durch mehr oder weniger abstrakte Zeichen und Linien, welche Straßen, Ländergrenzen, Küstenzüge, Eisenbahnschienen, Höhenverläufe, Kanäle, Breiten- und Längengrade oder andere geographisch-topologische Wirklichkeiten repräsentierten, die Existenz der namentlich benannten Orte beglaubigt und als unwiderlegbar dokumentiert. Vielfach ist es aber bei dieser Art von abstrakter, risikoloser Überzeugungsbildung nicht geblieben, ich bin tatsächlich gereist, hingefahren, aber in keinem einzigen Fall habe ich die auf Landkarten und in den Atlanten von mir entdeckten Orte wirklich er–fahren. Ich erfuhr dort immer nur mich als mir selbst Fremden. Unterwegs, schreibt Sebald dazu noch, ergeht es mir „nicht selten wie dem Grillparzer. Wie er finde ich an nichts Gefallen, bin von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht und wäre, wie ich oft meine, viel besser mit meinen Landkarten und Fahrplänen zu Hause geblieben.

    Ich bin also zum Kauf einer möglichst genauen Karte des südöstlichen Englands in den Münchner „Geobuchladen“ gegangen. Dieser im Innersten Münchens gelegene Buchladen ist eigentlich, wenn ich mich recht besinne und ernsthaft einen Vergleich mit der Buchhandlung Lehmkuhl anstelle, der mir in München im wahrsten Sinne des Wortes liebste gewesen. Denn nur in ihm konnte und kann ich meine mich immer wieder heimsuchenden Tagträume vom Wegfahren, Reisen, Weglaufen, Fliegen, Schwimmen, von meinen auch mich selbst hinter mich lassenden, wunderbar gelingenden Fluchten verbinden mit meinen Nacht- und Alpträumen vom nicht Wegfahren, von verpassten Zügen, nicht rechtzeitig erreichten Schiffen, fehlenden Fahrkarten, von durch Erdrutsch verschütteten Autos, umgeleiteten S-Bahnen. Und nur dort kann ich, in diesem Geobuchladen, den Widerspruch zwischen Tag und Nacht, Wunsch und Angst in mir, in absonderlicher Vorstellung von mir, widerspruchslos zusammenfügen, ausleben ohne Konsequenzen, ohne Verantwortung für das weggehen-Wollen und zugleich hierbleiben-Müssen.

    In diesem „Geobuchladen“ habe ich einmal eine der außergewöhnlichsten Karten erstanden, erinnere ich mich, weil ich eine Kreuzfahrt im Nordmeer plante, die ich dann nicht angetreten habe aus Zeitgründen, was aber eine Ausrede war. Es war ein Werk, auf dem sowohl das nördliche England und die Orkney Inseln dargestellt waren, aber auch Island, die Insel Jan Mayen, Spitzbergen, die Inseln des Franz-Josefs-Landes (die mich zugleich an einen anderen Geistesverwandten Sebalds erinnerten, an Christof Ransmayr und seinen „Schrecken des Eises und der Finsternis“) sowie das nördliche Norwegen, aber auch Grönland, Nordkanada, Alaska, Nord-Sibirien und die Beringstraße. Diese Karte der amerikanischer Air-Force aus dem Jahre 1984‚ ‚Global Navigation and Planning Chart‘ genannt, hat in der Mitte den Nordpol – auf der Karte eine Stelle, auf der fast alle dargestellten Linien sich zu einem Punkt vereinigen. Stundenlang bin ich, über die ausgebreitete Karte gebeugt, auf diesem nördlichsten Teil des Planeten herumgereist und habe die vielen, teils entzifferbaren, teils unbekannten Sonderzeichen für die Luftnavigation und Berechnungshinweise für den vom geographischen Nordpol abweichenden magnetischen Nordpol und vor allem auch die Warnhinweise für Piloten, die sich auf sowjetisches Gebiet verirrten, studiert:


“WARNING
Aircraft infringing upon Non-Free
Flying Territory may be fired on
without warning”.


    Diese mehrmals sich wiederholenden, wortgleichen Hinweise könnten auch aus einem meiner Träume stammen, sagte ich mir, und immer wieder starrte ich auf diese Warnungen vor dem Eindringen in verbotene Territorien, als habe sie jemand für mich verfasst.

    Auch Jaques Austerlitz, von dem später noch die Rede sein wird, „saß bis in die Abende hinein über Nachschlagewerken und Atlanten. Nach und nach entstand so in [seinem] Kopf eine Art idealer Landschaft…“ Mir selbst ist ein wunderbar großer Atlas aus dem Jahre 1975 noch heute am liebsten, vermutlich, weil er Grenzen zeigt, die es nicht mehr gibt, und mehr noch, weil in ihm Grenzen fehlen, die heute existieren. Hier also schon in der damals fast insolventen Geobuchhandlung war die ideale Vorstellung in meinem Kopf von der Welt (ohne Menschen, muss ich heute sagen) – angeschwollen fast zu einer Krankheit des Geistes. Dass die Buchhandlung dann doch gerettet worden ist, erlaubt mir die Fortsetzung meiner Besuche dort und die Aufrechterhaltung eines gespaltenen Daseins, in dem ich von meiner Tageswirklichkeit absehe. Nur den Atlas nicht existierender Länder, den ich dort einmal fand, habe ich bisher nicht gewagt aufzuschlagen oder gar zu kaufen, aus Furcht darin nichts weiter zu entdecken als mich selbst.

    Als ich damals über Südostengland keine genauere Karte fand als eine im Maßstab 1:300.000 mit der Bezeichnung „England Süd, Wales, mit landschaftlich schönen Strecken und Sehenswürdigkeiten, Übersichtskarte zum Ausklappen, Entfernungstabelle, Ortsregister, Citypläne London, Cardiff“, griff ich zu. Doch war ich in Sorge, auf dieser Karte eines ‚Marco-Polo-Verlages‘ auch nur einen der Sebald‘schen Orte finden zu können. Denn schon in den Reiseberichten Marco Polos, so weiß der im Reisen wirklich beschlagene Sebald zu berichten, verdichtet sich die Wirklichkeit „ins Metaphysische und Mirakulöse und der Weg durch die Welt [wird] von vorneherein durchschritten … im Hinblick auf das eigene Ende.“ Insofern mag der Name des Kartenverlags ein Omen gewesen sein. Also las ich mit aufgeschlagener Karte den immer unheimlicher, fesselnder und trauriger werdenden Text Sebalds und fand darauf tatsächlich die Orte Hedenham, Bungay, Southwold, Walberswick, Dunwich, Middleton, Woodbridge, Orford, Single Street, Bawdsey. Nun wusste ich, wo sie lagen, war überzeugt, dass sie tatsächlich existieren. Denn bei Sebald kann man nicht sicher sein, was erfunden ist und was nicht. Eingebildet hatte ich mir eine Zeit lang, diese Orte bereisen und besehen zu müssen, bis ich erkannte, dass sie für mich für die Zukunft verloren waren. Denn sie sind geprägt vom sebaldischen Stempel, von seinem Prägestock des Verfalls und der Trauer. Und solange man sich an die Texte erinnert, werden diese Orte dem aufgedrängten Bild des Verfalls nicht mehr entkommen.

    Doch habe ich bald mit Erstaunen erfahren, dass diese sebaldische Sicht der Welt als eine traurig und melancholisch machende, wenn man sich einlässt auf sie, wunderbar funktioniert, auch in der Banalität des Alltags. Als ich beispielsweise im Mai aus beruflichen Gründen nach Berlin flog, nahm neben mir am Fenster eine junge Frau Platz, in der Uniform einer Flugbegleiterin. Zierlich war sie, mit natürlichen, hellblonden, schulterlangen glatten Haaren, nicht älter als 30. Ihr feines Gesicht zierte eine randlose Brille, die ihr, so bildete ich mir ein, das Aussehen einer gänzlich unnahbaren Dozentin für höhere Mathematik gab. Sie lächelte kurz, als ich aufstand, um ihr den Fensterplatz zu überlassen. Gerade las ich im Buch den wunderbaren sebaldischen Satz „Salvatore war mit seinem Bericht zu Ende und die Nacht war aufgegangen“, und während dieser umging in meinem Kopf, schlug die mathematikkundige Flugbegleiterin raschelnd ihre für einen Flugzeugsitz viel zu große Boulevardzeitung auf, und meine Aufmerksamkeit sprang über zur nicht zu übersehenden, mit einem Farbfoto unterlegten Titelzeile:

Gunter Sachs hat sich am Schreibtisch in den Kopf geschossen.


Ist der Schreibtisch“, so wird die von Sebald erfundene Figur des Jaques Austerlitz einmal gefragt, „Ist der Schreibtisch vielleicht der Platz der Gespenster?


II.


Sebald hat am liebsten ein solcher sein wollen, wie es Austerlitz gewesen ist. Und weil er nicht so war, hat er ihn sich zusammengesetzt aus Versatzstücken erfundener, vielleicht auch realer Biographien: Als ideales, widerstandsloses, ihm ausgeliefertes GESPENST für alle seine Wünsche und Ängste, für alles, was er schon immer einmal hatte sagen wollen, für seine fast ins Neurotische reichenden Phantasien über die Folgen des Unglücks von ins Hitlereuropa hineingeborenen oder geratenen Menschen. Und wegen der durch die Katastrophen der Judenvernichtung und des Zweiten Weltkrieges endgültig untergegangenen Zeit hat er die Geschichte des „Austerlitz“ erfunden und doch nicht erfunden. Der Text trägt daher, wie alle Texte Sebalds, keine Gattungsbezeichnung. Der Name ‚Austerlitz‘ (der bei Sebald nichts mit dem Ort der berühmten Schlacht zu tun hat) evoziert lautmalerisch Wörter wie Auschwitz, Auschowitzer Quellen (in Marienbad), Ausgesetzt, Aussätziger, Ausland, Auswanderer, Ashawer (dt.: Ahasver), den Namen des ewig wie Austerlitz herumwandernden Juden. Was aber hat er mit mir zu tun?

    Austerlitz ist keine individuelle Romanfigur, wie alle Figuren in Sebalds Texten keine Individuen sind. Sie sind selbst da figurative Erfindungen immer gleicher Art, gleichen Wesens, wo ihnen möglicherweise eine reale Biographie eines realen Menschen zugrunde liegt (wie vermutlich bei einigen der in dem Band „Die Ausgewanderten“ geschilderten Figuren). Die sebaldischen Figuren unterscheiden sich bestenfalls durch das, was sie erzählen oder über sie aus Tagebuchaufzeichnungen und Skizzen gesagt wird, nicht aber wie sie erzählen oder wie über sie erzählt wird. Das „Wie“ ist immer selbaldisch. Aber auch ihre Erzählungen und das, was der Autor über sie berichtet und sagt, sind nur immer Variationen ein und desselben Themas oder besser: Traumas. Die Figur des Austerlitz gewinnt auch nicht etwa deshalb an Individualität, weil Sebald ihn beschreibt als „beinahe jugendlich wirkenden Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm.“ Damit wird der Vorstellung Raum verschafft, die Sebald darüber gehabt haben mochte, wie sein eigener, ungeliebter und ewiger Soldatenvater sich ihn als Sohn gewünscht haben mochte und wie er doch nicht aussah und wirkte.

    Aber auch hier ist wieder der unwahrscheinlichste Bezug oder eine zu mir selbst eingeredete Verbindung hergestellt, zu meinen seltsam gewellten, dazu noch blonden Haaren, die ich –  Käthe-Kruse-puppenartig, in den entscheidenden frühkindlichen Jahren identitätsstehlend –  vor meinem vierten Lebensjahr trug (eine Zeit, an die ich mich kaum mehr erinnere). Nichts ist notwendiger als der Zufall. Die Übereinstimmung der blonden Haare mit dem angeblichen Kinderbild jener erfundenen Figur Austerlitz im gleichnamigen Text jedenfalls ist frappierend. Ausstaffiert wie Puppen stehen wir beide; er als kleiner Prinz, der er nicht war, ich als kleines Mädchen, das ich nicht war, Wunschvorstellungen ihrer Erzeuger.



    Austerlitz redet selbstverständlich im sebaldischen Stil. Er ist, wie Sebald es zu sein schien, ständig unterwegs und macht sich wie dieser an allen möglichen Orten unentwegt Aufzeichnungen und Skizzen. Austerlitz lebt wie Sebald in England. Aber – und jetzt beginnen die Wunschphantasien Sebalds – als Vierjähriger wurde Austerlitz von seiner jüdischen Mutter 1939 mit einem Rucksack versehen, in Prag in einen Zug gesetzt und nach England geschickt, um ihn vor der sich abzeichnenden Vernichtung zu bewahren. Die Spur der Mutter verliert sich im Konzentrationslager Theresienstadt, die des Vaters im von den Deutschen besetzten Paris. Als Kind in England wächst Austerlitz in einem englischen Pfarrhaus auf, kennt seine Identität nicht. Nachdem er seinen Namen erfahren und seine Ausbildung abgeschlossen hat, macht er sich auf, seine Herkunft zu enträtseln und seine Erinnerung an die verlorene Kindheit in Prag wieder zu gewinnen. Am Ende des Buches zieht Austerlitz immer noch umher, in Frankreich, um  Spuren seines Vaters zu finden. Erlöst ist er nicht. Weder ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik noch die – vorangegangene - Zuneigung einer Frau vermochten ihn von sich selbst zu befreien.

    Diese Figur erlaubt es Sebald, Erlebnisse und Ereignisse, Gefühle, Gedanken, persönliche Eigenschaften, architektonische und landschaftliche Eigenarten und die unwahrscheinlichsten, wie er schreibt, „keinem vernünftigen Menschen“ widerfahrenden Zufälle sich auszudenken und auszuarbeiten, um seinem Grundthema, Erinnerungsverbot und Schweigen, Verlust und Melancholie Raum zu schaffen bis hinein in wahnhafte Vorstellungen und sich so seiner abgründigen, aber nicht grundlosen Ängste zu erwehren. Es handelt sich um eine Kopfgeburt Sebalds, um ein erzählerisches, durchschaubares Konstrukt allein zu dem Zweck, ein zweifach stigmatisiertes Schicksal exemplarisch darzustellen. Das allerdings ist nicht wenig.

    Und je mehr ich als Leser in diese Welten und Ängste, unwahrscheinlichen Zufälle und sprachlichen Vergangenheitsreisen eintauchte, desto mehr gewannen sie für mich eine mit meiner eigenen Biographie verbundene, mich bald ängstigende, unheimliche Bewandtnis. So intensiv wurde in mir während des Lesens mitunter das Gefühl, hier sei doch ich gemeint, hier schreibe jemand über mich, hier sei doch einer mit meinen Erinnerungsbruchstücken, meiner Phantasie und Gefühlswelt besser vertraut als ich selbst, dass ich schon an meinem Verstand zu zweifeln begann. Denn meine äußeren Lebensumstände haben weder mit jenen Sebalds noch erst recht mit jenen seiner Wunschfigur Austerlitz etwas zu tun.

    „Seit meiner Kindheit und Jugend,“ lässt Sebald seinen Austerlitz sagen, „habe ich nicht gewußt, wer ich in Wahrheit bin.“ Dieses Gefühl kenne ich allzu gut, und woher es stammt, kann Austerlitz anhand seiner ganz frühen Kindheit aufklären, nicht aber ich bis zur Niederschrift dieser Sätze. Verbunden damit ist die Gewissheit, dass alle anderen Menschen um mich herum Lebensregeln kennen, die allein mir selbst nicht offenbar geworden sind. „Tatsächlich bin ich während all der von mir in dem Predigerhaus in Bala verbrachten Jahre nie das Gefühl losgeworden, etwas sehr Naheliegendes, an sich Offenbares sei mir verborgen.“ erklärt Austerlitz. Äußerliche und biographische Ähnlichkeiten mit Sebald und mir, seinem Leser, scheinen solche Übereinstimmungen zu beglaubigen: Beide Väter geraten im Gefolge des Zweiten Weltkrieges in französische Kriegsgefangenschaft. Was sie dort erlebten, ist offenbar weder ihm von seinem, noch mir von meinem Vater bekannt geworden. Wie bei Sebald, dem schier ewig Fußreisenden, der ich aber gar nicht bin, ist das Schuhwerk bei mir regelmäßig schnell „innwendig in Fetzen aufgelöst“, und allein dieser übereinstimmende Zustand löste ein Entsetzen in mir aus.

    Tiefer und weit beunruhigender sind die von Sebald so genannten „melancholischen Rituale“, welche er sich und Austerlitz zuschreibt und die ich während des Lesens – mich teilweise erinnernd – auch bei mir entdecke. Da ist das bereits erwähnte Studieren von Landkarten und Atlanten jeder Art wie eine Sucht. Dabei erinnere ich mich an dieser Stelle, dass ich schon als Schüler die Zeitschrift „Sterne und Weltraum“ abonniert hatte, weil sich mir wohl der Planet Erde als zu klein erwies für meinen frühen Wunsch des Verschwindens irgendwohin ins Extraterrestrische. Zu den von mir durchforsteten Landkarten gehörten auch Sternatlanten. In Bäume bin ich hinaufgeklettert mit einem Schulfreund, der es nachher zu einem Gymnasiallehrer für Physik gebracht hat, um dort oben für Stunden und über Tage die phantastischen Science-Fiction-Geschichten eines „Perry Rhodan“ zu verschlingen, ohne mir einen Begriff zu machen von der geradezu primitiven anthropozentrischen Darstellung von nichts anderem als der Ausübung menschlicher Macht, der Kolonialisierung, Unterdrückung und Vernichtung des uns Fremden, verlagert in den von uns Menschen noch nicht beherrschten Weltraum und daher harmlos scheinbar.

    Zu den Ritualen der Melancholie, die der Verfasser dieser Zeilen mit Austerlitz nicht zufällig gemeinsam hat, gehört das Aufsuchen jener „Glücks- und Unglücksorte“, von denen Menschen wegfahren, verschwinden. Sind es bei Austerlitz Bahnhöfe, vor allem Pariser Bahnhöfe, die er aufsuchte, um „das Einfahren der Dampflokomotiven in die rußschwarzen Glashallen sich anzuschauen oder das leise Davongleiten der hellerleuchteten, geheimnisvollen Pullmanzüge, die in die Nacht hinausfuhren wie Schiffe auf die unendliche Weite des Meers,“ sind es bei mir Schiffshäfen, gibt es bei mir die Hafenmanie. Immer, wenn ich in einer Stadt ans Meer gelange, suche ich zuallererst, bevor ich irgendwelche Sehenswürdigkeiten, wenn überhaupt, besichtige, ihren Hafen auf, und sei er noch so klein. Häfen von Aberdeen und Alexandria über Bergen, Bremerhaven, Buckey, Cefalu, Cork, Danzig, Dublin, Flensburg, Georgetown, Hamburg, Helsinki, Kiel, Kopenhagen, Lavrion, Le Havre, Marsa-Matru, Piräus, Pula, Rijeka, Rostok, Tallin, Tanger, Rab, Singapur, St. Petersburg, Stockholm, Triest, Trondheim, Venedig, Wilhelmshafen, Wismar, Zadar usw. vermischen sich in meinem Gedächtnis zu einem einzigen Ort. Zu einem Ort des niemals zu stillenden Wunsches und gleichzeitig wegen der mir eigenen, tief im Inneren verankerten Unentschlossenheit und Willensschwäche des niemals erfüllbaren Wunsches, hinauszufahren aufs Meer, irgendwohin.

    Die Tatsache, dass ich tatsächlich für kurze Zeit zur See gefahren bin, ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht hinausgefahren bin, denn die Zeit meiner Seefahrt war niemals Heimkehr, ihr Ziel war nicht das Zuhause, mit anderen Worten: Bei sich selbst anzukommen. So wie jedes Reisen eine vergebliche Flucht vor sich selbst ist, wie der unruhige aber immer an einem Ort lebende Konstantinos Kavafis wusste:

Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße -
Gib die Hoffnung auf. Hast Du dein Leben auf diesem kleinen
Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan.



III.


Sebald hat mit Austerlitz eine Figur zusammengesetzt, die, wäre sie in Prag geblieben, wahrscheinlich, so sollen wir Leser schlussfolgern, in einem Konzentrationslager ermordet worden wäre. Diese dramatische Ursituation erlaubt es Sebald, das Zuhause-Bleiben als sicheren Tod zu beschreiben, das Verlassen des Zuhauses als Mittel des Überlebens darzustellen, aber als Preis dafür ein ‚Sich-selbst-Verlieren‘ als Rechnung zu präsentieren: Soweit ich zurückblicken kann, sagte Austerlitz, habe ich mich immer gefühlt, als hätte ich keinen Platz in der Wirklichkeit, als sei ich gar nicht vorhanden. Damit formuliert Sebald/Austerlitz ein mir wohlvertrautes Gefühl.

    Sebald selbst hat sein Zuhause nie gefunden, auch und gerade in seinem Geburtsort Wertach nicht. Zu seinen mich am meisten beeindruckenden Texten gehört „Il ritorno in patria“, worin er seine erste Rückkehr seit Jahrzehnten nach Wertach schildert. Schon der Titel in italienischer Sprache demonstriert Distanz, vielleicht Angst. In möglicherweise ironisierender Absicht soll er eher an Händels Opern erinnern als an den Versuch, die Panik davor zu bannen, dass er womöglich doch in sein Vaterland (das deutsche Wort meidet der Autor peinlichst) zurückkehrt und sich dort findet. Sebald formuliert die entscheidende Stelle so: „Obzwar im Verlaufe dieser langen Zeit ….viele der mit W. verbundenen Örtlichkeiten ….in meinen Tag- und Nachtträumen beständig wiederkehrten und mir jetzt vertrauter schienen, als sie es vormals gewesen waren, lag das Dorf, wie ich mir bei meiner späten Ankunft dachte, weiter für mich in der Fremde als jeder andere denkbare Ort.“ Damit hat er mir aus dem Herzen gesprochen, da auch ich meinen Geburtsort früh verlassen habe, weil ich mit ihm nichts zu tun haben wollte. Dann aber entfährt Sebald eine erleichternde und zugleich verräterische Bemerkung, dass er glücklicherweise nicht finden würde, was er angeblich sucht: sein Zuhause, sich selbst: „In gewissem Sinne war es mir eine Beruhigung, dass ich jetzt, bei meinem ersten Rundgang durch die in einem bleichen Licht daliegenden Straßen, alles von Grund auf verändert fand.

    Wie kaum in einem anderen Text habe ich die mir so vertraute Abwehr des Ortes meiner Herkunft und zugleich seine stetige Suche so intensiv wiedergefunden wie bei Sebald und seinem Homunkulus Austerlitz. Selten habe ich bei einer Lektüre die eigene, ungewollte ‚Geworfenheit‘ (Heidegger) in eine mir fremde Welt, die ich mir ständig aneignen will und doch nicht aneignen kann, so intensiv wieder erlebt wie während der Lektüre der Texte Sebalds. Die ‚fremde Welt‘ meint sowohl die geografische („und also war Deutschland, sagte Austerlitz, für mich wohl das unbekannteste aller Länder.“), als auch die ganze Welt außerhalb meiner selbst.

    Austerlitz, diese Fluchtfigur Sebalds, sucht seinen Vater am Ende des Textes noch immer, weil, so erkläre ich es mir, er von ihm etwas erwartet, was er noch nicht bekommen hat. Und wenn er ihn nicht gefunden hat, dann sucht er ihn noch heute und kann ihn also – aus der Sicht Sebalds glücklicherweise – nicht befragen. Sebald hat an keiner Stelle berichtet, dass er seinen Vater irgendetwas gefragt hätte. Das Schweigen über die Greul des Krieges und seiner Opfer, das er der deutschen Nachkriegsliteratur vorwirft, verschweigt er selbst in Bezug auf sich. Denn wer wollte schon dem Schicksal eines kleinen jüdischen Jungen aus Prag widersprechen, der das Überleben der Judenvernichtung durch die Nazis und das dadurch ausgelöste Sich-selbst-in-Frage-stellen und ewige Suchen verkörpert.

    Sebald, Austerlitz, ich: Ein Triumvirat sich fremd fühlender, heimatloser, vermeintlich vaterloser Söhne, der Mittlere eine Projektionsfläche für den Ersteren und den Dritten andererseits, so lange, bis der Bann der Vergangenheit gebrochen ist. Für Sebald ist es dafür zu spät. Es war gemäß seiner Haltung nur folgerichtig, dass sein Leben am 14. Dezember 2001 unterwegs auf einer Straße durch einen Autounfall, wie vor ihm diejenigen des Albert Camus, Antonio Gaudi, Italo Svevo und anderen, unvermittelt abriss. –



© Ulrich Schäfer-Newiger, München, 2011 / 2016.

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