Tucholsky, Waldrop und Grün - Eine Rückkehr
Tucholsky, Waldrop und Grün - Eine Rückkehr
Mit ein paar Kollegen arbeitete ich in den (man kann schon sagen) letzten Jahren an einer Übersetzung ausgewählter Gedichte des inzwischen achtzigjährigen amerikanischen Dichters Keith Waldrop. Dabei kam es für mich zu einer merkwürdigen Begegnung. Im Gedicht The Still of the Night bezieht der Amerikaner sich offensiv auf ein Gedicht von Kurt Tucholsky.
THE STILL OF THE NIGHT
In der Stille der Nacht
[after Kurt Tucholsky]
In the still of the night, in bed with your only wife,
You try and figure out what it is that’s missing in your life.
You’re all on edge. You think, If only I had
Whatever it is I don’t have, things wouldn’t be this bad.
You turn and toss and think of all
You’ll change tomorrow. Tomorrow, we’ll see....
It’s always we want someone statuesque and tall,
And we get somebody short, fat—
C’est la vie.
Every day you read the news and fall into the old rage:
Your fury reaches new heights as you read on down the page.
You feel you’re wasted among all the wasted lives
In this thickly settled region with its danger of hidden drives.
Surely there was some point when you missed a call.
The expedition left while you were reaching for your clothes....
It’s always we want someone statuesque and tall,
And we get somebody short, fat—
So it goes.
In the still of the night, the future seems behind.
Your prospects are so dim they’re hard to bring to mind.
You’ve loads of plans—and some notion what they’re worth:
God had a great idea, but what he came up with was the earth.
We try to stay active, we end up in fidgets.
We want a righteous leader and we get one who’s religious....
It’s always we want someone statuesque and tall,
And we get somebody short, fat—
In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Wirfst dich umher und denkst an dies und jenes
Und was du morgen änderst. Gut, mal sehen, wie ....
Man möchte immer, eine große Lange
Und dann bekommt man eine kleine Dicke –
C’est la vie.
Du liest die Zeitung täglich, irgendwas bringt dich in Wut,
Die Wut wird größer, wenn du liesr, was sich am Ende tut,
Fühlst dich verbraucht inmitten von verbrauchten Leben
In dieser menschenvolllen Gegend, siehst Gefahren sich erheben.
Sicher hast du einmal, als du den Aufruf verpasstest,
Als der Tross schon voran war, noch nach Kleidung getastet ...
Man möchte immer, eine große Lange
Und dann bekommt man eine kleine Dicke –
So ist das.
In stiller Nacht und schon die Zukunft scheint vergangen.
Die Aussicht schwach, schwer ist's zum Punkt zu gelangen.
Du hast Pläne gemacht, weißt, was sind sie wert:
Gott hatte ne gute Idee, gemacht hat er die Erde.
Wir versuchen, beweglich zu bleiben, enden aber im Dösen.
Wollen den Führer gerecht, bekommen 'nen religiösen ....
So ist es immer, wir wollen einen langen Schlanken
Und bekommen einen kurzen Dicken
Das Original von Tucholsky
Ideal und Wirklichkeit
In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Du präparierst dir im Gedankengange das,
was du willst – und nachher kriegst dus nie ...
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
C'est la vie –!
Sie muß sich wie in einem Kugellager
in ihren Hüften biegen, groß und blond.
Ein Pfund zu wenig – und sie wäre mager,
wer je in diesen Haaren sich gesonnt ...
Nachher erliegst du dem verfluchten Hange,
der Eile und der Phantasie.
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
Man möchte eine helle Pfeife kaufen
und kauft die dunkle – andere sind nicht da.
Man möchte jeden Morgen dauerlaufen
und tut es nicht. Beinah ... beinah ...
Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
an eine Republik ... und nun ists die!
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
Theobald Tiger: Die Weltbühne, 05.11.1929, Nr. 45, S. 710, wieder in: Lerne Lachen.
Bemerkenswert erscheint mir das, weil ich keinen deutschen Dichter und keine deutsche Dichterin kenne, die offensiv an diese Tradition anknüpfen, die hier, und vor allem im Berlin der Zwanzigerjahre lebte und deren Protagonisten von den Nazis vertrieben oder ermordet wurden. Autorinnen und Autoren, die eng mit dem Kabarett und den Kleinkunstbühnen verbunden waren. Nach der Niederlage des deutschen Nationalsozialismus schienen sich Kunst und Kleinkunst in Deutschland nicht wieder zusammenzufinden. Wobei mir schon das Wort Kleinkunst schwer aus der Tastatur tröpfelt. Und sicher gibt es auch heute eine Kabarettszene, aber eben isoliert, ohne Kontakt gewissermaßen zur Außerkabarettkultur. Wenn dieser Kontakt einmal zustande kommt, dann doch immer im Rückgriff auf Mehring, Holländer oder andere in den dreißiger Jahren Vertriebene.
Ich bin in einem recht kommunistischen Umfeld aufgewachsen, und mein Onkel, Professor für marxistisch-leninistische Philosophie an der Technischen Universität Magdeburg war eine großer Freund des Sängers und Schauspielers Ernst Busch, dessen gesammelte Aufnahmen auf einer Schallplattenreihe des ostdeutschen Labels Aurora veröffentlicht wurden. Darauf fanden sich neben den Eislerschen Majakowski-Vertonungen auch Lieder mit Texten von Walter Mehring und Kurt Tucholsky. Es waren Lieder mit strikt antifaschistischem Inhalt, die aber aufgrund ihrer ironischen Ausrichtungen nicht zum Kampflied taugten. Vielleicht eröffneten mir diese frühen Begegnungen in den Schulferien vor einem schnarrenden kratzenden Kofferplattenspieler in Magdeburg überhaupt erst einen Weg in die Dichtung aber auch in die zeitgenössische Musik. Denn von Eisler las und hörte ich später alles, was ich bekommen konnte, und dann kamen eben auch bald Schönberg und die anderen Komponisten der Neuen Wiener Schule dazu, mit ihren Links bis hin zu Nono, Cage und zeitgenössischer neuer Musik.
Im Zuge der Tätigkeit für die Hotlistjury landete nun auch ein Band mit Texten der Autorin Lily Grün auf meinem Schreibtisch. Die in Wien geborene und in verschiedenen Kinderheimen aufgewachsene Grün fand eben in den Zwanzigerjahren als Texterin und Schauspielerin Anschluss an die linke und kommunistische Berliner Brettlszene. Sie trat unter anderem im „Brücke Programm“ auf, und zum „Brücke Kollektiv“ gehörten eben auch Ernst Busch und Hanns Eisler.
Im Band Mädchenhimmel!, der im AvivA Verlag erschienen ist, finden sich Gedichte und verschiedene Kurzprosastücke versammelt.
Zum Schluß meinst du, ich soll dir Antwort schreiben,
Natürlich nur in dein Geschäft,
Denn deine junge Frau, sie könnte drunter leiden,
Und wenn sie meinen Brief erwischt,
Dann ging`s Dir schlecht.
Geliebter Freund, ich hab` dir nichts zu sagen;
Denn du bist fremd und fern und alles ist vorbei.
Ich hab` dich sehr geliebt…Es ist vorüber,
Ich sprech` nicht gern davon…Kurz:
Schwamm darüber!
Interessant ist allemal, wie direkt und unverblümt Grüns Texte sind. Der Inhalt macht sich die Form untertan, das muss ihr heutzutage das Kopfschütteln der literarischen Feinsinnigen einbringen, und hat es sicher in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts auch schon getan. Doch hat Grüns mit Ironie unterlegte Direktheit auch etwas Befreiendes in doppelter Hinsicht. Befreiend einerseits in der Möglichkeit, das Unbehagen an der Gesellschaft unmittelbar auszudrücken (und viel scheint sich seit den Zwanzigern nicht verändert zu haben). Und auch darin, dass sich Hochkultur und Brettl aus ihrem jeweiligen Käfig befreien können.
Nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler ging Lily Grün nach Wien zurück. Am 27. Mai 1942 wurde sie aus Wien deportiert und sofort nach ihrer Ankunft im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec am 1. Juni 1942 ermordet.
Jan Kuhlbrodt