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Tim Trzaskalik: Die Statue des Unmöglichen

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Die Statue des Unmöglichen
Georges Bataille zum 125. Geburtstag
von
Tim Trzaskalik
 
Für Marlies Bennert
   
Dent de haine
tu es maudite
qui est maudite paiera
Georges Bataille

D’un bout à l’autre de son livre, Bataille saute d’un pied sur l’autre […].
Michel Surya


      Nur wenige Philosophen haben jenen Grad der Einfachheit erreicht, wie er einigen Zusammenfassungen eigen ist, die Georges Bataille – Philosoph so wenig wie möglich, liebte er, von sich selbst zu sagen – von seinem Denken gegeben hat. Batailles Philosophie? Meine ganze Philosophie besagt, dass das Hauptziel, das man sich setzen kann, darin besteht, in sich die Gewohnheit zu zerstören, ein Ziel zu haben. Der unauflösliche Selbstwiderspruch springt ins Auge. Er war die Lupe, mit der Bataille praktisch das gesamte Wissen seiner Zeit Revue passieren ließ, und sei es um den Preis, sich an dieser intensivierten Aufklärung die Augen zu verbrennen. Der Infragestellung seines Denkens durch diesen Selbstwiderspruch widmete er sich sein Leben lang.

     Auf die Frage seines Verlegers Jean-Jacques Pauvert, was er von Dada halte, soll er geantwortet haben: Nicht idiotisch genug. Ist Batailles Moral des Augenblicks, die Entscheidung, nicht mehr zu entscheiden, idiotisch genug? Sicher nicht, denn wäre sie es, wäre das Unmögliche möglich. Als großer Kranker wie auch als radikaler Materialist des Niederen, als niederer Materialist, hat er sich ein für alle Mal dazu entschieden, in diesem Selbstwiderspruch zu verweilen, um im Denken nichts außen vor zu lassen, um im klaren Bewusstsein des Widerspruchs zu denken, im klaren Bewusstsein des unerträglichen Hasses des Ziels, im Sinne des doppelten Genetivs, wie es Batailles zahlreiche Deklinationen dieses Hasses nahelegen, insbesondere in seinem Buch Der Hass der Poesie.

    Alles was er tat, all die mannigfaltigen Ziele, die er unaufhörlich verfolgte, waren undenkbar ohne einen tiefen Hass auf die Welt, so wie sie war (und selbstredend noch immer ist). Beispielhaft dafür waren seine beispiellosen Anstrengungen, Zeitschriften ins Leben zu rufen, insbesondere Documents (1929-1931) gegen das, was Bataille den Idealismus des Surrealismus nannte, Contre-Attaque (1935) gegen Faschismus und Nationalsozialismus und vor allem Critique (ab 1946, die Zeitschrift erscheint noch heute monatlich) gegen die Bequemlichkeit des Denkens und die Aufspaltung des Wissens, gegen alle Obskurantismen und Reaktionismen.

     Doch bei Bataille ging dieser Hass als Triebfeder einer Praxis stets Hand in Hand mit einem Hass gegen diese Praxis selbst, insofern jedes „Tun“ auf Arbeit beruht, das heißt auf einem Vergessen des Augenblicks, auf einer Sorge um die Zukunft, also auf einer Beeinträchtigung der souveränen Freiheit. Dieser Hass bekundete sich insbesondere als tiefer Hass auf die Poesie und allgemeiner auf die Sprache überhaupt. Die Misologie suchte ihn unablässig heim. Insofern gehörte Bataille zur Avantgarde. Gewiss hätte er frei nach Stéphane Mallarmé ausrufen können: „Zerstörung, meine Beatrice“. Aber während für Mallarmé die Zerstörung vor allem kritisch war, ist sie für Bataille zunächst lediglich die Bedingung des unermesslichen Wertes des Augenblicks, auf den es einzig ankommt, und nicht auf die Tatsache, dass alles getilgt ist. Deshalb gibt es die Poesie für Bataille nur als Delirium, doch dieses Delirium kann die Natur nicht wirklich herausfordern: Es rechtfertigt sie, es verschönert sie. So wird die Poesie auf den Hass reduziert, den sie gegen sich selbst hegt. Jede Poesie, die sich nicht bis zur Ohnmacht der Poesie aufschwingt, ist stets noch die Leere der Poesie (die schöne Poesie).
     Diese Leere der Poesie (die schöne Poesie) sah Bataille, der Sousrealist, noch im Surrealismus am Werk. Wenn er von der unbestreitbaren Größe der Gedichte von Tristan Tzara spricht, so setzt er doch sogleich hinzu: Der Ausdruck in den Grenzen der Poesie erreicht einen äußersten Punkt. Doch zugleich erweist er sich als unfähig, irgendein ein Leben zu verändern […]. Der Bruch mit dem Leben ist, so verführerisch er sein mag, doch nichts weiter als die Vollendung der verarmenden Tendenzen der Poesie Mallarmés.

       Das Verdikt scheint unwiderruflich. Der Poesie bleibt nur das Schweigen, mithin eine Art Selbstopfer. Wenn Sie beim Buchstaben, bei den Wörtern stehenbleiben, vergessen Sie, dass die Surrealisten, die sie geschrieben haben, sich vorab untersagt hatten, sie zu verwenden. Folglich täuscht man sich, wenn man glaubt, Bataille suche sich in der Poesie von der Sprache im Medium der Sprache zu befreien. Es ist um einiges schlimmer, wie er selbst im Hinblick auf das reine Glück, also den unermesslichen Wert des Augenblicks klar zu verstehen gibt, der notwendig auf die Negation der Sprache angewiesen ist, die die Poesie ihrem Wesen nach für ihn ausmacht: Die sich auf eine Weigerung versteifende Sprache, welche die Poesie ist, wendet sich gegen sich selbst: Es ist Selbstmord. Man könnte das Unmögliche der Poesie schwerlich noch krasser zuspitzen. Sie ist, was sie ist, einzig unter der Bedingung, rückhaltlos für die imaginäre Gewalt einzustehen, die sich für Bataille in ihrem Wesen offenbart, wenn das Schweigen der grenzenlose Verstoß gegen das Verbot ist, das die menschliche Vernunft der Gewalt entgegensetzt. Freilich läuft diese Auffassung der Poesie darauf hinaus, zu vergessen oder zu verdrängen, dass sie ganz in dem aufgeht, was geschrieben steht, dass noch ihr Schweigen ein Effekt der Schrift ist.

     Wenn Bataille den Selbsthass der Poesie als etwas ihr genuin Eigenes versteht, so verneint er zugleich jegliche Eigenschaft der Poesie, die nicht mit dieser imaginären Gewalt – einer Gewalt der Schlange oder der Spinne, wie Bataille präzisiert, die nicht zuschlägt, sondern schleichend wirkt, enteignend, lähmend, die fasziniert, noch bevor man sich gegen sie wappnen könnte – gegen alles und jeden und in erster Linie gegen sich selbst zusammenfällt. Für ihn erschöpft sich dieser Selbsthass keineswegs im Misstrauen gegenüber ihrem ästhetischen Charme. Der avantgardistische Sessel ist bequem. Für Bataille kommt es nicht in Frage, in der Kunst eine vitale Funktion des Lebens zu sehen. Ein Leben das spricht – für ihn grenzt das an ein Oxymoron. Es kommt nicht in Betracht, dass dieses Leben im Sprechen die Kunst nachahmen könnte. Es kommt nicht in Betracht, dass die Trennung, unter der Bedingung, dass sie sich vollendet, die Möglichkeit ihrer eigenen Aufhebung in sich bergen könnte dank des Idiomatischen der Poesie – das gewiss eine Idiotie ist, ein tastender Versuch, das Murmeln der Menge, die jeder Mensch ist, besser zu hören und zu verstehen, das Wandertheater, die Dialog- oder Jukebox, die Bauchrednerei, die wir alle sind, idiotisch und versponnen, jeder für sich und doch an die anderen gebunden, deren Ausdruck wir sind, wenn ein Mensch die Menge der Fragen ist, die er seiner Umgebung stellt, und die Menge der Antworten, die er erhält, und wenn die Poesie unermüdlich das Ungenügen an der Welt, so wie sie ist, anstimmt.

       Nun wäre Bataille nicht Bataille gewesen, wenn er sich nicht selbst widersprochen hätte, wenn er seinen Avantgardismus nicht in Frage gestellt hätte. Insbesondere seine Manet-Monografie bezeugt dies. Gegen seine eigenen avantgardistischen Prämissen betrachtet er hier die Kunst selbst als Überschreitung, Manets Olympia ist seine Kronzeugin. In diesem Gemälde sieht er ein eloquentes Schweigen am Werk, das die gesamte Eloquenz der Tradition zerstört. Und auch seine Ekphrasis zu Manets Mallarmé-Porträt weist in diese Richtung: Die Eloquenz dieses Bildes ist diskret, aber eloquent ist es. Dieses Porträt bedeutet: Es bedeutet, was Mallarmé bedeutet. […] Dieser umherschweifende Blick, der in gewissem Sinne wie auf der Flucht durchs Zimmer kreist, dieses Gesicht, das von der Abwesenheit alles Endlichen von der Schwerkraft befreit ist, diese freischwebende, aber doch äußerste Aufmerksamkeit und dieses ruhige Schwindelgefühl […] das, was geschieht, exponiert jenen höchsten Wert, den Zweck der Malerei. Dieser Wert ist die Kunst selbst, in gewisser Weise entblößt, und als solche ersetzt sie die pathetischen Schatten, die die Vergangenheit über die Welt herrschen lassen wollte. Mit Manet beginnt für Bataille die Herrschaft der Kunst im Allgemeinen, das heißt der individuelle, autonome Mensch, losgelöst von jedem vorgegeben System (einschließlich dem des Individualismus). Mit Manet ist der Ausdruck des Werks der Akt der Überschreitung. Und in seinen Schriften erinnert Bataille regelmäßig an diese Untrennbarkeit, auch wenn er von sich behauptete, nicht willentlich lügen zu können, auch wenn er nicht idiotisch genug war, Mallarmés glorreiche Lüge zu verstehen. Was ihn keineswegs daran hinderte, in der Kunst das Fundament zu jeder unmöglichen Gemeinschaft zu sehen: In Wahrheit gibt es keinen Unterschied zwischen dem Agieren, im Sinne der Verführung, im Sinne des Ergreifens der Initiative, und dem Akt, der darin besteht, dem Agieren einen ästhetischen Ausdruck zu verleihen. Sodass man nicht mehr weiß, ob man nicht um des Ausdrucks willen handelt. Der Ausdruck ist im Grunde vom Akt nicht zu trennen. Er verleiht ihm einen schwindelerregenden Sinn, den der Bestimmung eines gemeinsamen Geschicks.

      Überhaupt war Bataille vollkommen klar, dass jedes Buch, das zu schreiben oder zu lesen der Mühe wert ist, unmöglich nicht dieses eine Ziel haben kann, das es indessen niemals erreicht: Die Gründe, ein Buch zu schreiben, können auf das Begehren zurückgeführt werden, die Beziehungen zu verändern, die zwischen einem Menschen und Seinesgleichen bestehen. Diese Beziehungen werden als eine entsetzliche Misere angesehen.

        Im Übrigen gibt es einen Pragmatismus bei Bataille, den man als politisch bezeichnen könnte. Es ist ein Pragmatismus der Sackgasse, der dazu zwingt, die Moral des Augenblicks radikal in Frage zu stellen. Bataille war nie blind für die Gefahr des Einverständnisses, wie sie mit einer solchen Moral einhergeht, insofern der unermessliche Wert des Augenblicks uns dazu verurteilt, nicht über unsere eigene Nasenspitze hinauszusehen, und er uns auferlegt, paradoxerweise weit entfernt von jeder Überschreitung, in unseren Grenzen zu leben, während wir, wenn wir in einer Sackgasse stecken, gezwungen sind, nach einem Ausweg zu suchen. Für Bataille ist die Grundlage dieser Suche, was André Breton als kategorische Ablehnung der Bedingungen des Lebens und Denkens, wie sie dem Menschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts auferlegt sind, bezeichnet hat. Doch Bataille führt umgehend eine Differenz ein: Diese vernünftige Ablehnung unvernünftiger Lebensbedingungen, so unver-zichtbar sie sein mag, darf nicht mit einer radikalen Ablehnung der nicht zu beseitigenden Welt der rationalen Nützlichkeit verwechselt werden, einer Ablehnung, die ihrerseits auf einen Exzess abzielt, den keine Vernunft zu konzipieren wüsste, aber dessen Idee eng an eine selbstkritische und jeden Rationalismus übersteigende Vernunft gebunden ist, und zwar innerhalb der Grenzen der von der Schrift (dem Sprechen) bearbeiteten und verrückten Sprache, die einzig dazu fähig ist, uns auf die Ebene der Bedeutung gelangen zu lassen, ohne die sich alles in der Äquivalenz verliert. Bekenntnis eines philologischen Misologen oder eines misologischen Philologen, heimgesucht vom Gott-Menschen der Tragödie der Tragödie (Euripides‘ Bacchantinnen), von der Jean Bollack sich fragte: Hat die Tragödie eine Selbsterkenntnis oder eine Erkenntnis über den Anderen zum Zweck? Unterrichtet sie die Stadt und läutert sie? Vergebens sucht man nach einer Lehre oder Botschaft. Vielleicht führt sie zu nichts. Dann wäre dieses Nichts das Wesen jeder Tragödie.

       Tragisch, Bataille war es entschieden. Im Grunde hatte er nur eines im Kopf: an einem Anfall tragischen Lachens zu ersticken. Einzige Weise, eine klar dem Leben zugeneigte Sichtweise beizubehalten, eine Negation des Lebens zu vermeiden, wenn es darum geht, einer resoluten Bejahung treu zu sein, die nur möglich ist unter der Bedingung einer radikalen Negation der bestehenden Verhältnisse im Rahmen einer Realität, die in Wahrheit nur ein leichtgläubiger, auf durch Fiktionen mehr oder minder etablierten Tatsachen beruhender Realismus ist. Als tragischer Philosoph, aber auch als Anthropologe, Ethnologe, Ökonom, Kritiker, Schriftsteller, Dichter, Pornograf, antifaschistischer Militant, Atheologe, Mystiker, Verrückter, Idiot war für ihn die Frage Was ist der Mensch? die wichtigste. Seine Antwort war nicht heiter: Der Mensch ist im Grunde eine ziemlich unangenehme Geschichte mit allen möglichen Missständen. Zu einem gewissen Zeitpunkt ist er sehr wohl gezwungen einzusehen, dass da ein gehöriges Ausmaß an Gescheitertem vorliegt, das man loswerden müsste. Aber wenn er sich tilgt, tilgt er alles. Das ist ärgerlich. Es gibt im Menschen, glaube ich, immer diese Notwendigkeit, sich bewahrend zu tilgen.

       Somit ist der Mensch in der Tat auf die List der Vernunft angewiesen, deren bevorzugtes Beispiel bei Bataille die Erotik ist, dieses Spiel, dessen Spielbrett die bestirnte Nacht ist und bei dem alle zum Mitspielen aufgerufen sind. Sich bewahrend tilgen … Nun mag es vielleicht heute mehr denn je angeraten sein, über dieses „Thema“ zu schweigen. Was auf die geschichtliche Ferne hinweist, die uns von jenen Zeiten trennt, als die Revolution eine Frage der Poesie war, die jetzt gewiss viel eher eine Frage der Widerständigkeit ist. In einer Vergangenheit, die in weiter Ferne zu liegen scheint, sehe ich – mit Jacqueline Risset – Bataille allein auf seiner sinkenden Barke, sanft, ironisch, aber auch mit Zuneigung, blickt er zu uns herüber, die wir ohne Hoffnung auf ein Einschiffen, ohne Hoffnung auf Schiffbruch am Ufer stehen, die wir da sind, wo wir sind.


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