Pier Paolo Pasolini: Der Zorn
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Jan Kuhlbrodt
Pier Paolo Pasolini: Der Zorn. Material zu einem Filmessay. Hrsg.
und übersetzt von Anna Giannessi und Jo Frank. Berlin (Verlagshaus Berlin)
2019, 120 Seiten. 24,90 Euro.
Zu: Pier Paolo Pasolini
Der Zorn
Es ist sicher unüblich, eine Besprechung mit einem Zitat zu beginnen,
das sich gar nicht auf den zu besprechenden Text selbst bezieht, sondern auf
den Tod seines Autors, dessen Leiche am 2.11.75 am Strand von Ostia gefunden
wurde. Aber es bietet sich an, weil auch
die Autorin an den Rändern verschiedener Gattungen arbeitete und wie Pasolini
aus ihren politischen Positionen kein Hehl machte. Das Gedicht stammt von der
griechischen Dichterin und Schauspielerin Katerina Gogou und wurde von Elena
Pallantza und mir übertragen:
OBDUKTIONSBERICHT 2.11.75„… sein Körper lag bäuchlings und zugleichdem Vatikan zugewandt.Die eine Hand zeigte der PKI den blutigen Mittelfingerund die andere schwang den Hodensack gegen KulturfunktionäreBlutklumpen im Haar wie Egelan verborgenen Syndromen des Schwulenan Männern der ganzen Welt.Das Gesicht entstellt von den Zeichender Klasse, die er ablehnteals ehrenamtlich düstrer Vertreter des Lumpenproletariats.Die Finger der linken Handgebrochen vom Sozrealismusgeworfen in illuminierten Müll.Der Kiefer zerschlagenvom Uppercut eines Gewerkschafterseines Schlägers auf Honorarbasis.Die Ohren halb von einem Scheusal zerfressen, das keinen mehr hochbekam.Das Genick gebrochen, der Kopf vom Körper geschnittennach dem Prinzip der Autonomie.Die Mutter überall.
Das war der Tod des kommunistischen Homosexuellen PASOLINI, der jeden Montag, Mittwoch und Freitag auf seine Vespa (50cc) stieg und sich eilte, dass die Kinos in Aigaleo in Liverpool und vor allem in Ostia etwas zum Spielen haben, Filmdosen und Elendsviertel fest unterm Arm.Und das gestreifte Fähnchen der Poesie.Ade.
Vielleicht ist das zwanzigste Jahrhundert, dessen Beginn so
umstritten ist wie das Ende, nicht wirklich zu fassen, es ist nicht auf den
Punkt zu bringen, weil jeder Punkt sofort anfängt zu oszillieren, wenn man
einen Moment bei ihm verharrt. In jeder Befreiung steckt das Moment einer
Willkür, und jeder Befreiung ging eine Zeit des Mordens voraus. Jede Freude
wird durch Trauer getrübt, und der Fortschritt, den viele so feiern, bildet
sich in einer Schneise der Zerstörung ab.
Die Denkmäler des zwanzigsten Jahrhunderts werden die
riesigen Soldatenfriedhöfe sein, die Vernichtungslager, die unendlich lang
strahlenden Wracks explodierter Kernkraftwerke. Und vielleicht sind es ja die
Sechzigerjahre in denen das bildlich gefasst wurde, sinnbildlich, weil der Film
sich hier als Abguss jener Ambivalenz etablierte, und weil das Fernsehen seinen
Siegeszug vollendete, die Mondlandung in das Bauernhaus übertragen würde, und die
Gesichter archaischer Bauernfiguren von der Übertragung Armstrongs Schritt für
die Menschheit illuminiert sind.
Dann trieben sie das Vieh in die Ställe und tranken den
Branntwein gleich aus der Flasche, denn mit dem Film wurde zugleich das Cliché verallgemeinert.
Kürzlich schrieb ich auf dieser Seite über ein Buch von Etel Adnan, das genau an dieser Stelle arbeitet, das Verlassen des Menschen einer archaischen Erde, auf der er eine archaische Menschheit zurücklässt, und genau mit diesem Motiv endet das Buch von Pasolini: Der Zorn.
Im letzten Gedicht heißt es:
Ich weiß Genosse Chruschtschowdas es eine optische Täuschung warimmens und irreparabelist der Abgrund zwischen unsdie wir im Kosmos fliegenund der Milliarde von Elendendie sich an die Erde klammernwie verzweifelte Insekten.
Pasolini lässt hier allerdings nicht Gagarin sprechen,
sondern den zweiten Kosmonauten German Titow.
Aus dem Italienischen übersetzt wurde das Buch von Anna
Giannessi und Jo Frank.
Im zwanzigsten Jahrhundert finden auch die literarischen und
künstlerischen Formen zu sich. Und zwar in der Form, wie sie es in der Romantik
bereits angedeutet haben, sie lösen sich auf, zerfransen an ihren Rändern. Die
Leitbilder verlieren, wie Adorno es beschrieben hat, ihre Gültigkeit, das
einzelne Kunstprodukt wird auf sich selbst zurückgewiesen, muss die Regel
schaffen, an der es sich ausrichtet, weil alle Regel im Geschichtsprozess
obsolet geworden ist. So verwandelt sich auch ein Filmskript, wie im
vorliegenden Fall, in ein Gedichtbuch. Der Zeitkommentar wird lyrische
Ergießung und umgekehrt. Die Geschichte wird mürbe, zerrieben zwischen Fingerspitzen.
Das Dokumentarische zerfällt im lyrischen Kommentar, aber es bleibt Dokument.
Arrangiert mit anderen Dokumenten, Tönen und Bildern gerinnt es zur Collage.
Diese bildet nur bedingt die Zeit ab, vielmehr ist sie ein Ausdruck des Blicks
der Protagonisten auf ihre Gegenwart, dem zumindest soweit zu trauen ist, als
dass sich in ihm zugleich die Ratlosigkeit des Protagonisten spiegelt.
Das Jahrhundert als Kaleidoskop, je nachdem, wie sich die
Splitter anordnen, entsteht ein vorläufiges Bild. Und so überlagern sich die
Berichte der Befreiungsbewegungen in Nordafrika mit denen der Aufstände in
Ungarn und Prag, mit deren Niederschlagung und der Revolution auf Kuba.
Jetzt ist Kuba in der Welt:In den Texten Europas und Amerikaswird die Bedeutung des Sterbens in Kuba erläutert.Eine grausame Erklärungdie nur das Mitleid human machen kannim Licht des Weinens das Sterben in Kuba,
Im Buch finden sich ganzseitige Illustrationen von Guglielmo Manenti, die im Gestus an Wandbilder des
letzten Jahrhunderts erinnern, zugleich aber deren Eindeutigkeit in Zweifel
ziehen. Statt Gagarins Gesicht findet sich zum Beispiel im Raumfahrerhelm das
des mumifi-zierten Lenin.
Im Nachwort wirft der
brasilianische Lyriker Ricardo Domeneck einen Blick auf den Text und entwickelt
dessen Aktualität auch aus seiner Uneindeutigkeit:
„Pasolnis Band lässt uns den gegenwärtigen Zorn neu denken, aus der Feststellung des Versagens gegenwärtiger Gesellschaftsformen in Europa heraus.“
„Einziges Zeichen der Hoffnung
bleibt das Lächeln des Astronauten, das nicht zur Erde, sondern zum Kosmos
weist.“ Das schreibt Anna Giannessi in ihrem Vorwort. Zwischen diesen beiden
Polen entspinnt sich Geschichte, deren Ende nicht absehbar ist.