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Etel Adnan: Wir wurden kosmisch

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Jan Kuhlbrodt

Etel Adnan: Wir wurden kosmisch. Fürth (starfruit publications) 2019. 80 Seiten. 18,00 Euro.

Zu Etel Adnan: Wir wurden kosmisch


und er flog, beide Arme und beide Beine geöffnet
        wie ein Kompass
        wie ein Vogel, der von einem Blitz getroffen wird    

Vor einiger Zeit habe ich hier auf dieser Seite über das lange Gedicht und die Raumfahrt angesichts einiger Texte von Rimbereid und Duncan nachgedacht, und dabei vor allem mit Andrew Duncans Martyrium und Triumph des Sergej Koroljow operiert. Koroljows Triumph bestand realgeschichtlich letztlich darin, dass er nach seiner Verbannung hinter den Polarkreis, wohin ihn Stalin schickte, die Trägerraketen konstruierte, mit denen die Wostok-Raumschiffe auf eine Umlaufbahn gebracht wurden. Im ersten dieser Raumschiffe saß Juri Gagarin, das freundliche Gesicht der sowjetischen Raumfahrt. Gagarin kam 1968 beim Absturz eines Testflugzeugs, ein militärisches Jagdflugzeug, das er als Testpilot gesteuert hatte, ums Leben. Eine weitere Ambivalenz, die in den oben zitierten Versen wohl eingefangen wird.

Im Nürnberger Verlag Starfruit ist nun ein Buch erschienen, das ein langes Gedicht von Etel Adnan enthält, das eben jenem ersten weltraumfahrenden Menschen gewidmet ist und „Trauermarsch für den ersten Kosmonauten“ heißt. Letztlich feiert das Gedicht Gagarin, aber Adnan stellt auch Gagarins Flug und seinen späteren Tod in einen historisch-kosmologischen Kontext.
    Derzeit ist viel vom Anthropozän die Rede, und davon, dass es mittlerweile keine Bereiche auf der Erde mehr gibt, die nicht vom Menschen und seiner sowohl gestaltenden wie zerstörerischen Hand beeinflusst sind und vom Menschen umgestaltet werden. Vielleicht kann man aber, und wahrscheinlich sollte man, parallel dazu eine andere Zeitrechnung aufmachen.

Mit Gagarins Flug, vielleicht auch schon mit dem Start des ersten Sputniks, ist die Menschheit nämlich in eine postplanetare Phase eingetreten. Die Erde als Heimatplanet, und diese Bezeichnung macht ja nur Sinn, wenn Menschen in der Lage sind, den Planeten zu verlassen, wird in ihrer Gänze und, wie Kosmonauten als auch Astronauten gerne betonen, Verletzlichkeit aus dem All hier zuallererst sichtbar.
    Adnan nimmt diesen Universumsblick auch bezüglich der Geschichte ein. Zeitalter werden mit kosmischem Abstand zu Episoden. Aber auch Grenzen verschwinden unter dem Blick aus dem All, wie die Nationalitäten der Astro- oder Kosmonauten verschwimmen.

(Sigmund Jähn etwa, der erste deutsche Kosmonaut saß zusammen mit dem westdeutschen Ulf Merbold um einen arabischen Tisch, als im Fernsehen der Mauerfall verkündet wurde. Die Raumfahrer hatten die nationale Vereinigung bereits vollzogen und vor allem das Nationale überwunden.)

Ich war in Karthago und der amerikanische
Satellit kreiste über dem Land des heiligen
Augustinus. Ich sagte zu ihm Afrikaner

schreibt Adnan. Und sie beschreibt auch die kosmische Vermischung irdischer Erfahrungen:

In den dunklen Sälen der
Kinos verseuchen Filme über
Prophezeiungen das Publikum. Batman,
Gagarin, Superman, Martin Luther King
das ist der Kampf der Engel.

Adnan ist durchaus bewusst, dass im Rücken der Kosmonauten eine Erde kreist, die mit Archaismen vielerlei Art zu kämpfen hat. Die Menschheit hat sich noch lange nicht als befriedete Gattung erwiesen. Aber der Menschheitsblick geht nach vorn: „ … was auch sehr gefährlich ist. Wir begreifen die Welt als altes Zuhause, das wir einfach wegwerfen können. Statt dass wir uns um die ökologischen Fragen kümmern, träumen wir davon, ins All zu fliegen.“

Adnan äußert das in einem Gespräch, das die Herausgeber und Übersetzer Joshua Groß und Moritz Müller-Schwefe mit der Autorin führten und das den Band beschließt.
    Durchschossen sind sowohl Poem als auch Gespräch mit Papierarbeiten Adnans. Grandiose Zeichnungen, filigran, und aber auch kraftvoll. Kryptische Abstraktionen, die man meint, lesen zu können.
    Damit aber nicht genug. In der Mitte des Buches, im Zentrum gewissermaßen, finden sich Farbfotografien von startenden Raketen. Zumindest in mir entsteht bei der Betrachtung ein Sehnsuchtssog. Sehnsucht sowohl nach Kindheit als auch nach der im Öffentlichen verblassenden Raumfahrt-Utopie. Mit diesen Fotos, mit diesen darauf sichtbaren Feuerzungen und Hitzezylindern sind wir wieder bei dem eingangs erwähnten Koroljow nebst Duncans Gedicht und bei einem weltumspannenden Raumfahrt-Mythos und gewissermaßen zu Hause im erdnahen Bereich.

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