Nora Gomringer: Gedichte aus/auf Netzhaut
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Katharina Kohm
Die Myzele der Nora Gomringer
XX. Münchner Rede zur Poesie im Lyrik Kabinett
Nora Gomringer zieht – an, zieht Leute. Im beinahe überfüllten Lyrik Kabinett anlässlich der XX. Münchner Rede zur Poesie am 18. Februar 2019 saßen gefühlt so viele Zuhörerinnen und Zuhörer wie selten zuvor. Sie waren an diesem Abend aber auch zum Zuschauen da, denn, wie Frieder von Ammon, Mitherausgeber der Reihe, die Rednerin skizzierte, lässt sich die Poetik Nora Gomringers nicht nur in der Tradition der konkreten Poesie und des Poetry Slam lesen, sondern auch jenseits des Performativen im Visuellen verorten. Denn Mündlichkeit, Körperlichkeit, das Performative verbinden sich bei Gomringer mit dem Visuellen. Dies führte u.a. zur neuen Kunstform des Poetry Clip im Netz, einer Art Kurzfilm, bei dem das Gedicht wie ein Filmskript fungiert – kurzum lässt sich das Ausloten von Neuland im Rahmen der Neuen Medien für das Gedicht mit ihrem Namen verbinden. Ein ständiges Erweitern der Grenzen. Ein Spinnen des Netzes, ein Sporen-Bilden auf der Spielwiese.
Ein Mensch und sein Medium – wie geschaffen für Neue Medien nutzt Gomringer das Netz, ihr Myzel, wie sie selbst eingangs sich in dieses Bild vom Netz des Pilzes einbezieht, und zeigte an zahlreichen Beispielen auf, wie Lyrik für diese Medien wie gemacht zu sein scheint, auch als Mittlerin zwischen den Kunstformen.
Beim Gesamtkunstwerk, das man in der Romantik, dann um 1900 schon einmal an der Schwelle einer neuen Zeit zelebrierte, oder in Bezug auf dada, scheint es heute wieder auf die Performanz, die Stimme, die Bewegung, das ablaufende Bild, die Collage anzukommen, und alles dies in Rezeption, in gegenseitiger Reziprozität zu einem Universum des Likens und Teilens. Diese Phänomene werden von Nora Gomringer genutzt, aber auch beobachtet. Hier lassen sich postmoderne Theorien und Metaphern wie Deleuze's Bild von den Rhizomen, die stark an das von Gomringer ins Feld geführte Myzel des Pilzes erinnern, mit den Neuen Medien korrelieren, ohne dass diese Verbindungen im Vortrag konkret ausformuliert wurden. Netz und Postmoderne gehören zusammen, brauchen Vertreter und Vertreterinnen, Gestalterinnen und Gestalter.
Aber auch trügerisch sei diese Nutzung und Interpretation des Netzes durch Algorithmen, Big Data, Bitcoins, so die Lyrikerin zu Anfang ihres Vortrags. Wie auch manche Selbstinszenierungen im Bereich der Netzpoesie fraglich zu sein scheinen. Die alten Klischees des belockten, hageren und sensiblen jungen Poeten sind in diesem neuen Medium eher zweischneidig, aus der Zeit gefallen, wobei diese Spuren vom Dichterklischee eher männlich als weiblich seien, so Gomringer. So schien in diesem Auftritt der Lyrikerin hier zeitgleich unausgesprochen eine Art Kontrapunkt gesetzt.
Doch die XX. Münchner Rede zur Poesie blieb gerade bei diesem Gedanken nicht stehen, grub sich in keine theoretische Betrachtung ein. Sie war kein großes Ganzes, bot keine geschlossene Poetik, dafür an beinahe jedem Punkt Anknüpfungsmöglichkeiten, Schaltstellen, an denen man sich wiederum vernetzen, einhaken, einklinken konnte. Denn um das konkrete Gestalten ging es anhand der Beispiele, nicht ums Theoretisieren.
Dass das Interpretieren beispielsweise, das laute Lesen eines Gedichts, sozusagen seine Vertonung, Ähnlichkeiten mit dem Interpretieren eines Musikstücks haben könnte, wurde durch die bisherigen Veröffentlichungen, insbesondere durch Peng Peng Peng, dem Hörspiel mit Philipp Scholz, dabei in den Fokus gerückt. Man könnte so weit gehen: Das Gedicht existiert noch nicht auf dem Papier, wie Musik auch nicht allein als Partitur existiert, sondern erst in der Aktualisierung und dem Moment einer Lesung. So wird die traditionelle Verortung der Lyrik in der Mündlichkeit nicht nur bestätigt, sondern der Akzent vornehmlich auf das Hervorheben der Interpretation, das Sprechen des Gedichts und dessen Vertonung gelegt. In jedem Fall lassen sich Gedichte völlig unterschiedlich lesen – dies ist schon Interpretation und Erkennungszeichen des eigenen Zugangs zu eben jenem Text. Man verhält sich dazu, indem man spricht, intoniert. Diese einleuchtende Tatsache hat Nora Gomringer bei ihren Veröffentlichungen immer umzusetzen und konsequent zu inszenieren versucht, da sie sich der Sichtbarmachung ihres Zugangs zum jeweiligen Gedicht verschreibt. Häufig ist der Unterschied zwischen dem Lesen eines Gedichts und einer Aufführung als kleines Theaterstück bei ihr kaum mehr auszumachen, wodurch die Grenzen zwischen den Künsten folgerichtig zu oszillieren beginnen. So fügt sie oft Getrenntes zusammen, ganz im Sinne ihres Netzgedankens.
Wie man ein Gedicht auf unterschiedliche Weisen vortragen kann, und so die Grenzen von Kunst verschwimmen, so kann man auch auf allen Materialien schreiben, das Geschriebene dann in unterschiedliche Kontexte einfügen, einbetten, paratextuelle Bezüge schaffen. Daraus resultieren interessante Text-Kontext-Bezüge, die das Rezipieren entscheidend prägen. Dies kann dann gleich im Netz zugänglich gemacht, mit der Welt geteilt werden – sofern diese tatsächlich, in Form von Likes zählbar, hinschaut.
Beispiel eines Text - Kontext-Postings von Nora Gomringer
Foto: Katharina Kohm
Die Interaktion von Text und Umwelt, zusätzlich inszenierte oder natürliche Kontexte erweitern die Möglichkeiten des Gedichts und lassen es in jenen Bezügen aufscheinen, in die es eingebunden wird. Dies aber kann dann im Netz nochmal völlig neu in den Zusammenhang eines Diskurses gestellt und verbreitet werden.
Dieses Phänomen beobachte Nora Gomringer nicht nur, sondern beteilige sich daran interaktiv, lote auch dort die Grenzen aus. Die neuen Formen des Publizierens, die sich dabei dem Lyriker, der Lyrikerin eröffneten, scheinen grenzenlose Freiheiten zu bieten. Aber es liegt dann doch an den Klickzahlen, Interesse und Vernetzung, inwieweit sich solche „Produkte“ verbreiten. Ein Heischen um Aufmerksamkeit ist es eben doch noch immer, vielleicht sogar in verstärktem Maße.
Dabei geht ein solches „Netz“ von gerade dem Knotenpunkt aus, von dem man es betrachtet, und es führt auf diesem Wege umgekehrt zu der Person zurück. Es stand kein Kollektiv auf der Bühne, sondern eine einzelne Dichterin, die diese Möglichkeiten nutze und beobachtee und dies als Influencerin gestalte (Status von facebook verliehen).
Wie bei keiner anderen Dichterin und auch als erste innerhalb der Münchner Reden zur Poesie, als Pionierin auf mehrere Weisen, stehen ihre Arbeiten im Kontext dieser neuen Medien. Weniger theoretisch, vielmehr darstellend, führte Nora Gomringer durch den Abend und knüpfte flächige Knotenpunkte in Form von Beispielen aus den Bereichen der Collage, des Postens von Texten in verschiedenen Kontexten, von Videoanimationen zu vorgetragenen Gedichten. Wie das von ihr vorgestellte Metaphorem des Myzels und auch des Spinnennetzes ließ sich diese Bildlichkeit immer wieder auf den Vortrag selbst anwenden, sodass er in Konsequenz genau dieser bunte Quilt-Teppich wurde, von dessen Verbindungspunkten man hätte noch weiter in die Tiefe vordringen können.
In jedem Fall wurde an diesem Abend klar, dass die Lyrik aus ihrem konventionellen Rahmen einer sog. Wasserglaslesung auf verschiedenste Weise herausgehoben werden kann, bzw. dass sie als gestalterisches Element innerhalb eines multimedialen Kontextes wirken und so ihr Wirkungsrahmen, jeweils ausgestaltet und auch inszeniert, ausgeleuchtet werden sollte. So wird deutlich, dass Lyrik sich bei allen möglichen künstlerischen Prozessen und im urbanen Raum zeigt und, darin verankert und nicht isoliert, betrachtet wird. Die Vielgestaltigkeit von Lyrik, die vielen Möglichkeiten ihres Bespielens in heutiger Zeit erschienen an diesem Abend auch als Gegenbeweis zum Totsagen des Gedichts. Das Gegenteil ist der Fall. Lyrik scheint wandlungsfähig und mit anderen Künsten verbunden, so dass ihre Möglichkeiten schier grenzenlos zu sein scheinen. Passt sich das Gedicht dem Zeitgeist an? Formt es ihn nicht vielmehr?
An ebenjener Schnittstelle zwischen Gestaltung und distanziertem, reflektiertem Beobachten sitzt die Lyrikerin und Rezitatorin Nora Gomringer, die in ihrer Rede nicht nur Beispiele ihrer Wirkungsmöglichkeiten v.a. im Netz, sondern auch ihre Verantwortung betonte, und trug diesen Reichtum, Sporen säend, ins Publikum mit ihrem Spiel der postmodernen Theoreme, der Simulacra, diesen Bezug jedoch an dieser Stelle nur angedeutet, rezipierend angeknüpft.
20. Münchner Rede zur Poesie
Nora Gomringer: Gedichte aus/auf Netzhaut - vom Verhandeln des Poetischen im Öffentlichen. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2019. 30 Seiten. 12,00 Euro.