Max Lawton: Der Mann, der zu viel unterschrieb, Teil II
Montags=Text
Max Lawton
DER MANN, DER ZU VIEL UNTERSCHRIEB:
TRIPTYCHON VON DER UMKEHR 1
Aus dem amerikanischen Englisch von Matthias Friedrich
V.
Auf dem Weg
in den Riverside Park machte ich mir wegen Jordyn große Sorgen, meiner
kategorischen Aussage zu Smirnovs Unterschrift zum Trotz. Sie war die Letzte,
die so ein Video hätte finden sollen, und hierfür gab es mehrere Gründe: 1. Ich
konnte mir nicht vorstellen, dass sie Pornos guckte, 2. und wenn doch, dann
nicht dieses Fetischgedöns, das im ikonischen Kink Castle (na ja: dem San
Francisco Armory) produziert wurde, und 3. auch wenn man von der nahezu
unlösbaren Frage absah, wieso sie sich an alten Fettsäcken aufgeilen sollte,
die mit einem Analdildo penetriert wurden, ihr Groll auf Smirnov war nicht von
der Hand zu weisen.
Jordyn
stammte aus dem mittleren Westen – Kansas oder Nebraska, glaube ich.
Aufgewachsen war sie in einer Vorstadtsiedlung, einem dichten Labyrinth aus
Häusern im Craftsman-Baustil, im Hintergrund das beständige Summen der Hochspannungsleitungen
und im Zentrum die Skateboards, die durch den Mini-Skatepark kratzten wie
Kreide über eine Tafel. Mit Deutsch hatte sie erst im College angefangen, was so
selten gar nicht vorkam – viele Spezialisten lernten ihre Spezialsprachen im College –, doch etwas Eigenes daraus gemacht
hatte sie nie. Flüchtige Blicke, wie sie im Lesesaal saß, vor sich die mit Post-Its
gespickten Bücher, der Rand jeder einzelnen Seite mit Anmerkungen
vollgekritzelt. Sie hatte immer ein Moleskine-Heft neben sich liegen und
schrieb jedes ihr unbekannte Wort auf, in der Hoffnung, diese Lernmethode würde
Samen aussäen, die in Bälde Früchte trügen. Bislang anscheinend ohne Erfolg.
Und obwohl er
selbst kein Deutscher war und die Sprache aus seinem Mund schulmeisterlich und grundsätzlich
gewöhnungsbedürftig klang, fühlte sich Smirnov dazu berufen, Jordyn ihre unzureichenden
Sprachkenntnisse unter die Nase zu reiben. Damit sie sich anstrengte. Nur war
das Problem, dass sie sich nicht noch mehr anstrengen konnte. Stand jetzt schlief
sie kaum noch und die Sache war nun einmal die: Die Samen fremde Sprachen
gingen in den Köpfen mancher Leute einfach nicht auf. In Jordyns Kopf wuchsen
nicht einmal aus den Plastilin-Oberflächen der Samen Schösslinge.
Zog man dann
noch das andere Stück kulturelles Gepäck in Betracht, das sie aus dem Mittleren
Westen nach NYC mitgebracht hatte – ihren evangelikalen Glauben, den sie jeden
Sonntag in die Megakirche in Midtown mitschleppte (ich stellte mir vor, dass
nur Touristen solche Kirchen besuchten – waren sie nur für sie gedacht?) –, hatte
Jordyn vermutlich jedes Wochenende dafür gebetet, dass sich ihre deutschen Lese-
und Sprechfertigkeiten besserten, und in Zungen geredet, was das Zeug hielt, denn sie hoffte, dieses blasierte Geschnatter,
das den Pastor beeindrucken sollte, möge auch die ertraglose Erde ihres
Verstandes befruchten … Ich konnte mir vorstellen, wie es in dem Gebäude
aussah: Es war ganz bestimmt brandneu, oben an der Decke die Klimaanlage, an
jeder Wand der Vorhalle glänzende Plasmabildschirme. Im Hauptsaal allerdings
dann nicht ganz so viele davon, dafür
jedoch zwei gigantische LED-Bildschirme auf jeder Seite des Pastors. Das war
die Bühne. Das ganze Spektakel hatte etwas Römisches – von der Spitzentechnologie
einmal abgesehen. Eben an diesem Ort durchlitt Jordyn Szenen der
Selbstbefragung, die einem Dostojewskij in praktisch nichts nachstanden. Sie wurde
das Gefühl nicht los, sie selbst sei schuld an ihrem mangelnden Scharfsinn,
außerdem sei sie von ihren fadenscheinigen Gebeten, die sie, beide Füße auf dem
niederflorigen Nylonteppichboden in diesem kühlen Raum, ausgesprochen hatte,
mit irgendeinem Fluch gestraft worden. Sie schob die Schuld entweder auf ihre nicht
überzeugenden Gebete oder auf ihre Mutter, weil diese damals, als sie noch in
der Gebärmutter gewesen war, etwas für die Entwicklung ihres fötalen Gehirns
absolut Unabdingbares nicht gegessen hatte … sie dachte da an Fisch, Gemüse
oder Beeren, hatte es aber natürlich nie angesprochen.
Jordyn
erzählte anderen oft, was für ein Frauenhasser Smirnov ihrer Einschätzung nach
sei. Und während hier und da Promotionsstudierende des Instituts bekrittelten,
wie Smirnov sie manchmal zwang, über seine eigenen lausigen Ideen zu schreiben,
beschränkte sich sein Frauenhass auf mit übertriebener Begeisterung
dargebrachten Zuspruch, soll heißen: Er dachte wirklich, sein Beharren würde
Jordyn in ihrer Karriere weiterhelfen, und auch wenn seine Mühen manchmal, wenn
man sie als solche anerkannte, an Glanz verloren, ließ Smirnov keine
Anstrengung aus, um Frauen die gleichen Chancen wie Männer zu geben und auf
weibliche Stimmen in Literatur und Forschung aufmerksam zu machen.
Jordyns Groll
auf Smirnov stieß nicht wirklich auf Zuspruch.
Während wir
also auf einer Bank neben der ansehnlichen Steinmauer saßen, von deren steiler
Anhöhe aus der Blick in den Riverside Park ging, hielt Adam sein Handy
waagerecht in der Hand und drückte auf den Play-Button eines Videoclips, den
Julia ihm zugeschickt hatte. Die Waschbären, die Tag für Tag in
angsteinflößenden Horden kreischender Biester auf der anderen Seite nach oben kletterten
und weder Beutel- noch Nagetiere waren, hatten sich eben erst zusammengerottet,
um die Mülltonnen zu plündern, die den Pflastersteinpfad neben der Wand
säumten. Vom tanninhaltigen, an schwarzen Tee erinnernden Geschmack meines
TRILOGY-Kombuchas zogen sich meine Lippen innen zusammen. Aus der Krone einer
Pappel flog eine einsame Elster auf.
Bestimmt wollte sie nach New Jersey.
So langsam
wurde ich kribbelig, weil ein Risiko bestand, dass Passanten sehen konnten, was
wir uns da anguckten, und bestand darauf, dass wir uns auf eine andere Bank
setzten, damit uns nur die Tiere hinterherspionieren konnten, die aus den
Bäumen krochen. Es war erst kurz nach 20 Uhr, vielleicht kämen also noch Familien
mit Kindern an uns vorbei.
Nach einem
fünfsekündigen Werbeclip für Jerkmate, einer Camsex-Seite, die es in Sachen
Suchtfaktor und Interface anscheinend mit den bevorzugten sozialen Netzwerken ihrer
Nutzer aufnehmen konnte, kamen wir der Sache allmählich näher und befanden uns
in einem engen, dunklen Raum, der an eine Einzelkabine in einem Massagesalon
erinnerte. Smirnov saß vor uns – er war nackt, drahtige Linien
(Dehnungsstreifen) allüberall auf seinem mit schwarzen Haaren überwucherten
Schmerbauch. Seine Oberschenkel quollen massig und schwabbelig aus dem weißen
Plastikstuhl. Er schaute an der Kamera vorbei, und sein winziges, längst
steifes Glied ragte aus dem moosigen Schamhaarwald hervor, die purpurne Eichel
mit etwas besetzt, das nach Schorf aussah, violett-rote Flecken an einem eh
schon violetten Ding, und beschnitten war er auch. Das auf dem Regal etwa drei
Meter hinter ihm platzierte Kerzenarsenal die einzige Lichtquelle, von einer
farbigen LED-Lampe, die Smirnov mit glühenden, violetten Punkten besprenkelte,
einmal abgesehen. Auf dem Boden hinter dem Stuhl lag eine Matratze. Etwas an
Smirnovs Gesicht war ins Wanken geraten, ab und an ergriff ein Zucken Besitz
davon. Theoretisch ließ sich das aufs Nervenkostüm zurückführen, Smirnov konnte
unmöglich Erfahrung mit so etwas haben,
aber da hing sonst noch was an seinem Gesicht schief, wodurch der Gedanke
aufkam, es könne ihm jederzeit von den dahinterliegenden Knochen abgestreift
werden, etwas, das, ähnlich wie das von den auf dem Regal platzierten Lichtquellen
herabsickernde Kerzenwachs, verflüssigt, tröpfelig
wirkte. Ich malte mir aus, wie die Waschbären hinter mir unbedingt auch mal
gucken wollten, malte mir aus, wie sie schmachtend die Pixel beaugapfelten, die
sich zu Smirnovs Gesicht zusammenfügten. Ja, diese Biester hatte DeNiros
digitale Verjüngung in The Irishman nicht
überzeugt, manchmal bekakelten sie noch, was da wohl gelaufen war, und ganz ähnlich
verhielt es sich beim Gesicht unseres Professors hier. Unter dem Blick der
Biester erzitterte jeder Pixel. Die Waschbären hatten Smirnov völlig in ihrer
Gewalt.
Bald schon
jedoch überließen sie ebendiese Gewalt einer Frau, die hinter der Kamera in den
Frame trat.
Genau in
diesem Moment rauschte ein silberner Subaru vorbei, aus dem überproduzierter Screamo
aus den frühen Nuller Jahren dröhnte – nicht im Frame, sondern in der Welt. Als
er von der 108th Street links auf den Riverside Drive abbog, quietschten seine
Reifen auf. Ich warf einen Blick über die Schulter und erhaschte einen Blick
auf den Fahrer des Wagens, der ein weißes Y-Neck-T-Shirt trug und sich viel zu
viel Gel in die Haare geschmiert hatte. Es klang, als hätte er den Bass ganz runtergedreht.
Während er südwärts fuhr, war ich im tiefsten Innern davon überzeugt, er wolle
nach Long Island, genauso wie zuvor bei der Elster, die nach New Jersey flog.
Es lohnte
sich, noch einmal durchzukauen, welche Personen in diesem Gefüge welche Rolle
übernahmen. Zuerst (und vielleicht am wichtigsten) war da Jordyn, in der
Megakirche vom kühlen Hauch der Klimaanlage durchgepustet. Die Idee, dieses
Video zu finden und es an die
Professoren zu schicken, war ihr gekommen, als sie in Zungen redete. Da die
Vinylverkleidung der Flure an der Gipskartonplatte dahinter angebracht war,
mussten die Architekten der Megakirche berechnen, wieviel Kraft die daran
aufmontierten Breitbildfernseher ausüben durften, oder sie mussten das Risiko
eingehen, dass das gesamte Konstrukt auf den niederflorigen Teppichboden davor
krachte. Dann gab es da noch Smirnov in dem Video, mit der Domina, die sich
soeben zu ihm gesellt hatte. Bis auf ein Paar Stiefel, das ihr bis zu den
Oberschenkeln reichte, war sie nackt. Sie war eine wohlproportionierte Frau und
schien aus dem Mittleren Osten zu stammen; über ihren Hüften zwei Tattoos in
arabischer Schrift, aus dem Koran, hoffte ich. Ihr Schamhaar war unrasiert,
aber getrimmt, und bauschte sich wie ein Wolkenbüschel nach außen. Smirnovs
ganzer Leib zitterte so unkontrolliert wie eine bei ungeübtem Pilates-Training
umklammerte Bodendiele, und da machte die Stiefelträgerin, obwohl sie zunächst
uns gegenübergestanden, Smirnov die Schultern gestreichelt und unterdessen mit
mandelförmigen Augen, deren Farbe in der Finsternis schwer zu erkennen war, in
die Kamera geschaut hatte, flugs eine Kehrtwende und steuerte die
halbabgebrannten Kerzen – sie hatten den Umfang von Bäumen im Teenageralter –
auf dem an der Wand aufmontierten Regal an. Vermutlich
waren sie in Chelsea oder Chinatown – das war mein Bauchgefühl.
Aber da waren
nicht nur Jordyn, Smirnov und die Domina, auch die Objekte an der Wand (die
Regale und die Breitbildfernseher) fügten sich zu einer Gleichung zusammen, die
es zu knacken galt. Dann gab es da noch die Elster, die sich auf den Weg nach
NJ gemacht hatte, dicht gefolgt von dem Typen, der auf der Fahrt nach Long
Island Screamo hörte – der Bass der Musik genauso seiner eigentlichen Natur
beraubt wie skrupellose Cannabisverkäufer, die eine Marihuanablüte ohne THC anboten
und ahnungslosen Kunden jetzt, wo der Besitz von Gras legal war, erzählten, die
Lizenzen für den Handel mit dem einzig
wahren Zeug seien bereits erteilt. Das stimmte so nicht. Die Elster und der
Musikhörer zeigten zwei verschiedene Auswege aus der Stadt auf, und ihre
entgegengesetzten Blickwinkel – wummernde Musik und leichtes, befittichtes
Wesen – hatten womöglich einen tieferen Sinn, aber genau wusste ich das nicht.
Als Letztes, nachdem ich meinen Weg durch Midtown und Chelsea (oder Chinatown)
fortgesetzt und Anspielungen auf NJ und Long Island aufgenommen hatte, war da
das Bild von Melissa, wie sie sich mir auf dem Gewölbe hingab und eines nicht
zeugungsfähigen Zeugungsaktes frönte, und zwar so, dass es die Toten vielleicht aufgeilte, wobei ich mir
jedoch sicher war, dass er (der Akt) unterm Strich ein edelmütigeres Ziel verfolgte.
Die Nachricht unter ihren Brüsten schrie den Geistern im Himmel zu: „Wer viel
weiß, hat auch viel Ärger. Je mehr einer weiß, umso mehr leidet er.“ Auch
wusste ich, dass wir diesen Schatten mit unserer Beiwohnung in ihrem Leid Mut
zugesprochen hatten.
Dennoch, je
weiter die Situation fortschritt, desto unbarmherziger wurde das Video, wobei
sich jeder einzelne Pixel, hätte man dicht genug herangezoomt, in einen
fusseligen Fitzel aus Licht oder Dunkelheit verwandelt hätte.
Zunächst
träufelte die Frau Kerzenwachs auf Smirnovs Genitalien, wobei er zuckend mit
dem Stuhl nach hinten kippelte, sein Gesicht mit den Händen bedeckte und
aufjaulte. Anschließend tröpfelte die Frau etwas davon auf sein schwarzes
Haupthaar, und ich fragte mich, ob mir in den Besprechungen oder Seminaren
jemals einzelne Brandmarken in Fünf-Cent-Größe auf seiner Stirn oder seinem
Nacken aufgefallen waren. Ich ging nicht davon aus. Schließlich zog sie ihm die
Sklavenmaske über den Kopf (vermutlich quetschte sie ihm dabei das Gesicht ein
bisschen ein – wie eine Batmanmaske, die ich als Kind zu Halloween bekommen
hatte, woraufhin ich meinen Vater überredete, sie anzuziehen, nur so, zum Spaß,
mit der Folge, dass ich heftig daran hatte herumzerren müssen, um sie wieder
runterzubekommen), half ihm auf die Beine und bückte ihn über den Stuhl. Sein
Bauchfett schwabbelte hin und her wie nur was, und die Frau verschwand erneut
hinter der Kamera – um ihren Strap-on zu holen, der bei ihrer Rückkehr bereits
an ihren Schenkeln und Hüften festgeschnallt war. In ihrer rechten Hand hielt
sie eine Flasche Astroglide und kippte sie ohne große Hemmungen auf den
Analdildo. Mehrere Spritzer Gleitgel klatschten auf die mutmaßlichen
Koranzitate. Dann packte sie seine Schenkel, kippte noch mehr Astroglide auf
Smirnovs Anus (scheinbar – das konnten wir im Frame nicht erkennen) und stieß
in ihn rein. Er begann zu schreien, würgte zwischen jedem Ausruf ein
unerträgliches Keuchen hervor und äußerte in dem Raum, der vermutlich nach
Patschuli und Weihrauch duftete, kein Wort, nur unverständliche Schmerzens- und
Lustschreie, die Frau besorgte es ihm mit
unverbrüchlicher Härte, zog ihr Instrument, nachdem sie es nur nachlässig und
flüchtig mit Astroglide nachgeschmiert hatte, heraus und rammte es wieder in
ihn rein – das tat doch wohl weh, in Smirnov regte sich doch bestimmt irgendwo
Widerstand, hier und da eine Stelle auf dem Analdildo, die unbeleckt geblieben
war von der Feuchtigkeit … Aber je heftiger sie zustieß, desto stärker schien
sich der Schmerz zu lösen, inzwischen hielt sie nur noch eine seiner Hüften mit
der Linken fest und befriedigte sich mit den langnageligen Fingern der Rechten.
Kaum zwei Minuten, nachdem sich die Frau die Finger reingesteckt hatte,
explodierte Smirnov in Richtung der Kamera, wobei sein Ejakulat fast auf das
Objektiv klatschte. Auch die Frau kam, ihre Bauchmuskeln verkrampften und ihr
Rumpf neigte sich vornüber, Smirnovs behaartem Rücken entgegen, der mit seiner
schweißtriefenden Nässe keinen idealen Ort für eine postkoitale Einschnaufpause
bot. Ihre Hüften zuckten noch einige Male nach vorne – behutsame Stöße waren
das – und Smirnov bölkte beständig weiter.
Kurz bevor
Adam das Video wegklickte, überkam mich der Verdacht, dass sich die Waschbären
hinter uns zusammenrotteten. So leise
hatten wir die Lautstärke auch wieder nicht gedreht, und die Viecher unten im
verwilderten, an die Steinmauer grenzenden Waldstreifen konnten bestimmt hören,
was wir uns da anguckten – und die Frage, ob vorbeikommende Familien (es hatte
mehrere gegeben – das Video ging an die zehn Minuten) war besorgniserregender.
Zum Glück war Smirnovs Gebrüll so schmerzerfüllt gewesen, dass sie mit hoher
Wahrscheinlichkeit dachten, wir würden uns Videos von schiefgegangenen Stunts
oder Hinrichtungen im Mittleren Osten anschauen. Jedenfalls kratzten die
Waschbärenpfoten an der Wand hinter uns herum, scharfe, kleine Klauen, die sich
an der unebenen Oberfläche rohen Natursteins festklammerten, Augen, die gerade
eben so über die Mauer lunzten. Heute Nacht würden sie nicht über die Mülltonnen,
sondern etwas anderes herfallen.
Etwas, das Smirnovs Gebrüll ohne Worte auszudrücken imstande gewesen war.
Die dunklen
Pixel im Video erzitterten.
Die
Sklavenmaske war stabiler und sicherer, als Smirnovs Gesicht es je hatte sein
können – im Frame oder in der Welt.
Adam schloss
das Tab mit dem Video, schaltete sein iPhone in den Ruhezustand und steckte es
in die Hosentasche.
VI.
„Alter … was
für eine Scheiße …“, sagte Adam, dann drehte er den Deckel seines Kombuchas ab
– vorsichtig, weil diese Becher beim Versand oft durchgeschüttelt wurden, aber
die Blasen blieben auf einem sicheren Niveau und das Getränk lief nicht über –
und trank einen Schluck.
Wir badeten
im Natriumdampflampenschein und blinzelten in die Finsternis. Der säuerliche
Geschmack, der mir im Mund klebte, seitdem Adam mir erzählt hatte, dass Jordyn
hinter alledem steckte, wurde penetranter. Ich leitete meine eigene Ermittlung
in die Wege:
„Junge … ist
doch das Allerletzte, ey, wirklich das Allerletzte, dass Jordyn sich so Videos
anguckt … Also, ich wär ja schon überrascht, wenn sie überhaupt Pornos guckt,
geschweige denn so krasses Zeug. Und, also, äh … nee, brauchst jetzt nicht dein
Handy rauszuholen, aber Smirnovs Gesicht sah am Anfang vom Video schon ‘n
bisschen komisch aus. Wir haben doch, äh, The
Irishman zusammen geguckt, oder?“
Adam nickte.
Er öffnete seine Packung mit Walker’s Shortbread – zwei rechteckige, ich
hingegen hatte mich für zwei runde entschieden.
„Ja … genau.
Außerdem ist es viel zu praktisch, dass ihm die Sklavenmaske aufgezogen wird,
bevor, na ja, die Lust seine
Gesichtszüge so stark verändert, dass die Programmierung
fast umsonst ist. Das Video eignet sich doch wunderbar für einen Deep Fake,
oder?“
Adam nickte.
„Aber na ja …
ich meine … wen hätte sie für sowas bezahlen sollen, und hat sie es etwa von
ihrem eigenen Computer aus gemacht? Also – mit der Person, die das gemacht hat,
schreiben, es runterladen, auf PornHub posten und sowas halt. Das lässt sich
doch kinderleicht zurückverfolgen, oder? Sie hätte sich also extra ‘nen Computer
kaufen müssen, was ja ‘ne Rieseninvestition ist. Wie groß ist Jordyns Groll auf
Smirnov, was meinst du?“
Adam zuckte
mit den Schultern, auch ich befreite meine runden Shortbreads aus der
Verpackung und wusch sie mit TRILOGY herunter.
„Des Todes.“
Zwei Kinder bretterten
auf ihren Rollern vorbei, und ihre Mutter, die ihnen hinterhertrottete, rief
ihnen zu, sie sollten langsamer machen. Normalerweise drosseln Kinder das
Tempo, wenn sie über Pflastersteine fahren – andernfalls geht ihnen das Rumpeln
durch Mark und Bein. Wir knabberten an unseren süßen Plätzchen und nippten an
unseren Kombucha-Bechern, bis die Mutter verschwunden war. Obwohl ich meinen
Kombucha noch vor dem Video aufgemacht hatte, hatte ich währenddessen nichts
davon getrunken.
„Stimmt“,
bestätigte ich, „aber … ich meine … damit fährt die doch ihr Leben an die Wand,
oder? Wenn die sowas hier abzieht. Und ich weiß, die klischeehaften
Vorstellungen, die man sich so über Evangelikale macht, die setzen ja voraus, dass die total verkorkst
sind, aber glauben wir wirklich, dass eine gläubige Christin, die sagt, sie
will die Nachfolge Christi antreten, hab ich selber so von ihr gehört … glauben
wir ernsthaft, die könnte sowas abziehen?“
Adam zuckte
mit den Schultern.
„Wenn man
jemanden so tief verachtet … wo sie doch … die amerikanischste Amerikanerin
aller Zeiten ist, aber immer noch ein riesiges Bedürfnis hat, eine zertifizierte Touristin in einer anderen
Sprache und Kultur zu sein. Was für eine Krankheit ist das? Wenn man unbedingt
will, dass du ein bisschen anders dargestellt wirst, als das was du – was man –
eigentlich – ist, dass man das Risiko eingeht, das eigene Leben kaputtzumachen,
nur weil man die Person vernichten will, die einem sagt, dass man nicht gut genug
ist. Soll das irgendein Zeichen sein? Oder, hm, ein Impuls?“
Adam
schüttelte den Kopf.
„Stimmt … das
macht einfach keinen Sinn… andererseits könnte Smirnov selbst der Typ in dem
Video sein. So sehr nach einem Deep
Fake sah das auch nicht aus, also, es wäre verständlicher, würde Smirnov selber
auf so Zeug stehen. Wer fährt heutzutage denn nicht auf komischen Kram ab? Und,
also, Jordyn weiß nicht, wie er nackt aussieht, will ich meinen … Theoretisch
könnte er widerlegen, dass er es ist. Der Schorf auf der Eichel von dem Typen, der
war schon ein ziemlich eindeutiges Merkmal. Also … äh … genau, ich weiß nicht,
ob das ein Argument für den Deep Fake sein soll oder dagegen, aber widerlegen
ließe sich das theoretisch schon … Falls er einem Tenure-Track-Tribunal seinen
Schwanz und seine Eier zeigen müsste …“
„Weißt du,
was das Schlimmste ist …“, sagte Adam.
Nun war es an
mir, den Kopf zu schütteln.
„Deep Fake
hin oder her, das Video ist auf PornHub … was heißt, er musste ein
Freigabeformular unterschreiben und seine Identität bestätigen … wie hätte
Jordyn das anstellen sollen?“
Ich feixte
und sagte: „Tja, wir wissen ja, dass er seine Überschrift überall hinklatscht
…“
Das zweite
Mal an diesem Abend, dass wir diesen Witz erzählten.
Aber Adam
fand ihn immer noch zum Brüllen komisch.
Und voller
Wehmut zogen wir uns für den Rest des Abends in unsere jeweiligen Wohnun-gen
zurück. Beide wollten wir vor dem Schlafengehen noch ein paar Stunden lang in
unseren deutschen Büchern lesen (selbstverständlich in der Originalsprache).
Das sollte eine Solidaritätsbekundung für Smirnov sein und eine Möglichkeit,
Jordyn auf die Palme zu treiben.
Am nächsten
Morgen hockten die Waschbären noch immer da, wo sie gesessen hatten, als Adam
sein iPhone wieder in die Hosentasche gesteckt hatte.
VII.
In den
darauffolgenden Wochen kristallisierte sich nach und nach ein Narrativ heraus.
Smirnov
schlug zurück – verzweifelt darauf bedacht, seinen Namen reinzuwaschen, ohne
vor der Institutsleitung seine Genitalien mit denen aus dem Video vergleichen
lassen zu müssen.
Wie Adam und
ich besprochen hatten (und über unseren stärkehaltigen Zylindern weiterhin
besprachen), war der Knackpunkt der Angelegenheit die Unterschrift; wenn man zu
den Darstellern herunterscrollte, die im Video auf der Seite auftraten, befand
sich neben dem Nutzernamen „peggedfatty69“ ein orange umrandetes Häkchen, was
nur hieß, dass Smirnov auf die eine oder andere Art seine Identität bestätigt
hatte.
Dieser Knoten
war recht leicht aufzudröseln. Wie bei einem Krisengespräch der
Instituts-leitung herauskam, bei der sowohl sie als auch Smirnov anwesend waren,
hatte Jordyn in den Wochen zuvor Smirnovs Leichtgläubigkeit ausgenutzt und sich
einen Scan seines in New York zugelassenen Führerscheins besorgt, denn sie
hatte behauptet, eine Sommerschule bräuchte den Ausweis der Person, die die
Empfehlung aussprach. Für PornHubs Freigabeformular hatte sie dann ein Bild von
seiner Signatur auf dem Bescheid zu ihrer Eignungsprüfung verwendet.
Während des
gesamten Verfahrens legte Smirnov eine unglaubliche Ruhe an den Tag. Zugegeben,
ab und an klang seine Stimme leicht verzweifelt. Aber wieso auch nicht? Jordyn
hatte das Video auch an verschiedene Nachrichtenmedien geschickt (die
Campuszeitung und die New York Times),
doch obwohl sie Smirnov angefragt hatten, um den Wahrheitsgehalt und die
Authentizität des Videos zu prüfen, waren sie schlau genug, keine Artikel über
den Vorfall zu veröffentlichen. Dennoch, alleine das Wissen, dass diese
Nachrichtenmedien über etwas verfügten, das seinen Niedergang so
außerordentlich schnell herbeiführen konnte, setzte den großen Mann einer
beträchtlichen Belastung aus.
Nachts wachte
seine Frau neben ihm nervös im Bett auf, sie verspürte das dringende Verlangen,
einen Blick auf ihren Gatten zu werfen und zu schauen, ob es ihm gut ging. Nur
schien das leider nicht der Fall zu sein: Immer dann, wenn sie ihn beäugte, war
sein Gesicht so bleich wie das Bettlaken, ein perfekter visueller Reim auf die
Stellen des oberirdischen Gewölbes, die die Schwärze der Zeit nicht durchädert
hatte.
Dann weckte sie
ihn auf, was ihn stets erzürnte, da er nur gedöst hatte.
Am nächsten
Morgen war er immer noch blass im Gesicht – wenn er endlich wieder
eingeschlafen, dann aufgewacht war.
In manchen
Nächten kam er einfach nicht ans Schlafen und machte, obwohl seine Frau dagegen
protestierte, einen Abstecher in die Stadt, um über den Pflastersteinpfad neben
dem Riverside Park zu spazieren, in seiner Jackentasche eine Packung Gauloises,
seine unteren Zähne mit jeder zusätzlichen Rolle krebserregenden Gewächses, die
er sich zwischen die feuchten Lippen steckte, noch schwärzer und schiefer. In
manchen Nächten rauchte er auf seinem Marsch ein ganzes Päckchen auf, und wenn
er sich sodann wieder ins Ehebett zurückzog, beschlich ihn eindeutig das
Gefühl, dass sich sein Atem in eine Art Giftgas verwandelt hatte, hermetisch
zwischen den vier Wänden des Zimmers eingeschlossen war und ihn wie auch seine
Frau vergiftete.
Es war ein
turbulenter Frühling; Regen besprenkelte das Fenster, während er und seine Frau
sich schwitzend hin und her wälzten und fast niemals miteinander schliefen.
Jordyns
Niedergang geschah schnell und ohne ein Wort.
Sie hatte von
ihrem eigenen E-Mail-Account mit einer Deep-Fake-Website („MrDeep-Fakes“) Kontakt
aufgenommen, wenigstens war sie so vernünftig gewesen, nicht ihre Uni-Adresse
zu verwenden, und hatte mit ihrer Chase-Student-Kreditkarte bezahlt. Sie hatte
einen Porno gefunden, der ihrer Meinung nach am wenigsten unheimlich wirkte
(ein Zweck der Sklavenmaske – die Unheimlichkeit des Gesichts hätte kaum Zeit,
bis zur Zuschauerperspektive durchzusickern)
und MrDeepFakes dann mehrere YouTube-Videos von Smirnovs Vorlesungen zukommen
lassen.
Bedachte man,
dass die Polizei doch noch eingeschaltet wurde, grenzte es an ein Wunder, dass
Jordyn niemals unter Anklage stand, doch ihre Familie setzte ihre Tochter mit
einem Anwalt in Verbindung, ohne selbst nach NYC zu kommen. Bestimmt schrieben
sie den ganzen Vorfall „teuflischen Wahnbildern“, „linksversifftem Satanismus“
oder „QAnon-Echsenmenschen“ zu; sicherlich würde „kein Gramm ihres Geistes“
ausreichen, zu begreifen, wozu Jordyn so ein Projekt in Angriff nehmen sollte.
Zur Hölle nochmal, wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, was Deep Fakes
überhaupt sein sollten – waren wohl selbst Deep-Fake-Videos von Politikern zum
Opfern gefallen, und das nicht nur einmal …
Von Jordyns
Taten schockiert und angeekelt, schmiss die Institutsleitung sie ohne jede Debatte
oder Diskussion raus.
Vor ihrer
Rückkehr in den Mittleren Westen versuchte sie noch, ihre ganzen Möbel und
Bücher auf einer Facebook-Seite zu verkaufen, aber weil alle wussten, was sie
getan hatte (sie war jetzt eine Art Aussätzige), konnte sie keine Abnehmer für
ihren Kram finden. Verflucht war er nicht wirklich, aber besudelt allemal.
Während die
Möbel einfach auf den Bordstein flogen und von Lkws mit mahlenden Mäu-lern auf
Seite geschafft wurden, streuten sich die Bücher, die zunächst in Kisten in der
Lobby des Wohngebäudes direkt am Morningside Park verstaut gewesen waren, dem
Epizentrum studentischer Morde, nach und nach aus, besäten den Steinboden des
Viertels wie Bruchkorn, außerstande, Früchte zu zeitigen. Schließlich landeten sie
auf den Verkehrsinseln zwischen den Fahrspuren am Broadway – unter den Bänken,
auf denen immer obdachlose Propheten saßen und Studierende H17-Sandwiches aus
dem Milano Market verzehrten (und wie gründlich man sich den Mund am
italienischen Brot schnitt!) – sie blieben auf den Bänken der Riverside wie
auch der Morningside liegen, manche von ihnen unter Autoreifen und geschreddert,
Schleifen kompli-zierter Worte wirbelten durch die Luft, wie Konfetti, das von
ganz weit oben herabrieselte, um den Brand der Bibliothek von Alexandria oder
den Tod des Westens zu feiern …
VIII.
In einer
stürmischen Nacht im April machte sich Smirnovs endgültiger Niedergang mit
einem jähen Knall bemerkbar.
Obwohl er
kurz vor der Wiederherstellung seines Rufes stand, ohne dass er tatsächlich
wiederhergestellt worden wäre, schlief Smirnov immer noch schlecht. Jede Nacht
konnte er sich glücklich schätzen, wenn er ein vierstündiges Nickerchen
hinbekam.
Mit der
Textur des Videos stimmte etwas nicht (er hatte es sich angesehen, natürlich
hatte er das) – ein leichtes Schaudern in der Luft, ein Umschwung, der die
kühlen, aus der Klimaanlage wehenden Dämpfe fürs bloße Auge lesbar machte – und
in die Welt außerhalb des Videos übertragen worden war. Verwandelte sich seine
digitale Maske, die er, voller Erwartung auf dem Stuhl sitzend, getragen hatte,
nun in sein echtes Gesicht hier draußen?
In der
Hoffnung, schneller zu laufen als dieser Schauder, der da in der Luft schwebte,
marschierte er östlich von der Waschbärenmauer über die Pflastersteine. Er
kündigte sich meistens vor dem Schlaf an, und in den Augenblicken, ehe ihm das
Bewusstsein schwand und etwas Fremdem Platz
machte, beschlich Smirnov die Angst, sein verpixeltes
Zittern wolle ihm eine bestimmte Botschaft übermitteln, nämlich ein Verlangen,
das Video so exakt wie möglich mit seiner eigenen Frau nachzuspielen oder,
besser noch, mit der echten Frau aus dem Video (sie war immerhin kein Deep Fake).
Sein
berühmtes Gesicht war ihm weggerupft worden – irgendwie hatte er etwas
unter-zeichnet, das nicht zu ihm gehörte. Jetzt war es ein Ding der
Selbstverständlichkeit, dass er dieses ontologische Ungleichgewicht durch ein Eingeständnis unbedingt wieder geraderücken
wollte.
Auf einer
Bank an der 110th Street, gegenüber vom Riverside, erwartete eine
Signet-Taschenbuchausgabe von Henry James‘ Porträt
einer Dame für $5,95 aus einer von Jordyns Grabbelkisten ungeduldig den
aufziehenden Sturm.
Sicherlich
würde die Druckerschwärze bald zerlaufen, ebenso würde der Holzstoff der Seiten
bald vollständig aus der Form geraten.
Damals, als
Smirnov sich eingehend mit James befasst hatte (und das alles nur wegen ei-nes
Kommentars von Joyce, Proust ahme James nämlich bloß nach; weil Proust eine gewichtige Rolle in Smirnovs Projekt
spielte, musste er daher zumindest mal den Zeh, wenn nicht gar den ganzen Fuß reintunken),
hatte er einem hochangesehenen Kollegen geschrieben, dass er das Porträt einer Dame las, woraufhin dieser
geantwortet hatte: „Das Porträt ist
mein Lieblings-HJ!“
Selbst als Nichtmuttersprachler merkte Smirnov,
wie unüberlegt dieses Akronym war. Er hatte sich auf die Nachricht nie
zurückgemeldet.
Aber wie die
Signet-Taschenbuchausgabe von HJs großem Roman bereits ankündigte, es begann
tatsächlich bald zu regnen – gar zu schütten.
Während ich
im Gemeinschaftsraum von Adams Wohnung Gras rauchte, betete ich zum Spaß für
einen Sturm, der die Stadt „zum Wackeln bringen“ möge. Wir sprachen über
Melissa, mit der ich mittlerweile ständig zusammen war. Adam freute sich
darauf, sie kennenzulernen. Als ich ihm von unserem kleinen Abenteuer auf dem
Friedhof in Bushwick erzählte, spielte er sofort Hollywood Forever Cemetery Sings auf seinem iPhone ab.
Der Song
beamte sich durch die Luft und wurde von den Edifier-Lautsprechern im
Bücherregal erst aufgefangen, dann verstärkt.
Am nächsten
Tag fühlte sich Smirnov müde und ausgelaugt, ging aber trotzdem in seine
Seminare und Besprechungen.
Am Tag darauf
hatte er Halsweh, und obwohl es auch irgendeine Allergie hätte sein können (in
NYC sind schließlich alle Bäume männlich, also spritzen und spritzen die Pollen
nur so – der Stadt klatsch ins Gesicht), blieb er daheim.
Am folgenden
Tag stieg sein Fieber auf über 39 Grad.
Auf der Bank
hatte sich HJs Buch zu einer collagierten
Röhre einstiger Worte verwandelt.
Vor Angst
fast in Tränen aufgelöst, isolierte sich Smirnovs Frau von ihrem kranken Mann,
als dessen Antigentest ein positives Ergebnis mitteilte – diese zweite Linie so
stark und klar wie eine mit kunstvoller Pinselführung angefertigte chinesische
Kalligraphie.
Er zögerte
seinen Krankenhausbesuch bis auf den nächsten Tag hinaus – da stieg sein Fieber
auf 40 Grad an.
In der ersten
Nacht im Krankenhaus (sie fuhren ihn mit dem Rettungswagen hin, und als sie ihn
unbeholfen durch den langen, engen Eingang trugen, brach seine Frau unter ihrer
N95-Maske fast in Tränen aus), träumte er von einer Dokumentation, die bewies,
dass Handke und nicht etwa Limonow in dieser einen berühmt-berüchtigten Szene
der Literaturgeschichte des 20. Jahr-hunderts Sarajevo beschossen hatte. Dann,
als die Kamera des Dokumentarfilmers von dem hochgelegenen Hügel, von wo aus
Handke mit seinem Scharfschützengewehr schoss – seine Hände derart ungewohnt im
Umgang mit Schusswaffen, dass er aussah wie der
letzte Trottel – fiel Smirnov auf, dass Handke auf einen Massagesalon
feuerte, in dem er (Smirnov) von der gleichen Sexbombe aus dem Mittleren Osten
mit Koranzitaten auf den Hüften gepeggt wurde.
Smirnov
wachte auf – zitternd, mit brennenden Lippen, und außerstande, sein Fieber mit Schweiß auszuscheißen –, als eine
von Handkes Scharfschützenkugeln in seinen Bauch drang.
Hiernach ging
sein Fieber nie wieder so wirklich runter, und am Abend des vierten Tages im
Krankenhaus konnte er nicht mehr selbständig atmen. Kurz vor der Intubation
rief eine Pflegerin über FaceTime Smirnovs Frau an, und er versuchte, um ihr zu
sagen, dass er sie liebe – nach und nach fraß sich die weiße Strähne immer
tiefer in sein schwarzes Haar –, aber brachte kein Wort heraus.
Trotz der
Intubation stürzten seine Vitalwerte ab und die Ärzte wussten, dass er seinen
letzten Gang antrat. Am Tag nach der Intubation schätzten sie seine
Überlebenschancen auf annähernd null ein.
Noch dazu
verteilte sich HJs Buch in vier einzelnen Holzstoffpamphleten über
Pflastersteinpfad des Riverside – drei davon würden binnen einer Woche
entsorgt.
Als Smirnovs
letztes Stündlein schlug, füllte eine Pflegerin warmes Wasser in einen
Latexhandschuh und band ihn um seine rechte Hand – die, mit der er immer
unterschrieb. Im Krankenhaus nannte man das die „Hand Gottes“, das sollte den
Sterbenden trösten, wenn seine Angehörigen nicht dabei sein konnten. Smirnovs Frau
hatte immer noch kein Corona gehabt, und selbst wenn doch, hätte sie bei seinem
Abtreten nicht an seiner Seite sitzen dürfen.
Leider zeigte
der Handschuh nicht die beabsichtigte Wirkung; nicht Smirnovs Frau hielt ihm
zum Trost die Hand, sondern die geleeartige Pfote eines unheimlichen, jenseitigen
Dämons, der seine Hand nach unten drückte, um ihn auf ewig von der nächsten
Unterschrift abzuhalten. Auf seinem Weg in die Grube kämpfte er aus
Leibeskräften gegen die Hand Gottes an.
Doch bald
schon war DER MANN, DER ZU VIEL UNTERSCHRIEB nicht mehr.
Die
geleeartige Pfote hatte obsiegt. Er würde nie wieder irgendetwas
unterschreiben.
Unter den
Soho House-Lampen des gentrifizierten Apartments in Brooklyn erzähle ich
Melissa, was passiert ist. Eine einzelne Träne läuft mir aus dem Auge. Und mehr
als eine aus ihren.
„Armer
Smirnov …“, sagt sie.
Wir haben
bereits einmal miteinander geschlafen.
Die Wände
bestehen aus unverputztem Ziegelstein und wir hören ein entspanntes Album von
Pianos Become The Teeth, also, meiner Meinung nach dezente Emo-Musik, die wie Marvin
Gaye für Noise-Musiker ist.
„Armer
Smirnov …“, wiederhole ich und gebe den Worten, die Melissas Torso unterhalb
ihrer Brüste zieren, einen ersten Kuss.
„Wer viel
weiß, hat auch viel Ärger. Je mehr einer weiß, umso mehr leidet er.“
Unsere Schuhe
treten bereits gegen die Tür, mehr als
bereit, zurück zum Evergreens Ceme-tery zu stapfen, nur ohne die Last
unserer Leiber. Dort werden die Schuhe alle nötigen Vorkehrungen treffen, um
auf jenem Grabmal, dem einst Melissas und meine Verehrung zuteilgeworden, eine
anti-fleischliche Beiwohnung zu vollziehen. Als Körperloser ist Ge-schlechtsverkehr
viel einfacher – die Schemen, an denen nackte Haut sich an anderer nackter Hand
reiben würde, wie ein Avatar, der an die Grenzen einer Videospiellandschaft
stößt: ein endloser Störimpuls. Wenn die mit den Schuhen verbundenen
Nicht-Körper schließlich kommen, werden wir bereits bei ihnen sein, und sobald
wir Friedhofserde von den nackten Ärschen, Knien, Schenkeln und
Handinnenflächen abgeklopft haben werden, wird sich der lange Treck bis zu
Melissas Apartment in Bewegung setzen.
Ich höre, wie
die Tür aufgeht, dann klappern die Schuhe los, und obwohl sie vom Gipfel des
finsteren Bushwick-Hügels noch weit entfernt sind, spüre ich bereits, wie die
Lust irgendwo in meinem Ringmuskel immer stärker wird.
Ich möchte
unbedingt wieder auf den Friedhof zurück.