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Martina Hefter: Ein paar Überlegungen zur Online-Lesung

Diskurs/Kommentare > Diskurse > Das Digitalisieren des poetischen Körpers
Martina Hefter

Ein paar Überlegungen zur Online-Lesung

Seit Corona müssen wir, als Autorinnen und Autoren, uns wohl darauf einstellen, zumindest noch eine Weile mit dem Format der Online-Lesungen umzugehen. Da gibt es ein weites Spektrum, man kann sich dem komplett entziehen, oder man kann sagen, ich möchte (oder, aus ökonomischen Gründen auch: ich muss) sichtbar bleiben mit meiner Arbeit. Was heißt es denn, als Autor*in mit seinen Texten sichtbar zu sein? Es würde ja auch genügen, die Texte nur in Schriftform ins Netz zu stellen - stimmt das so? Was genau kann die Online-Lesung ersetzen? Ersetzt sie die körperliche Anwesenheit des*der Autor*in? Ersetzt sie auch ein soziales Miteinander, das bei “richtigen” Lesungen ja gegeben ist?

Ich habe erst zwei Online-Lesungen gemacht, aber ich kann sagen, dass es zumindest ungewohnt war. Wenns darum geht, künstlerische Arbeit zu präsentieren - und das heißt ja auch bei einer Lesung, sie mit seinem Körper zu präsentieren - fällt es mir schwer, mich mit diesem Körper und mit meiner Stimme nicht in derselben räumlichen Gleichzeitigkeit zu befinden wie die Leute, die mir dabei zuhören und zusehen. Dass ich vor einem Notebook sitze, dessen Kamera nur einen ganz kleinen Ausschnitt des Raums einfangen kann, macht es nicht einfacher, obwohl ich mich bei den Lesungen ja nicht von meinem Stuhl wegbewegt habe. Und ich gestehe, dass ich auch als Zuschauerin jedesmal recht schnell wieder weggeklickt habe, wenn ich bei Online-Lesungen zusah. Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen.

Die zweite meiner Online-Lesungen musste ich wegen technischer Probleme abbrechen, nachdem wir, also die Veranstalter*innen und ich, mehrere Versuche gestartet hatten (alles live), es doch noch hinzubekommen. Als ich später das Video nochmal ansah, erschrak ich an einer Stelle kurz über mich selbst: Die Moderatorin hatte vorgeschlagen, die Kamera auszuschalten und nur den Ton anzulassen, dann würde die Tonqualität vielleicht besser. Ich kam der Bitte nach (es brachte am Ende nichts), aber mir rutschte die Äußerung heraus: “Oh schade, da sieht man mich ja nicht mehr.” War das Eitelkeit? Es geht doch beim Vorlesen von Gedichten um die Texte. Aber so einfach ist das nicht. Ich kann mir einen Vortrag meiner Gedichte ohne meinen Körper, also ohne meine Person, zwar schon vorstellen - zum Beispiel bei einer Lesung fürs Radio - aber dann wäre das etwas, auf das ich mich vorher einstellen muss. Es macht einen Unterschied, ob ich nur mit der Stimme arbeite, oder auch mit den Möglichkeiten des Körpers, mit Gesten, Mimik, Haltung - so unbewusst es auch geschehen mag, während man liest, es spielt doch eine Rolle. Bei der Online-Lesung ohne Bild zu lesen, also mit ausgeschalteter Kamera, während alle das ausgeschaltete Bild sehen konnten, erzeugte bei mir ein Gefühl ziemlichen Verlorenseins.

Was mir noch auffiel: Als die Technik zusammenbrach, also die normale Lesesituation aufgehoben war und wir mehrere Lösungsprobleme besprachen, bekam das Ganze plötzlich lauter Aspekte, die mich an szenischer Performance-Arbeit unter anderem interessieren: Was daran war (spontan, also spielerisch) inszeniert, was war authentisch? Auch waren die Grenzen zwischen öffentlich und privat auf einmal aufgelöst. Ich muss gestehen, dass ich ab dieser Stelle auch eine gewisse Freude am Agieren in dieser Situation hatte. Hier ging es plötzlich nicht mehr darum, meinen Text zu repräsentieren. Es ging gar nicht mehr um Literatur. Es ging um Aktion und Reaktion, um das Ausbalancieren von Spontanität und Überlegtheit, alles vor laufender Kamera. Es war ein Spiel. Ich hatte Spaß am Unklaren meiner Rolle, und dass ich selbst gar nicht genau wusste, war ich jetzt privat, war ich öffentlich?

Stichwort Privatheit, ein Aspekt, den ich wichtig finde: Man liest bei einer Online-Lesung meistens in seinen eigenen vier Wänden, befindet sich also in einem vertrauten Raum, in dem man sich definitiv anders verhält (so sehr man es auch zu vermeiden versucht) als in einem Veranstaltungsraum oder auf einer Bühne. Dabei finde ich es wichtig, zu bedenken, “...dass auch die alltägliche Selbstdarstellung Strategien erfordert, die künstlerischen Strategien ähnlich sind”, wie Mieke Matzke, Mitglied des Performance-Kollektivs She She Pop, in einem Text über ihre Arbeit schreibt¹. Eine Strategie könnte darin liegen, dass man die Privatheit zuerst mal zulässt. Wenn ich versuche, sie zu verbergen oder zu unterdrücken, oder sogar, indem ich mich in meiner Privatheit eher unrealistisch oder überzogen inszeniere, kämen vielleicht Ergebnisse dabei heraus, die nicht mehr angemessen sind. Es ist am Ende doch “nur” eine Lesung, oder?

Die Verlockung, sich bei Online-Lesungen besonders zu inszenieren, ist groß - man kann ja vor dem Lesungstermin alles arrangieren und einrichten. Was bei “normalen” Lesungen nach wie vor gut funktioniert, nämlich sich an einen Tisch zu setzen und zu lesen, scheint online schon viel schwieriger -weil die Aspekte von Räumlichkeit und Anwesenheit, vom sozialen und physischen Miteinander fehlen. Es ist vergleichbar damit, dass man im Flugzeug immer alle Speisen und Getränke stark und scharf würzen muss, weil der Geschmackssinn in der Kabine nicht so gut funktioniert. Bei Online-Lesungen muss entsprechend auch stärker gewürzt werden.
Und das Bedürfnis nach - nochmal  Mieke Matzke - “Spiel mit Selbstentwürfen, mit Fiktionen und Bildern der eigenen Person” gibt es klar auch in der Literatur, in der Rolle des*der Autor*in.

Trotzdem schrecke ich davor zurück und möchte auch bei Online-Formaten am liebsten ganz normal lesen. Aber dann merke ich, auch online ist ganz normal gelesen eben nicht ganz normal gelesen. Eigentlich bin das gar nicht ich. Nur meine Stellvertreterin, manchmal ganz verwackelt und durch den Bildschirm verzogen und verfälscht. Müsste mir das nicht eigentlich gefallen? Online existiert jede Lesung, egal wie inszeniert oder nicht inszeniert sie sein mag, mehr als über den Augenblick hinaus. Auch wenn man bei einer üblichen Lesung genauso alles aufnehmen und es ins Netz stellen kann, ist der Aspekt der Vergangenheit viel stärker. Man wird im Netz eine Stunde in der Vergangenheitsform sehen. Während die inszenierten oder auch weniger inszenierten Streams bei Online-Lesungen irgendwie viel hartnäckiger und andauernder genau “jetzt” passieren. Durch das Internet ist dieses “jetzt” ausgedehnt zu einer ewigen Gegenwart. Das heißt, dass man “Fehler” oder Missgeschicke nicht mehr als etwas wahrnimmt, das in der Vergangenheit bei einer Lesung mal passierte, sondern als etwas, das immer weiter und immer weiter andauert, ein Endlosmissgeschick sozusagen. Mich schüchtert diese Vorstellung immer noch ein, obwohl es das Internet jetzt schon so lange gibt.



¹  Mieke Matzke: Spiel-Identitäten und Performance-Biografien.Theorie und Performance bei She She Pop. In: Gabriele Klein, Wolfgang Sting (Hg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, Transcript Verlag, 2005)


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