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Markus Ostermair: Auf Arbeit

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Markus Ostermair

Auf Arbeit


KURT EISNER, DER AM 8. NOVEMBER 1918
DIE BAYERISCHE REPUBLIK AUSRIEF,
NACHMALIGER MINISTERPRÄSIDENT
DES FREISTAATES BAYERN, WURDE
AN DIESER STELLE AM 21. FEBRUAR 1919
ERMORDET.

Karl Maurer sitzt am Boden, zu Füßen der Figur, die als Gedenkplatte in den Gehweg eingelassen ist. Schemenhafte Umrisse einer Leiche, mit Hose und Mantel und seltsam eingedrücktem Kopf, wie sie die Polizei wohl damals mit Kreide auf das Trottoir zeichnete. Er lehnt sich an die Wand und schaut nach links und rechts zum Promenadeplatz mit Nobelhotel und den Grablichtern am Sockel einer Statue. Eine Art Schrein für den King of Pop, der oft im Bayerischen Hof war. Seine Fans kommen immer noch jeden Tag hierher. Sie legen Blumen nieder, zünden Kerzen an und liegen sich in den Armen. Und manchmal sind sie in einer Heal-the-world-Stimmung und geben ihm was. Karl mag diesen Fleck in der Faulhaber-Straße, obwohl hier bei Weitem nicht so viel los ist wie ums Eck in der Fußgängerzone. Das muss jedoch kein Nachteil sein. Karl packt dieses Gewusel nicht.
Da geht er unter, sagt er.
Da fällt auch nicht mehr ab, sagt er.
Da täuschst du dich, sagen andere. Man muss mittenrein gehen, zeigen, dass man auch noch
da ist. In Berlin weht da ein ganz anderer Wind als hier. Die machen mindestens das Doppelte, sagen sie. Gehen in die U-Bahn rein, warten, bis die Türen zugehen wie eine Falle, und dann sagen sie ihr Sprüchlein auf, erzählen ihre Geschichte, sagen was von offenen Wunden, chronischer Hepatitis, Krebs. Sie rufen das Schicksal an und entschuldigen sich dafür, dass sie da sind, dass sie die Fahrgäste in dieser Art belästigen, aber sie hätten keine Wahl. Sie appellieren an die Menschlichkeit, an den Anstand, denn er ist es, der auch ihnen dabei hilft, anständig zu bleiben in diesem Berlin. Kriminell werden, das wollen sie nämlich nicht und das kann niemand wollen. Sie gehen dabei einmal langsam durch den Wagen und steigen beim nächsten Halt in den anschließenden um. So grasen sie den ganzen Zug ab. Berlin, Berlin, sie fahren durch Berlin! Und irgendeiner gibt immer was, heißt es. Und sei es nur, um sich vor den anderen wichtigzumachen, zu zeigen, dass man der Bessere sei und das Herz am rechten Fleck habe. Und wenn schon genug Likör ins Hirn gestiegen ist, dann heißt es gar, dass sich die Leute in Berliner U-Bahnen gegenseitig überbieten würden in ihrer Spendenbereitschaft.
Karl hört dann entweder schon gar nicht mehr zu oder sagt ein scharfes: »Geh!« und winkt
ab. Fremde Leute anzusprechen würde ihm nicht einmal im Traum einfallen. Er hat seine eigene Methode und da gilt axiomatisch: Das Schlimmste, was man beim Handaufhalten tun kann, ist, tatsächlich die Hand aufzuhalten. Da muss was dazwischen. Ein Hut, ein Kaffeebecher oder ein Stück Pappe, das auf dem Boden liegt. Es muss einen Unterschied geben zu den Handlungen an der Kasse. Ware gegen Geld. Und selbst da zählt Karl es lieber ins Schälchen. Nie direkt! Der Rest ist kein Hexenwerk: Hinhocken, stieren, fertig.
Andere sollen es ruhig anders machen, aber mit ihren Ratschlägen sollen sie sich zurück-
halten. Es gibt den Klassiker mit einem Hund, einem braven. Die Leute können sich also aussuchen, mit wem sie Mitleid haben. Dafür gibt’s tatsächlich mehr. Hundegeld. Der Egon macht den Clown mit seinen Weiberklamotten. Die aus dem Osten knien sich oft hin, die Männer labern die Leute an, die Frauen unterwerfen sich vollständig und küssen fast den Boden. Die mit Kopftuch singen manchmal leise. Am Isartor gibt es Punks, die vor sich gleich vier Kaffeebecher aufstellen. Dazu Schildchen für Wein, Bier, Koks und Badesalz, damit die Leute die freie Wahl haben, wofür ihr Geld verblitzt wird. Der Masch Roland zittert, auch bei 35 °C. Und der Minder Erwin legt seinen abgelaufenen Pass neben den Hut und appelliert so an die deutsche Volkssolidarität.
Ein klein wenig schwingt bei Karl auch immer die Angst mit, dass er jemandem von früher
begegnen könnte. Man hockt da, ein, zwei Stunden, auf dem Präsentierteller, und irgendwann geht das Denken halt los. Dann sieht er ehemalige Schüler oder Kollegen, wie sie sich zu ihm hinabbeugen und ihn wiedererkennen, trotz der Narbe. Oder eben nicht, was vielleicht auch nicht viel besser wäre. Johanna, wie sie ihn von Weitem sieht und sich mit vor Abscheu verdunkeltem Gesicht von ihm abwendet, ihre Schritte zum Lauf beschleunigt. Die Mutter von Marcel, die man zurückhalten muss an beiden Armen, damit sie Karl nicht ins Gesicht schlägt. Die Zeit, immer wieder ist es die Zeit, die man vertreiben muss, und mit ihr alles, was sie hinter sich herzieht wie eine dreckige Flut. Die Gedanken an das Leben davor, als man noch wer war, als man noch wie die anderen durch die Stadt spazierte, flanierte, sich nicht genierte, wofür denn auch? Dafür braucht es den Schnaps, der einem die Synapsen wieder bändigt. Oder man gibt dem Gedankenwust eine Richtung, kanalisiert ihn auf die Frage hin, wer denn nun dieser Kurt Eisner eigentlich war, dessen rechter Arm nach oben gereckt ist, sodass es auch ein Jubelsprung hätte sein können, lägen seine Umrisse nicht auf dem Boden hingestreckt vor ihm. Karl kennt ihn nicht, nicht einmal von Straßenschildern. Er weiß nur das, was die Inschrift besagt, und hätte gedacht, dass einem ermordeten Ministerpräsidenten zumindest die Straße gewidmet würde. Und wenn die Zeit so immer noch nicht totgeschlagen ist und mit ihr die Erinnerungssucht gleich mit, dann bleibt einem nur das Spiel. Man wettet gegen sich selbst. Das hat ihm der Egon mal erzählt. Betteln sei wie das Fahren per Anhalter. Man wisse nie, wie lange es dauert, bis was geht. Also wettet man auf das Aussehen, sagt er. Statt auf blauer Käfer auf Hippiemädchen mit Batik-T-Shirt, das sie über dem Bauchnabel zusammengeknotet hat. Ein Rentner mit Sandalen und beigen Kniestrümpfen. Noch einen Rest Fantasie aus den grauen Zellen quetschen, auch wenn man über Klischees nicht hinauskommt, niemals. Nur direkt ansehen darf man die Leute nicht, sagt Egon. Das bringt Unglück. Und Karl gibt ihm recht. Wenn sie auf zehn Meter herangekommen sind, dann senkst du den Blick, damit sie überlegen können, ob du einer von denen bist, denen man ruhigen Gewissens was geben könnte. Wenn sie dann vor dir stehen, schielst du auf keinen Fall nach dem Betrag, sondern eure Blicke treffen sich kurz, wenn der Geber das will, bevor du die Lider schließt und mit einem Nicken ein Danke murmelst.


In Markus Ostermair: Der Sandler. Roman. Hamburg (Osburg Verlag) 2020.
350 Seiten. 20,00 Euro.
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