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Marina Zwetajewa: Lichtregen

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Jan Kuhlbrodt

Marina Zwetajewa: Lichtregen. Ausgewählte Werke, Bd. 2: Essays und Erinnerungen. Übersetzt von der Herausgeberin Ilma Rakusa, von Nicola Denis, Elke Erb, Rolf-Dietrich Keil und Olga Radetzkaja. Berlin (Suhrkamp) 2020. 928 Seiten. 44,00 Euro.

Zu Marina Zwetajewa
Lichtregen


Es gibt, wie es scheint, im Augenblick so etwas wie eine Zwetajewa-Offensive. Gerade kündigte der Wallstein Verlag für das Frühjahr einen Band mit dem Briefwechsel mit Boris Pasternak an. Wahrscheinlich eine spannende Sache, nicht nur vor dem Hintergrund von Exil und Rückkehr. Es gibt also Grund, sich mit Spannung darauf zu freuen.
    Aber es gibt keinen Grund, die Zeit bis dahin zwetajewafrei verstreichen zu lassen. Es ist mir zumindest fast unmöglich, da, wenn man erst einmal angefangen hat, sich mit diesem Werk zu beschäftigen, es einen immensen Sog entfaltet. Und diese Beschäftigung wirft Fragen nach der Übersetzung, und der Übersetzbarkeit überhaupt auf. Man kann also verschiedene Ausgaben gegeneinanderhalten, auf der Suche nach der „echten“ Zwetajewa, die ja außerhalb des Russischen schwer zu finden ist.
    Ingold zum Beispiel fährt in dem von ihm im Ritterverlag herausgegebenen und übersetzten Band, der „ausgesuchte Gedichte“ enthält, ein gewisses eingeführtes Zwetajewa-Pathos zugunsten eines nüchternen Funkelns zurück. In den von ihm präsentierten Texten kratzt das Gedicht von beiden Seiten an der Grenze des Rationalen. Der Band wurde hier bereits besprochen, aber auch andere Zwetajewa-Bücher des unermüdlich entdeckenden Slawisten.

Die neue von Ilma Rakusa im Suhrkamp Verlag herausgegebene Zwetajewa-Ausgabe versammelt bereits erschienene Übersetzungen aus Zwetajewas Werk, als auch neue übersetzerische Arbeiten. Es wird am Ende die umfang-reichste sein, die bisher auf Deutsch erschienen ist, eine, die einer Gesamtausgabe nahekommt. Natürlich werden Slawi-stinnen und Slawisten sich an die russischen Originaltexte halten, aber da Slawistinnen und Slawisten nur einen sehr geringen Anteil der Gesamtbevölkerung ausmachen, bleiben noch jede Menge Leserinnen und Leser übrig, denen diese Ausgabe ans Herz zu legen wäre. Mit jeder neuen Ausgabe, mit jeder Übersetzung wächst ein Geflecht, das eben auch ein Fundus ist. Selbst, wenn man die russische Sprache be-herrscht, oder besser, sich von ihr beherrschen lässt, findet man in den übersetzerischen Varianten Aspekte, die zuweilen den Originaltext in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Der erste Band der Rakusa-Ausgabe „Ich schicke meinen Schatten voraus“, über den wir auf dieser Seite bereits berichtet haben, versammelt Prosa und autobiografische Schriften. Diese sind zuweilen voneinander schwer zu unterscheiden. Zwetajewa ist ihr eigenes Material.

Im zweiten Band, der unter dem Titel „Lichtregen“ Essays und Erinnerungen zusammenstellt, geht es um Schriftstellerkolleginnen und -kollegen wie Brjussow und Belyj, aber in einem langen Essay auch um die Künstlerin Gontscharowa, die wie Malewitsch das russische Kunstleben der 1910er-Jahre prägte.
    (In diesem Zusammenhang taucht übrigens auch der Name Tichon Tschurilin auf. Tschurilin war ein Dichter, den Zwetajewa sehr schätzte, dessen Werk aber in den Stürmen des Jahrhunderts mehr oder weniger verblasen wurde und dessen Entdeckung meiner Meinung nach dringend ansteht.)
    Besagte Künstlerinnen und Künstler initiierten eine künstlerische Revolution in den Jahren vor dem großen gesellschaftlichen Umbruch, die Zwetajewa in ihrer Dramatik in allem Ausmaß zu spüren bekam. Sie musste sich darin immer wieder neu orientieren, um ihre künstlerische Autonomie zu bewahren.

Dafür steht zum Beispiel ein Text, der „Puschkin und Pugatschow“ heißt, und der von Elke Erb übertragen würde. Dort findet sich eine Aussage, die sowohl für Zwetajewa als auch Puschkin Gültigkeit beanspruchen kann:

„Ohne die Leidenschaft für den, der übertritt, ist man nicht Dichter. (Dass sich diese Leidenschaft für den, der übertritt, in einer revolutionären Ordnung beim Dichter in Konterrevolution verkehrt, ist natürlich, verkehren sich doch die Anführer selbst – in die Macht.)“

Kunst also ist Übertretung. Und zwar in jeglicher Hinsicht. Und wenn sich etwas etabliert, wird es suspekt. Vielleicht ist es genau diese Haltung, die die formale Beweglichkeit einer Marina Zwetajewa ausmacht. Und sie sucht diese Beweglichkeit eben auch bei Kolleginnen und Kollegen, und sie forderte sie ein. So sind ihre literarischen Portraits als Zeitdokumente immer auch ein Stück weit Selbstportraits, und in ihrer poetischen Dringlichkeit sind sie von überzeitlicher Geltung.


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