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Marcia Nardi: Gesammelte Gedichte

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Frank Milautzcki

Marcia Nardi: Collected Poems/ Gesammelte Gedichte. Englisch/ deutsch. Herausgegeben, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Stefan Ripplinger. Berlin (zero sharp) 2023. 240 Seiten. 24,00 Euro.

Biegen und Brechen im Halt der Steine
Marcia Nardis Gesammelte Gedichte


Es ist eine Fußnote: „Mir tut es im Herzen weh, wenn ich dieses Gedicht lese, denn als ich es schrieb, war ich mitten in einer enorm aktiven Phase des Dichtens, wurde aber davon weggerissen, weil ich einen Tippjob annehmen mußte, um etwas essen und meine Brötchen bezahlen zu können. Noch die Erinnerung daran stimmt mich böse und wütend.“ Sie ist handschriftlich von Marcia Nardi dem Text „Gestrandet ohne Gedicht“ im Original-Typoskript der kürzlich erschienenen, von Stefan Ripplinger bei zero sharp zweisprachig englisch-deutsch herausgegebenen „Gesammelten Gedichte“ angefügt. Jeder kennt die Situation: Nicht dran bleiben zu können, weil der Brotjob einen kassiert. Wie fein wäre es, wenn man nur von und für die Literatur leben könnte? Ein Privileg, das nur die wenigsten trifft. Was das Zitat auch zeigt: Hier ist eine Dichterin „böse und wütend“ und schreibt das auf. Wie man zum blassen Gespenst seines Selbsts wird, wenn man sich schreibend nicht seiner Zeit stellen kann: „but the dim-out of my era / And my life / Became a phantom's white / Because I could not write“.

Marcia Nardi ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Literaturbetrieb zu allen Zeiten in allen Ländern fähig war, unbequemen Figuren aus dem Weg zu gehen, man muß sagen, ihnen Wege und Optionen zu verwähren. Vor allem, wenn sie Erleidungserfahrungen nicht nur teilten, sondern wenn ihr Schreiben auch die Forderungen nach einem Gerechtigkeitsabgleich enthielt. Nardi habe die „Fähigkeit zum Selbstmitleid“ besessen, höhnte 2011 Kritiker Joe Milutis, noch nicht allzu lange her. Und das ist nicht mehr als eine arrogant gemeinte, elegant geführte Umschreibung für rebellisch gefühligen Schmarrn, der in der akademisierten Lyrik nun wirklich nichts verloren habe.

Das, woraus die einen den Strick drehen, wird bei anderen zum Attest für Authentizität. So bemerkt die Literaturkritikerin Louise Bogan 1956 nach Erscheinen von Nardis Poems: „Sie reagiert so unmittelbar auf das, was ihr widerfährt, dass alles, was sie sagt, als ungekünstelt und tatsächlich empfunden wiedererkannt werden kann. Dabei visiert sie auch die herberen Tatsachen von Natur und Gesellschaft an. Oft genug scheint sie nicht Gedichte zu schreiben, sondern sich von ihnen schreiben zu lassen.“ Aus der unliebsamen Rebellin wird so die Getriebene, nur positiver konnotiert.

„Wie geschmeidig kommen die Reichen voran“ überschreibt Nardi ein Gedicht, „bahnen sich mit Gänseblümchen ihren Weg“, man kann dieses Wundern über das Glätten des Wegs während des Gangs durch die Welt, den sich der Geldmensch mit blühenden Gesten erkauft (also meistens mit Geld), auch als Frage verstehen: Warum lassen wir uns, läßt sich alles kaufen? Ungemütliche Fragen. Hinter Nardis „Selbstmitleid“ steckt eigentlich eine messerscharfe, ungeschönte Selbstbefragung, in der niemand verschont wird. Dem Kritiker lieber als solche Unbeherrschbaren sind allerdings die „Beherrschten“, die so weit außerhalb stehn, daß ihr Zugang zum eigenen Schreiben nicht das Ichlein des wichtigen Nichtwichtigseins mitreißt. So bleibt Distanz. So muß keine Betroffenheit verhandelt werden, sondern kann allein die Form des Zugangs im Vordergrund stehn. Das ist an sich nicht unrichtig.

Die Frage ist nur:  sind das wirklich Betroffenheitsorgien, die wir bei Nardi lesen, oder einfach ungewohnt offene, mutige Vorstöße in ein Thema-tisieren, das sich selbst als Beispiel nimmt und hinauswirft aufs Tableau? Und ist die Kritik überhaupt fähig, das als solches zu erkennen? Was ist von Versen zu halten wie diesen: „Allein das abgetrennte Lebendhirn / Zeugt noch von der goldenen Axt, die schwebt / Über jedem Bett, Treffpunkt zweier Selbste, / Die sich auseinander-gelebt“.

Für William Carlos Williams ist die Sache klar. Er schreibt ihr im Juni 1949, als sie ihm einen Packen neuer Gedichte zuschickt, folgende Antwort: „Dies sind die besten, die Du je geschrieben hast, denn sie durchschlagen meinen Schutzschild, sie scheinen mir zu den besten Gedichten unserer Zeit zu gehören – soviel besser als das, was gewöhnlich als gut durchgeht, dass ich mich, gelinde gesagt, für mein Geschlecht schäme, das im Allgemeinen die Szene beherrscht.“ Er charakterisiert die Texte: „Sie sind warm, ungeschützt und gut gemacht“, und referiert im weiteren Briefverlauf gerade über das „gut Gemacht“, weil es das Wichtigste sei, „für mich und zweifellos auch für Dich“.

Auch für Stefan Ripplinger, dem wir die Ausgrabung, Übersetzung und Herausgabe von Nardis Gedichten verdanken, ist nach intensiver Beschäftigung und Auseinandersetzung die Sache klar, und er tritt dem Kritiker Milutis entgegen: „Was dem Hochnäsigen als Gejammer einer vertrockneten Jungfer erscheint, ist in Wahrheit eine der am weitesten blickenden Dichtungen ihrer Zeit. Nardi las aus den Eingeweiden ihrer Gegenwart die Konvulsionen der Zukunft. Jahrzehnte, bevor diese Themen, und meist viel blasser, auf den Schirmen radikaler Feministinnen erschienen, verschränkte sie bereits den vivisezierten Körper mit Sprache, das Animalische mit dem Humanen oder dem Mechanischen und deckte, in deren profunder Kenntnis, das Verhängnis einer jahrtausendealten patriarchalischen Kultur auf. Gottvater missbrauchte Maria, damit sie ihm einen Sohn austrage – so beginnt ihr Neues Testament.“

Hier steht nicht Meinung gegen Meinung, sondern Kenntnis gegen Vorurteil, Arbeiter an und mit dem Text gegen Überfluginsassen. Und mit jedem intensiveren Lesen der Gedichte von Marcia Nardi, werden die Versäumnisse ihnen gegenüber offensichtlicher und am Ende schüttelt man den Kopf und sagt: unverzeihlich. „Ich habe bei meinen Rippen angeklopft / Und an meinen Gliedern / Und an meinem Schädel / Geklopft habe ich an meinen Schoß / Und an meine Brust – / An alle dunklen Schließen und Wände / Habe ich gehämmert und habe gerufen / Dies sind meine Eingeweide da drinnen / Dies sind meine Lungen, mein Herzschlag gehört mir – / Dies ist mein Haus, schrie ich, / Lasst mich ein ...“

Marcia Nardi betritt hier Ebenen der Entfremdung: der Mensch ist zwar Körper, aber er funktioniert in ihm, ohne in ihm zu „wohnen“. Stattdessen vertreibt der maskierte Unwirt der Gesellschaft das Subjekt und macht es zu seinem Objekt. Und es sind immer wieder privat empfundene Ebenen, auf denen sie ihre Texte aufstellt und handeln lässt, real empfundene, poetisch erspürte, im Paradoxen gefangene. Da ist keine Politik und kein Besserwissen. Es ist der in die Zeitläufte gescheuchte Mensch, der darin umhersucht, scheitert oder behauptet. Was anderes könnte/sollte ein Mensch sein? Natürlich betroffen und natürlich Zeuge seiner Situation. Wer das als Vorwurf formuliert, will über Inhalte bestimmen – was ihm nicht zusteht.

„Wie ich den Hund beneide, der dir den Stock apportiert. / So wie er das Wasser abschüttelt, so schüttele ich / Alles Geschwätz von Kunst und Dichtung ab, / Um am trocknen Ufer neben deinem Atem zu liegen.“ Nardi spricht hier von und zu ihrem Körper, er offenbart sich als See, und die Gedichte kommen und überschwemmen sie. Es gibt einen Kiesel, sie erhofft ihn als Wort, das sich schmecken lässt und lutschen, ein Wort, nicht für das Ohr und nicht für das Auge, sondern für das Innere des Mundes, um immerfort in der Sprache zu leben. Die Metaphern sind groß und umfassend und manchmal krumm, weil sich surreal verlierend. Ripplinger weist zu Recht auf den stetig erspürten Gegensatz zwischen Fließendem und Festem, See und Stein hin: „Die kontrastierenden Paradigmen Flüssiges (ob Blut oder Wasser) und Stein (Sprache) ziehen sich durch den ganzen Band und stiften immer neue Syntagmen.“ Er arbeitet heraus, wie die Idee dahinter sich beschreiben ließe: „Den Stein zu verflüssigen ist der wahnsinnige Auftrag der Dichtung.“ Es ist das Überleben des Flüssigen, des Ansturms der Welt, das nur den Steinen gelingt, und das Flüssige kann nur mit den Steinen gelingen, sonst zerfließt es nach Nirgendwo. Die Sprache braucht eine Festigkeit, die das Fließen zuläßt, auch um selber mitgerissen zu werden. Was sich auflöst, verschwimmt und verliert sich.

Es ist eine Stärke des Nachworts von Stefan Ripplinger, daß er sich tief in die Sprache der Gedichte hineinbegibt und zu Schlüssen kommt, die nicht auf plakativer Wahrnehmungs-souveränität beruhen. Mit einem letzten Zitat aus dem Nachwort will ich diese Rezension schließen: „Es gibt keine Impressionen, es gibt nur Induktionen. Das diese Induktionen verarbeitende Denken jedoch ist zutiefst dialektisch, deshalb folgt Bruch auf Bruch. Was sich gefestigt hat, löst sich auf, was stirbt, lebt, und jeweils umgekehrt.“ Der Körper in der Kehre, die Welt im Fall, das Biegen und Brechen im Halt der Steine – das sind wirklich keine geringen Befindlichkeiten, möchte ich meinen.

FM, 05.01.2024


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