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Lisa Goldschmidt: Tage Fragmente

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Alexandru Bulucz

Zu Lisa Goldschmidts Debüt: "Tage Fragmente"


Fast jeder kennt Hofmannsthals Chandos-Brief (1902) und die Rede von den Worten, die „im Munde wie modrige Pilze“ zerfallen. Sie wird seit mehr als hundert Jahren herbeizitiert, meistens dann, wenn das Vertrauen in die Sprache und das Vermögen, mit ihr etwas zu bezeichnen, schwinden. Doch sie wird inzwischen derart verkürzt angeführt, dass darüber die Spezifik, mit der Hofmannsthal seine zerfallenden Worte bedachte, in Vergessenheit gerät. Es sind nicht irgendwelche Worte, die auf diese Weise zerfallen, „sondern die abstrakten“. Eigentlich die abstraktesten. Denn seine Beispiele lauten: Geist, Seele, Körper.
    Dann Benjamin, der in einer Variation der „modrigen Pilze“ die „Aufgabe des Übersetzers“ (1923) als den Versuch umreißt, die „morschen Schranken der eigenen Sprache“ zu brechen. Wozu sollte der Übersetzer sie zu brechen versuchen?
    Chandos würde sagen: um der „Regenwürmer zum Angeln“ willen, die sich unter den „morschen Brettern“ befinden: „Keiner von ihnen, der mit abgezogener Mütze vor seiner Haustür steht, wenn ich abends vorüberreite, wird eine Ahnung haben, daß mein Blick, den er respektvoll aufzufangen gewohnt ist, mit stiller Sehnsucht über die morschen Bretter hinstreicht, unter denen er nach Regenwürmern zum Angeln zu suchen pflegt […].“ Ein sinnliches Bild!

Lisa Goldschmidt will dagegen nicht die abstrakten Schranken der Sprache brechen, sondern die sinnlichen. Sie bricht sich nicht von außen nach innen, vom Abstrakten zum Sinnlichen Bahn. Nicht zu den Regenwürmern möchte sie hin. Sondern aus der Sinnlichkeit in die Abstraktion. Gleich im ersten Gedicht des ersten Zyklus von insgesamt sechs, in dem es um eine Art Hofmannthal’schen Traums „von ebbe, von worten, die sich zurückzogen“, geht, belässt sie es bei der abstrakten Frage „in welcher meiner sinnlichkeiten sollte mich der ozean berühren?“. Ihr müsste eine Antwort folgen, die Sinnlichkeit und Berührung – am besten in der Abwesenheit der Wörter „Sinnlichkeit“ und „Berührung“ – entfaltet. Aber die Antwort bleibt aus. Zumindest auf der inhaltlichen Ebene. Auf der klanglichen wird die Sinnlichkeit ja virtuos entfaltet: gischt – trifft – zischt. „doch ich zauderte, wie der wind zaudert, ehe die gischt in die stille trifft, mit einer fäulnis versehen zischt.“

Eine Reihe von Gedichten folgt, die der ambigen Redewendung „Das ist kein Zustand!“ nachgeht. So zumindest ließen sie sich deuten: „ich habe meinen stillstand verloren“, heißt es im zweiten Gedicht über den Verlust von Ruhe- oder Mittelpunkt, Gleichgewicht oder Balance. Und das Ich setzt wie in einer Drohgebärde nach: „entlang der dünung werde ich schattenhaft sein.“
    Goldschmidt schafft es, der Sprunghaftigkeit der Seinszustände nachvollziehbar den Wechsel zwischen den Zeitformen an die Seite zu stellen. So dass es in der Chronologie der Gedichte aus der Zukunft auch mal in die Vergangenheit zurückgehen kann: „ich […] war die irritation einer auster.“ Was sich in einem Gespräch mit einer „sie“ fortsetzt, das unter Umständen nichts anderes ist als das Selbstgespräch eines weiblichen Ichs: „ich befand mich in einem umbruch, verließ / mein altes gehäuse und wurde zu wasser an jenem abend.“
    Höhepunkt Goldschmidt’scher Abstraktion dürfte die Frage sein: „gibt es eine form für das erscheinen?“. Die Antwort bleibt diesmal nicht aus. Gegeben wird sie allerdings nur, um die Abstraktion zu erhärten: „noch ist sie weich und / formlos vor worten. noch ist sie nicht zu fassen, // ein nachtschattengewächs. // sie sprach von der betonung des körperlosen.“ Die Sinnlichkeit bleibt im Dunklen; um welches Familienmitglied der Nachtschattengewächse es geht, wird nicht verraten; die pronominale Referenz „sie“ könnte sich auf die „form“, aber auch auf jene monologisierende namenlose „sie“ beziehen …
    Dass eine innere Notwendigkeit der Gedichte deren Anordnung im Buch lenkt – auch das zeigt sich an mehreren Sequenzen. Der „zustand der durchlässigkeit“, der Suspension und der Permeabilität in dem einen Gedicht ebnet den Weg für die auf die Spitze getriebene Technik der Aufzählung in dem nächsten Gedicht. Doch die Zustände finden nicht mehr nacheinander statt, sondern gleichzeitig: „sie sagte, sie sei basalt, sei granit, in den nächten bin ich / schiefer, bin karst, bin verwitterung. ich bin oberflächlich, / bin gehöhlt, eine fassade, eine doline, muschelig, / uneben, splittrig. // ich bin opal, keine metamorphose, doch / reminiszenz. // meine haut ist ein steiniger grund.“ Und in dem überübernächsten: „all diese zustände, diese gegenstände […]“.
    Dass es dem Ich darum geht, seine Zu- und Gegenstände hinter sich zu lassen, um zu den „grundzügen“ vorzustoßen, in denen es „bereits fertig geformt“ gewesen sei, zeigt sich am Vorkommen solcher Verben wie „abtragen“, „abarbeiten“. Das ist das Thema vieler Gedichte im jungen Oeuvre der Lisa Goldschmidt: Die Abarbeitung am Selbst, das „schicht um schicht“-Abtragen von Facetten, in der Hoffnung, einmal in ein unspaltbares Innerstes vorzudringen. Wo, wenn nicht in einem Debüt, sollte man wie frau solchen lyrischen Ehrgeiz zeigen und so viel poetisches Risiko eingehen – bei der Inszenierung des Unfertigen und Fragmentarischen (Ichs), worauf schon der Titel des Bandes „Tage Fragmente“ hinweist?! Derart viel Risiko, dass der Rezensent kurz davorsteht, diese Lyrik, in der offen von einem „verletzbar“ und „sentimental“ gewordenen Ich gebeichtet wird, der Confessional Poetry zuzuordnen oder wenigstens der Neuen Ehrlichkeit, Empfindsamkeit …
    Und dann plötzlich, in kontrastiver und schönster sinnlicher Einfachheit: „mein rücken schmerzt“. Hier ist die Abstraktion abgeschält und abgetragen: „mein rücken schmerzt; der tag noch vor mir / ist ein völlig neuer, wie auch sonst, wenn ich schreibe, sagt sie. / gestern noch war es kühl, es regnete und ich litt. // die harte präteritumsform von leiden ist wie eine seife, die / ausging, in den händen verschwand.“ Zum sinnlich Poetischen gehört auch das Unausgesprochene, der unausgesprochene Reim: „ich litt. // die harte präteritumsform von leiden ist wie eine seife, die [glitt]“.
    Goldschmidt hat sich am Selbst abgearbeitet, sie hat ihre Abarbeitung abstrakt inszeniert und sich spektakulär befreit: In den nächsten drei Zyklen „Nelken“, „Vollmond“, „Endniss“, die auf O-Töne der bedeutenden, 2009 verstorbenen Choreografin Pina Bausch zurückgehen, bricht die Freude am Poetischen aus ihr heraus. Die Frage nach der Sinnlichkeit und der Abstraktion stellt sich nicht mehr. Das Selbstgespräch hat sich in ein inspiriertes Gespräch mit Pina verwandelt, das eher Prosaische in ein experimentell-visuelles Gedicht. Die Register wechseln sich ab, und selbst royale Töne passen dabei in den Zusammenhang: „Als ich noch fror, bekam ich Tristesse.“ Es herrschen Heiterkeit, Komik und Witz, es wird metrisiert und rhythmisiert, was das Zeug hält, und die Leser*innen werden sich bei der Lektüre dabei ertappen, wie ihre inneren Stimmen tanzend mitsingen und mitsingend tanzen werden. Diese drei Zyklen – dieses politische („Wir Frauen, wir fühlen // die Brüste zu sehr.“) und das mit überraschenden Wendungen auftrumpfende („fallsam bedacht“) Geistergespräch mit Pina zu lesen, war unbeschreiblich schön. „Es war wunderbar“ – wie ein Satz aus den Zyklen lautet.
    Die letzten zwei Zyklen dagegen gehören noch zum ersten. Es hätte dem Band gutgetan, wenn sie vor den ersten gesetzt worden wären. Denn hier kehren Sprache, Ton und Thematik des ersten Zyklus wieder. Nachdem in den Pina-Zyklen das Ich es selbst war, geht es hier erneut um Seinszustände: „ich / werde mein ich ablegen, ich werde eine andere sein, eines / tages werde ich geschrieben worden sein“. Aber das tut dem Band und der poetischen Glanzleistung der Lisa Goldschmidt keinen Abbruch.


Lisa Goldschmidt: Tage Fragmente. Jena (Raniser Debüt – Lesezeichen e.V. Verlag) 2018/2019. 76 S. 10,00 Euro.
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