Leo Trotzki: Stalin. Zweites Kapitel - Der "Berufsrevolutionär"
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Zweites Kapitel.
Der »Berufsrevolutionär«
Im Jahre
1883 – Sosso ging auf sein viertes Lebensjahr zu – wurde die Stadt Baku, das
Ölzentrum des Kaukasus, durch eine Eisenbahnlinie mit dem Schwarzmeerhafen
Batum verbunden. Zu seinem naturgegebenen Rückgrat, den Bergketten, bekam der
Kaukasus nun noch ein künstliches aus Schienensträngen hinzu. Der steigenden
Petroleumerzeugung folgte das Wachstum der Manganerzindustrie auf dem Fuße.
1896, als Sosso von »Koba« zu träumen begann, brach der erste Streik in den
Eisenbahnwerkstätten von Tiflis aus.
Wie auf dem
Gebiet der Industrie wurde der Kaukasus auch in der Entwicklung der Ideen von
Zentralrußland ins Schlepptau genommen. In der zweiten Hälfte der neunziger
Jahre war der Marxismus die in der fortschrittlichen
Intelligenz Rußlands und vor allem Petersburgs vorherrschende Tendenz geworden.
Während Koba noch in der Moderluft des Seminars Theologie paukte, hatte sich
die sozialdemokratische Bewegung schon eine stattliche Anhängerschaft errungen.
Eine stürmische Welle von Streiks rollte über das ganze Land hin. Hunderte
erst, die den Anfang zu machen gewagt hatten, dann Tausende von Intellektuellen
und Arbeitern nahmen Verhaftung und Verbannung auf sich. In der Geschichte der
revolutionären Bewegung hatte ein neues Kapitel begonnen.
Als Koba
1901 Mitglied des Tifliser Komitees wurde, waren in den 9000 Unternehmungen
Transkaukasiens annähernd 40 000 Industriearbeiter beschäftigt, die
Handwerksbetriebe nicht mit gerechnet. Keine nennenswerte Anzahl, wenn man die
Ausdehnung und den Reichtum des von zwei Meeren umspülten Landes bedenkt; doch
hatte sie dafür ausgereicht, daß der Grundstein für eine sozialdemokratische
Propaganda gelegt werden konnte. Die Bohrtürme Bakus, die ersten Förderungen
von thoriumhaltigem Manganerz, der belebende Eisenbahnverkehr, all dies gab
nicht nur den Streikbewegungen der Arbeiter Auftrieb, sondern auch dem
theoretischen Denken der georgischen Intelligenz. Eher überrascht als feindlich
schildert die liberale Zeitung »Kwali« (»Die Furche«) das Auftreten von
Vertretern der neuen Bewegung auf der politischen Arena: »Seit 1893 findet man
in der georgischen Presse Beiträge junger Leute von einer eigenartigen Richtung
und mit einem sonderbaren Programm; sie sind Anhänger der Theorie des
ökonomischen Materialismus.« Um sie von den fortschrittlichen Adligen und der
liberalen Bourgeoisie zu unterscheiden, die das voraufgegangene Jahrzehnt
beherrscht hatten, belegte man sie mit dem Namen »der dritte Stand«. Ihr
führender Kopf war Noah Jordania, später Führer der kaukasischen Menschewiki
und Regierungschef der kurzlebigen georgischen Demokratie.
Infolge der
außerordentlichen Rückständigkeit des Landes war die kleinbürgerliche
Intelligenz Rußlands, wollte sie der Unterdrückung durch das Polizeiregime und
dem Termitenstaat der alten Gesellschaft entrinnen, gezwungen, die
Zwischenstadien zu überspringen. Protestantismus und Demokratie, unter deren
Banner die Revolutionen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gekämpft
hatten, waren längst zu konservativen Doktrinen geworden. Der bettelarmen
kaukasischen Boheme konnten die liberalen Abstraktionen
nichts bieten. Ihre Feindschaft den privilegierten Klassen gegenüber bekam von
vornherein eine soziale Färbung. Für die Kämpfe, die ihr bevorstanden, brauchte
sie neue Theorien, die noch nicht kompromittiert waren. Sie fand diese Theorien
im westlichen Sozialismus, in dessen wissenschaftlich höchstqualifizierter
Form, im Marxismus. Der umstrittene Punkt war nicht länger die Gleichheit vor
Gott oder Gleichheit vor dem Gesetz, sondern wirtschaftliche Gleichheit. In der
Tat sollte der Ausblick auf den einst zu verwirklichenden Sozialismus, die
Intellektuellen in ihrem antizaristischen Kampf vor dem Skeptizismus bewahren,
der sie, die von den westlichen Demokratien Enttäuschten, vorzeitig bedrohte.
Solche Umstände und Bedingungen bestimmten den Charakter des russischen und
noch mehr des kaukasischen Marxismus, der gerade deshalb so über alle Maßen
beschränkt und primitiv sein mußte, weil er den politischen Bedürfnissen
rückständiger, provinzlerischer Intellektueller angepaßt war. Obwohl an sich
theoretisch mangelhaft, leistete dieser Marxismus jenen Intellektuellen dennoch
einen wirklichen Dienst, indem er sie zum Kampf gegen den Zarismus anfeuerte.
Der
Marxismus der neunziger Jahre richtete seine kritische Spitze vor allem gegen
die sterile Bewegung der Narodniki (»Volkstümler«), die eine abergläubische
Furcht vor der kapitalistischen Entwicklung hatten und hofften, daß Rußland
eine »Ausnahme« machen und seine besonderen Wege gehen könnte. Die Verteidigung
der fortschrittlichen Mission des Kapitalismus wurde deshalb zum Hauptthema des
»Intelligenzler«-Marxismus, der darüber das Programm des proletarischen
Klassenkampfes häufig in den Hintergrund treten ließ. In der legalen Presse,
vertrat Noah Jordania beharrlich die »nationale Interessengemeinschaft«, wobei
er die Einheit von Proletariat und Bourgeoisie im Kampfe gegen die Autokratie
im Auge hatte. Diese Vereinigungsidee wurde mit der Zeit zum Eckstein der
menschewistischen Politik und führte schließlich zu deren völligem Versagen.
Noch heute überhäuft die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung die längst
gegenstandslos gewordenen Ideen Jordanias mit Schmähungen aller Art – breitet
aber den Mantel des Schweigens über die Tatsache, daß Stalin selbst drei
Jahrzehnte später nicht nur in China, sondern auch in Spanien und sogar in
Frankreich eben diese menschewistische Politik angewandt hat, also in einem
Stadium, das für eine solche Politik ungleich weniger
Rechtfertigung bietet als jenes, in dem sich das feudale Georgien unter dem
Stiefel des Zaren befand.
Doch waren
selbst in jenen Tagen die Meinungen über Jordanias Politik durchaus geteilt.
Sascha Tsulukidse, später einer der bekanntesten Propagandisten des linken
Flügels, trat dem »dritten Stand« im Jahre 1895 bei. Als er 1905, im Alter von
29 Jahren, an Tuberkulose starb, hinterließ er eine Reihe journalistischer
Arbeiten, die von bedeutendem marxistischem Wissen und literarischem Talent
zeugen. 1897 kam Lado Ketskhoweli zum »dritten Stand«, der ebenfalls auf der
Pfarrschule in Gori und dem Tifliser Seminar gewesen, aber um einige Jahre
älter als Koba war und dessen erste Schritte auf dem Weg der Revolution
geleitet hatte. 1923, als den Memoirenschreibern noch die notwendige Freiheit
zu Gebote stand, erinnert Jenukidse daran, daß »Stalin oftmals seine
Bewunderung für das außergewöhnliche Talent des verstorbenen Genossen
Ketskhoweli ausdrückte, der schon in jener Zeit die Fragen korrekt im Sinne des
revolutionären Marxismus zu stellen wußte«. Dieses Zeugnis, vor allem das Wort
»Bewunderung«, widerlegt die später entstandenen Erzählungen, nach denen Stalin
von jeher die Führung hatte und Tsulukidse und Ketskhoweli nur seine »Helfer«
waren. Wir können hinzufügen, daß die Artikel des jungen Tsulukidse ihrem
Inhalt und ihrer Form nach hoch über all dem stehen, was Koba zwei bis drei
Jahre später schrieb.
Ein Jahr
nach seiner eigenen Aufnahme führte Ketskhoweli Koba in die linke Fraktion des
»dritten Standes« ein, die damals nicht eine revolutionäre Organisation,
sondern ein Kreis Gleichgesinnter war, der sich um die legal erscheinende
»Furche« gruppierte, die 1898 von den Liberalen in die Hände der von Jordania
geführten Marxisten übergegangen war.
»Oft gingen
wir heimlich ins Büro der ›Furche‹«, berichtet Iremaschwili, »erst kam Koba
manchmal mit, später fing er an, sich über die Redaktionsmitglieder lustig zu
machen.« Zwar befanden sich die Meinungsverschiedenheiten unter den Marxisten
in jenen Jahren noch in einem ganz unbegrenzten Zustand, doch hatten sie
nichtsdestoweniger eine reale politische Bedeutung. Der gemäßigte Flügel
glaubte nicht wirklich an die Revolution noch an ihren baldigen Ausbruch, er
setzte auf einen lang anhaltenden »Fortschritt« und erstrebte die Einheit mit
den bürgerlichen Liberalen. Die Linken hingegen wollten aufrichtig die
revolutionäre Erhebung der Massen und traten deshalb für eine unabhängigere
Politik ein; sie waren im Grunde revolutionäre Demokraten, die ganz natürlich
zu den »marxistischen« Halbliberalen in Opposition gerieten. Seiner ganzen
Herkunft sowohl wie seinem persönlichen Charakter nach mußte Sosso instinktiv
zum linken Flügel hinneigen. Ein mit einer recht primitiven »marxistischen«
Doktrin ausgerüsteter plebejischer Demokrat provinzlerischer Prägung – als das
ist er in die revolutionäre Bewegung hineingekommen und das ist er trotz seines
phantastischen Aufstiegs immer geblieben.
Die
Unterschiede in den Auffassungen der beiden noch nicht scharf voneinander
getrennten Gruppen betrafen vorläufig nur Fragen der Propaganda und Agitation.
Die einen waren für vorsichtige Erziehungsarbeit in kleinem Kreise, die anderen
für Massenagitation mit Flugblättern und Führung von Streiks. Als die
Befürworter der Massenarbeit die Oberhand gewannen, gingen die Diskussionen um
den Text der herauszugebenden Flugblätter. Die Vorsichtigsten wollten die
Agitation ausschließlich auf wirtschaftliche Forderungen beschränken und ja
nicht »die Massen erschrecken«; sie wurden von ihren Gegnern geringschätzig als
»Ökonomisten« bezeichnet. Im Gegensatz zu ihnen hielt der linke Flügel den
Zeitpunkt für eine revolutionäre Agitation gegen den Zarismus für gekommen.
Diese Ansicht vertraten auch Plechanow unter den Emigranten und Wladimir
Uljanow und seine Freunde in Rußland.
»Die erste
sozialdemokratische Gruppe bildete sich in der Stadt Tiflis«, berichtet einer
der Pioniere der Bewegung. »Schon 1896 und 1897 gab es in Tiflis Gruppen, in
denen Arbeiter das vorherrschende Element waren; sie beschäftigten sich zuerst
ausschließlich mit Bildungsarbeit ... Ihre Zahl wuchs ständig an, um 1900 waren
es schon einige Dutzend. Jede Gruppe hatte zehn bis fünfzehn Mitglieder.« Je
zahlreicher die Gruppen wurden, um so offener traten sie hervor.
Koba bekam
noch als Seminarist Fühlung mit Arbeitern und trat 1898 in die
sozialdemokratische Organisation ein. Iremaschwili entsinnt sich »eines
Abends«, an dem er mit Koba »heimlich das Seminar verließ. Wir gingen in ein
kleines Haus, das an einen Felsen angebaut war und das einem Tifliser
Eisenbahner gehörte. Uns nach folgten einige andere Seminaristen, die unsere
Auffassungen teilten und ebenfalls an der Versammlung der sozialdemokratischen
Eisenbahner-Organisation teilnehmen wollten.« Stalin selbst sagt darüber 1926
auf einer Kundgebung in Tiflis:
»Ich erinnere mich an das Jahr 1898, als mir die erste
Gruppe der Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten zugewiesen wurde. Ich erinnere
mich, wie ich in der Wohnung des Genossen Sturna, in Anwesenheit von Sylvester
Dschibladse (er war damals einer meiner Lehrer) ... und anderer
fortgeschrittener Arbeiter von Tiflis, Unterricht in praktischer Arbeit erhielt
... Hier, im Kreise dieser Genossen, erhielt ich dann meine erste revolutionäre
Feuertaufe, hier, im Kreise dieser Genossen, wurde ich Revolutionslehrling ...«
In der Zeit
von 1898 bis 1900 brachen in den Tifliser Fabriken und Eisenbahnwerkstätten
mehrere Streiks aus, an denen junge Sozialdemokraten zumeist führend beteiligt
waren. Gedruckte Aufrufe, mit der Handpresse in irgendeinem Keller hergestellt,
wurden unter die Arbeiter verteilt. Die Bewegung stak noch ganz im Geiste des
»Ökonomismus«. Einen Teil dieser illegalen Arbeit leistete Koba. Welchen, das
läßt sich nicht leicht ermitteln, doch hatte er offenbar schon erreicht, zu den
in die Geheimnisse der illegalen revolutionären Arbeit Eingeweihten zu gehören.
Lenin,
dessen Deportation nach Sibirien 1900 abläuft, geht mit der Absicht ins
Ausland, dort eine revolutionäre Zeitung zu gründen, um mit ihrer Hilfe die
lockere Parteiorganisation zusammenzufassen und sie endgültig auf ein
revolutionäres Gleis zu schieben. Zum selben Zeitpunkt verläßt der Ingenieur
Viktor Kurnatowski Sibirien, ein alter Revolutionär, der in Lenins Pläne
eingeweiht worden war, und begibt sich nach Tiflis. Er war es – und nicht Koba,
wie die byzantinische Geschichtsschreibung neuerdings behauptet –, der die
Tifliser Sozialdemokratie von ihrer »ökonomischen« Ängstlichkeit befreite und
in ihre Arbeit einen revolutionären Zug hineinbrachte.
Kurnatowski
gehörte ursprünglich zur terroristischen Narodnaja-Wolja-Bewegung
(»Volkswille«). Während seiner dritten Verbannung, gegen Ende des Jahrhunderts,
hatte er sich, inzwischen Marxist geworden, mit Lenin und seiner Gruppe
angefreundet; die von Lenin im Ausland herausgegebene »Iskra« (»Der Funke«),
deren Anhänger bald als »Iskraleute« bekannt wurden, fand in Kurnatowski ihren
Hauptvertreter im Kaukasus. Alte Tifliser Arbeiter erinnern sich noch seiner:
»Bei allen Diskussionen wandten sich die Genossen Kurnatowski zu. Sein Urteil
und seine Schlußfolgerungen wurden immer widerspruchslos anerkannt.« Worte, die
die bedeutende Rolle bezeugen, die der unermüdliche und unbeugsame Revolutionär
im Kaukasus gespielt hat, dessen persönliches Schicksal aus
zwei Elementen gefügt war, dem heroischen und dem tragischen.
Unzweifelhaft
auf die Initiative Kurnatowskis hin, wurde 1900 in Tiflis ein Komitee der
Sozialdemokratischen Partei gegründet. Es setzte sich nur aus Intellektuellen
zusammen. Koba, der wie so viele andere bald unter Kurnatowskis Einfluß geriet,
war noch nicht Mitglied dieses Komitees, das übrigens nicht lange bestanden
hat. Von Mai bis August ging eine Streikwelle über die Tifliser Betriebe; unter
den Streikenden der Eisenbahnwerkstätten befinden sich der Schlosser Kalinin,
zukünftiger Präsident der Sowjetrepublik, und ein anderer russischer Arbeiter,
Allilujew, der spätere Schwiegervater Stalins.
Unterdes
hatte im nördlichen Rußland, von den Universitätsstudenten getragen, ein ganzer
Zyklus von Straßendemonstrationen begonnen. An der gewaltigen Maidemonstration,
die 1900 in Charkow stattfand, hatte sich die Mehrheit der Arbeiter beteiligt,
sie hatte im ganzen Lande ein Echo voller Staunen und Begeisterung erweckt.
Andere Städte folgten. »Die Sozialdemokratie«, schrieb der Polizeigeneral
Spiridowitsch, »hat die riesige Bedeutung erfaßt, die Straßen-kundgebungen für
ihre Agitation haben. Deshalb ergreift sie die Initiative dazu und zieht eine
immer größere Zahl von Arbeitern in Demonstrationen hinein. Nicht selten führen
Streiks zu Straßenkundgebungen.« Auch Tiflis blieb nicht lange ruhig. Die
Maifeier vom 22. April 1901 – vergessen wir nicht, daß damals in Rußland noch
der alte Kalender galt – wurde mit einem Straßenaufmarsch im Herzen der Stadt
begangen, an dem fast 2 000 Menschen teilnahmen. 14 Teilnehmer wurden bei
Zusammenstößen mit der Polizei und den Kosaken verwundet, über 50 Demonstranten
wurden verhaftet. Die »Iskra« hatte nicht versäumt, auf die symptomatische
Bedeutung des Tifliser Maiumzuges hinzuweisen: »Mit diesem Tage beginnt im
Kaukasus die offen revolutionäre Bewegung.«
Kurnatowski,
der die Vorbereitungsarbeit leitete, war schon in der Nacht des 22. März, einen
Monat vor der Demonstration, verhaftet worden. In derselben Nacht fand im
Observatorium, wo Koba beschäftigt war, eine Haussuchung statt. Koba hatte sich
beizeiten davonmachen können und wurde nicht gefaßt. Die Gendarmerieinspektion
befahl »... den vorgenannten Josef Dschugaschwili zu suchen und als Angeklagten
zu verhören«. Koba »ging in die Illegalität«. Er wurde »Berufsrevolutionär«, für lange Zeit! Er war 22 Jahre alt. Bis zur siegreichen
Revolution blieben noch 16 Jahre.
Der
Verhaftung entronnen, verbarg sich Koba in den nächsten Wochen in Tiflis und
konnte an der Maidemonstration teilnehmen. Beria versichert das mit aller
Bestimmtheit und setzt wie üblich hinzu, Stalin habe die Demonstration
»persönlich geleitet«. Unglücklicherweise kann man Beria nicht ohne weiteres
glauben. Es liegt nämlich auch eine Aussage von Iremaschwili vor, der sich um
diese Zeit allerdings nicht in Tiflis aufhielt, sondern in Gori, wo er Lehrer
geworden war. »Koba, als einer der polizeilich gesuchten Anführer«, sagt er,
»gelang es, gerade einen Augenblick bevor er verhaftet werden sollte, vom
Marktplatz zu verschwinden ... Er flüchtete sich in seine Heimatstadt Gori. Bei
seiner Mutter konnte er nicht leben, denn dort wäre er natürlich zuerst gesucht
worden; auch in seinem Geburtsort mußte er sich verstecken. Heimlich, zu
nächtlicher Stunde, besuchte er mich in meiner Wohnung.«
Die Tifliser
Straßenkundgebung hatte auf Koba einen mächtigen Eindruck gemacht. Iremaschwili
stellt »nicht ohne Besorgnis« fest, daß es gerade die blutigen Zwischenfälle
waren, die seinen Freund begeisterten. »Nur ein Kampf auf Leben und Tod könne
die Bewegung stark machen; blutige Zusammenstöße, das war Kobas Meinung, würden
eine schnelle Entscheidung herbeizwingen.« Iremaschwili ahnte nicht, daß Freund
Koba nur wiedergab, was die »Iskra« predigte.
Von Gori aus
muß Koba wieder illegal nach Tiflis gegangen sein; ein Gendarmerierapport
besagt, daß »Dschugaschwili im Herbst 1901 in das Komitee von Tiflis gewählt
wurde ..., an zwei Sitzungen dieses Komitees teilnahm und Ende 1901 zum Zwecke
propagandistischer Tätigkeit nach Batum geschickt worden ist«. Da die Jagd auf
Revolutionäre die wichtigste Aufgabe der Gendarmerie war und sie dank ihrem
Spitzeldienst stets hinreichend informiert gewesen ist, können wir es als
erwiesen betrachten, daß Koba in den Jahren 1898 bis 1901 in Tiflis nicht jene
leitende Rolle gespielt hat, die man ihm nun zuschreibt; bis Herbst 1901 war er
nicht einmal Mitglied des Tifliser Ortskomitees, sondern nur Gruppenleiter, ein
Propagandist unter vielen.
Ende 1901
begibt sich Koba also an die Gestade des Schwarzen Meeres, nach Batum, dicht an
der türkischen Grenze. Zwei Gründe mögen ihn gezwungen haben, den
Aufenthaltsort zu wechseln: der Tifliser Polizei aus den
Augen zu kommen und die revolutionäre Propaganda in die Provinz zu tragen. In
menschewistischen Veröffentlichungen ist allerdings eine andere Erklärung
gegeben worden. Dschugaschwili habe von den ersten Tagen seiner Tätigkeit in
den Arbeitergruppen an, durch seine Intrigen gegen den eigentlichen Leiter der
Tifliser Organisation, Dschibladse, unliebsames Aufsehen erregt und habe trotz
Verwarnung seine Verleumdungen nicht eingestellt, »mit dem Ziel, die wirklichen
und anerkannten Vertreter der Bewegung zu diskreditieren und sich eine führende
Stellung zu verschaffen«. Vor einen Untersuchungsausschuß der Partei gestellt,
sei Koba der üblen Nachrede überführt und einstimmig ausgeschlossen worden.
Eine Möglichkeit, diese Geschichte nachzuprüfen, ist kaum gegeben. Es darf
nicht vergessen werden, daß sie von Stalins Widersachern stammt. Die Tifliser
Polizeirapporte, wenigstens die bis heute veröffent-lichten, sagen nichts über
einen Ausschluß Josef Dschugaschwilis aus der Partei; im Gegenteil, sie
sprechen davon, daß er nach Batum geschickt wurde, »um dort Propaganda zu
treiben«. Wir würden denn auch die menschewistische Version ruhig
beiseitelegen, wenn nicht andere Bekundungen zu erwägen gäben, daß der Reise
nach Batum doch irgendwelche Mißhelligkeiten vorausgegangen sind.
Einer der
ersten und gewissenhaftesten Historiker der Arbeiterbewegung im Kaukasus war T.
Arkomed, dessen Buch 1910 in Genf herausgekommen ist. Arkomed spricht von einem
heftigen Konflikt, der im Herbst 1901 in der Tifliser Parteiorganisation über
die Frage entbrannte, ob von den Arbeitern gewählte Vertreter in das Komitee
aufgenommen werden sollten. »Dagegen trat ein junger, energischer, in allen
Dingen bewanderter, aber etwas wirrer Genosse auf, der konspirative
Notwendigkeiten, die ungenügende Vorbereitung und das mangelnde
Klassenbewußtsein der Arbeiter ins Feld führte, die gegen ihre Zulassung
sprächen. Zu den anwesenden Arbeitern gewandt, beendete er seine Ausführungen
mit diesen Worten: ,Man schmeichelt hier den Arbeitern. Ich frage euch, sind
hier ein oder zwei Arbeiter, die für das Komitee in Frage kommen? Hand aufs
Herz, sagt die Wahrheit!‹« Die Arbeiter ließen ihn reden und stimmten für die
Aufnahme ihres Delegierten. Arkomed gibt den Namen des »energischen Wirrkopfes«
nicht an; als er seine Schrift abfaßte, war es noch nicht möglich, Namen zu
veröffentlichen. Und als sie 1923 in einem Sowjetverlag neu aufgelegt wurde,
ist der Name nicht eingefügt worden; wir neigen zu der
Annahme, daß das kein Versehen war. Das Buch enthält aber einen indirekten Hinweis.
»Der junge Genosse«, fährt Arkomed fort, »verlegte seine Tätigkeit von Tiflis
nach Batum, von wo aus den Tifliser Arbeitern mitgeteilt wurde, daß er sich
unanständig verhalte und eine desorganisierende, feindselige Agitation gegen
die Tifliser Parteimitglieder triebe.« Laut Arkomed waren nicht prinzipielle
Meinungsverschiedenheiten für dieses feindselige Verhalten maßgebend, sondern
»Launenhaftigkeit und Streben nach absoluter persönlicher Macht«. All dies paßt
zu dem Bild, das Iremaschwili von den »Balgereien« in der Seminaristengruppe
entworfen hat. Arkomeds »junger Genosse« sieht Koba täuschend ähnlich. Kein
Zweifel, daß es sich um ihn handelt; zahlreiche Erinnerungsschriften
bestätigen, daß er der einzige vom Tifliser Komitee war, der im November 1901
nach Batum ging. Es ist also anzunehmen, daß er das Feld seiner Tätigkeit
verlegte, weil ihm der Boden in der Tifliser Organisation zu heiß geworden war.
Wenn nicht direkt ausgeschlossen, so ist er jedenfalls versetzt worden, damit
die Atmosphäre in der Tifliser Organisation gesunden konnte. Daher das
»unanständige Verhalten« der Tifliser Organisation gegenüber und die Gerüchte
von seinem Ausschluß. Lassen wir nicht unbeachtet, was der Anlaß des Konfliktes
war: Koba verteidigt den »Apparat« der Partei gegen den Druck von unten.
Batum, das
zu Beginn des Jahrhunderts fast 30 000 Einwohner zählte, war nach damaligen
Begriffen eins der bedeutendsten Industriezentren des Kaukasus, gab es doch in
der Stadt schon 11 000 Fabrikarbeiter. Die Arbeitszeit betrug wie seinerzeit
üblich über 14 Stunden bei kärglichem Lohn. Kein Wunder, daß das Proletariat
für revolutionäre Propaganda in höchstem Grade empfänglich war. Koba brauchte
hier ebensowenig wie in Tiflis von vorn anzufangen: illegale Gruppen bestanden
in Batum seit 1896. Zusammen mit dem Arbeiter Kandelyaki spannte Koba das Netz
der Gruppen weiter aus. Bei einer Zusammenkunft am Neujahrstag war beschlossen
worden, alle Gruppen in einer gemeinsamen Organisation zu vereinigen, der aber
nicht die Rechte eines autonomen Komitees zuerkannt wurden und die von Tiflis
abhängig blieb. Was natürlich neuerlich einen jener Konfliktstoffe ergab, auf
die Arkomed anspielt. In keinem Falle hat Koba eine Autorität über sich dulden
wollen.
Anfang 1902
konnte sich die Batumer Organisation eine äußerst primitive – Druckeinrichtung
verschaffen. Die Geheimdruckerei wurde in Kobas Unterkunft
eingerichtet. An dieser Verletzung aller konspirativen Regeln war zweifellos
der Mangel an materiellen Mitteln schuld. »Ein schmales Zimmerchen, von einer
Petroleumlampe schwach erleuchtet. An einem kleinen, runden Tisch sitzt Stalin
und schreibt. An seiner Seite die Druckerpresse, an der einige Schriftsetzer
arbeiten. Die Lettern liegen in Streichholz- und Zigarettenschachteln und
werden auf einem Stück Papier zurechtgelegt. Von Zeit zu Zeit reicht Stalin den
Schriftsetzern den soeben geschriebenen Text.« So beschreibt einer der
Teilnehmer die Arbeit. Der Text der Aufrufe stand ungefähr auf demselben Niveau
wie die technische Einrichtung, mit der sie hergestellt wurden. Einige Zeit
später, und unter Beihilfe des armenischen Revolutionärs Kamo, konnten so etwas
wie eine wirkliche Druckerpresse, Setzkästen und neue Lettern von Tiflis nach
Batum geschafft werden. Das Druckverfahren wurde verbessert. Der literarische
Stil der Druckerzeugnisse blieb derselbe. Was übrigens ihre Wirkung nicht
beeinträchtigte.
Am 25.
Februar 1902 ließ die Direktion der Rothschildschen Erdölraffinerien ein Plakat
anschlagen, das die Entlassung von 389 Arbeitern ankündigte. Als Antwort darauf
brach am 27. Februar ein Streik aus. Andere Betriebe wurden in die Agitation
hineingezogen. Es kam zu Zusammenstößen mit Streikbrechern, Der Batumer
Polizeichef forderte beim Gouverneur Truppen an. Am 7. März wurden 32 Arbeiter
verhaftet. Am nächsten Morgen demonstrierten 400 Arbeiter der Rothschildschen
Bohranlagen vor dem Gefängnis und verlangten die Freilassung ihrer Kameraden,
sonst wollten sie alle festgenommen werden. Die Polizei brachte sie allesamt in
die Baracken für Deportiertentransporte. In dieser Zeit schweißte das
Solidaritätsgefühl die arbeitenden Massen von Rußland enger zusammen, und die
neue Einheit manifestierte sich auf neue Weise, bei jeder Gelegenheit und in
den verlassensten Winkeln des Landes; wir waren drei Jahre vor der
Revolution... Wieder einen Tag später, am 9. März, fand eine noch größere
Demonstration statt, an der ungefähr 2000 Mann teilnahmen. Die Anklageschrift
besagt, daß »ein kolossaler Haufe von Arbeitern, mit ihren Führern an der
Spitze, in geschlossenen Reihen mit Gesang, Geschrei und Gepfeife auf die
Baracken losmarschierte. Sprecher waren die Arbeiter Chimirjanz und
Gogoberidse, die an den Kommandanten wiederum die Forderung stellten: entweder
die Verhafteten freizulassen oder alle einzusperren! Die Menge war, wie das
Gericht später zugegeben hat, »unbewaffnet und friedlich
gestimmt«. Die Hüter der Ordnung verstanden es jedoch, einen Stimmungsumschwung
herbeizuführen. Den Versuch der Truppe, den Barackenplatz mit Kolbenstößen frei
zu machen, beantworteten die Arbeiter mit Steinwürfen. Die Truppe feuerte, und
14 Tote und 54 Verwundete blieben auf dem Platze. Ein Ereignis, das das ganze
Land aufrührte. Zu Beginn unseres Jahrhunderts reagierten die Nerven der
Menschen auf Massenabschlachtungen noch empfindlicher als heutzutage.
Welche Rolle
Koba bei den Demonstrationen und Zusammenstößen gespielt hat, ist nicht klar
ersichtlich. Die sowjetischen Geschichtsklitterer haben zwei einander
widersprechende Aufgaben zu erfüllen: Stalin eine Teilnahme an der
größtmöglichen Zahl revolutionärer Ereignisse zuzuschreiben und zugleich die
Zeitdauer seines Aufenthalts in Gefängnissen und Verbannung möglichst hoch
hinaufzuschrauben; mehr als ein Hofmaler hat es fertiggebracht, uns
gelegentlich ganz verschiedene Vorkommnisse, die aber zu gleicher Zeit
stattfanden, sowohl Stalins Heldentum im Straßenkampf als auch sein Märtyrertum
im Gefängnis in Öl zu präsentieren. So veröffentlichten die Moskauer
»Iswestija« (»Nachrichten«) am 27. April 1937 die Abbildung eines Gemäldes von
E. Chutsischwili, das Stalin als Organisator des Tifliser Eisenbahnerstreiks
von 1902 darstellt. Am nächsten Tage sah sich die Redaktion gezwungen, eine
Berichtigung zu bringen. »Aus der Biographie des Genossen Stalin ist bekannt«,
heißt es darin, »daß er... von Februar 1902 bis Ende 1903 in Batum und Kutais
im Gefängnis war. Aus diesem Grunde kann der Genosse Stalin nicht der
Organisator des Streiks von 1902 in Tbilisi (Tiflis) gewesen sein. Um Auskunft
gebeten, hat Genosse Stalin erklärt, daß es vom Gesichtspunkt der
geschichtlichen Wahrheit aus irrtümlich sei, ihn als den Organisator des
Streiks darzustellen, da er sich zu dieser Zeit in Batum im Gefängnis befand.«
Wenn es aber richtig ist, daß Stalin von Februar an im Gefängnis war, dann kann
er »vom Gesichtspunkt der geschichtlichen Wahrheit aus« nicht der Leiter der
Batumer Kundgebungen gewesen sein, die im März stattfanden. Immerhin hat sich
bei dieser Gelegenheit nicht nur der übereifrige Kunstmaler gröblich geirrt,
sondern auch die Redaktion der »Iswestija«, obwohl sie Auskunft an der Quelle
eingeholt hat. Denn Tatsache ist, daß Koba nicht im Februar, sondern im März
verhaftet wurde: den Tifliser Streik konnte er nicht dirigieren, nicht weil er
im Gefängnis, sondern weil er an der Schwarzmeerküste war.
Bleibt noch die Möglichkeit seiner Teilnahme an den Batumer Ereignissen.
Versuchen wir zu ergründen, welcher Art sie war.
Der geneigte
Leser wird vielleicht mit Bedauern bemerken, daß wir die Schilderung der Dinge
mit kritischen Randbemerkungen über ihre Quellen begleiten. Der Verfasser sieht
sehr wohl die Unannehmlichkeiten einer solchen Methode, ihm bleibt aber keine
andere Wahl. Dokumente existieren kaum oder werden zurückgehalten. Später
verfaßte »Lebenserinnerungen« sind tendenziös, wenn nicht gar erlogen. Dem
Leser einfach fertige Schlußfolgerungen vorzusetzen, die zu der amtlich
beglaubigten Version im Widerspruch stehen, hieße, sich den Vorwurf der
Parteilichkeit zuziehen. Es bleibt nur, dem Leser die kritische Begutachtung
der Quellen selbst zu unterbreiten.
Barbusse,
ein französischer Biograph Stalins, der unter dem Diktat des Kremls geschrieben
hat, versichert uns, daß Stalin »wie eine Zielscheibe« an der Spitze der
Batumer Demonstration marschierte. Das klingt sehr schmeichelhaft, widerspricht
aber nicht nur dem Polizeibericht, sondern auch Stalins Natur. Stalin hat
nimmer und nirgendwo als »Zielscheibe« gedient (was nebenbei gesagt auch
niemand verlangt). Der Verlag des Zentralkomitees, der direkt unter Stalins
Aufsicht steht, hat 1937 den Batumer Ereignissen oder, genauer gesagt, Stalins
Teilnahme an ihnen einen ganzen Band gewidmet. Schade ist nur, daß die 240
Seiten engen Textes die Sache eher noch komplizieren, denn die von höchster
Stelle inspirierten »Erinnerungen« stimmen mit den übrigen veröffentlichten
Berichten nicht überein. »Genosse Sosso war ständig auf dem vordersten Plan und
leitete das zentrale Streikkomitee«, schreibt der diensteifrige Todria.
Gogoberidse erklärt: »Genosse Sosso war immer mit uns.« Ein alter Batumer
Arbeiter, Karachwelidse, erzählt, daß Sosso »mitten in dem stürmischen Meer von
Arbeitern stand und die Bewegung direkt leitete; er hat persönlich den Arbeiter
G. Kalandadse, der bei den Schießereien am Arm verwundet worden war, aus der
Menge hinausgetragen und nach Hause gebracht«. Als ob nicht jeder einfache
Teilnehmer den Samariterdienst hätte übernehmen können, als ob der Leiter
seinen Posten verlassen müsse, um einen Verwundeten nach Hause zu bringen!
Keiner der übrigen Mitarbeiter – 26 an der Zahl – spricht von dieser
zweifelhaften Episode. Sie ist auch bloß ein unerhebliches Detail. Die Mär von
Kobas Führerschaft wird viel gründlicher durch den Umstand widerlegt,
daß die ganze Kundgebung, wie sich vor Gericht herausstellen sollte, überhaupt
keinen Führer gehabt hatte. Selbst Gogoberidse und Chimirjanz, obwohl der
Staatsanwalt darauf bestand, daß sie die Anführer gewesen seien, weil sie
tatsächlich an der Spitze der Demonstration marschiert wären, wurden vom
zaristischen Gericht nur als einfache Teilnehmer verurteilt. Der Name
Dschugaschwili wurde während des ganzen Prozesses kein einziges Mal erwähnt,
obwohl eine große Anzahl von Angeklagten und Zeugen auftraten. Die Legende
fällt in sich zusammen. Kobas Teilnahme an den Batumer Ereignissen muß obskurer
Art gewesen sein.
Beria
zufolge entfaltete Koba nach den Vorfällen in Batum eine »immense« Tätigkeit,
schrieb Aufrufe, organisierte ihre Drucklegung und Verteilung, gestaltete die
Begräbnisfeier zu Ehren der Opfer des 9. März zu einer »grandiosen« politischen
Kundgebung und so weiter. Die üblichen Übertreibungen, die sich auf nichts
stützen. Koba wurde damals von der Polizei gesucht und konnte schon deshalb
keine »immense« Tätigkeit in einer kleinen Stadt entfalten, in der er,
demselben Schreiber nach, kurz zuvor noch vor den Augen der Demonstranten, der
Polizei, der Truppen, der Neugierigen eine führende Rolle gespielt hatte. In
der Nacht des 5. April wurde Koba auf einer Sitzung zusammen mit anderen
leitenden Parteimitgliedern verhaftet und ins Gefängnis abgeführt. Bittere Tage
begannen, ihr Ende war noch nicht abzusehen.
Die
veröffentlichten Dokumente erwähnen hier einen höchst interessanten
Zwischenfall. Drei Tage nach Kobas Verhaftung wurden während der Besuchszeit
zwei »Kassiber« aus einem Zellenfenster in den Gefängnishof geworfen, dazu
bestimmt, von einem der Besucher aufgelesen und an den Adressaten
weitergeleitet zu werden. Einer der Zettel enthielt die Bitte, den Schullehrer
Sosso Iremaschwili in Gori davon zu benachrichtigen, daß »Sosso Dschugaschwili
verhaftet worden ist und daß man seine Mutter davon informieren und ihr sagen
solle, wenn die Gendarmen kämen und sie fragen würden: Wann ist dein Sohn
fortgegangen? müsse sie antworten: den ganzen Sommer und Winter über bis zum
15. März war er hier«. Der zweite Zettel war an den Lehrer Elisabedaschwili
gerichtet und sprach von der Notwendigkeit, die revolutionäre Arbeit weiter
fortzusetzen. Beide Papierknäuel fielen den Gefängniswärtern in die Hände. Der
Kavalleriehauptmann und Gendarmerieoffizier Djakeli stellte
mühelos fest, daß sie von Dschugaschwili stammten und daß dieser »eine
ausnehmende Rolle bei den Arbeiterunruhen in Batum« gespielt haben müsse.
Djakeli benachrichtigte unverzüglich seine vorgesetzte Behörde in Tiflis,
empfahl eine Haussuchung bei Iremaschwili, ein Verhör der Mutter
Dschugaschwilis und die Verhaftung Elisabedaschwilis. Welche Folgen das gehabt
haben mag, darüber enthalten die besagten Dokumente nichts.
Mit
Vergnügen treffen wir in der amtlich genehmigten Erinnerungsschrift auf einen
uns bereits vertraut gewordenen Namen: Sosso Iremaschwili. Schon Beria hatte
ihn als Mitglied der Seminaristengruppe erwähnt, ohne sich aber über die
Beziehungen zu äußern, die die beiden Sossos verband. Eine der von den
Gefängnisbeamten abgefangenen Botschaften liefert nun aber den untrüglichen
Beweis, daß der von uns des öfteren zitierte Verfasser der »Tragödie Georgiens«
tatsächlich in enger Verbindung mit Koba stand. An ihn, den Freund aus der
Kindheit, wendet sich der erwachsene Mann aus der Haft heraus, um die Mutter zu
informieren. Was nebenbei auch bestätigt, daß Iremaschwili Kekes Vertrauen
besaß, die ihn, wie er erzählt, ihren »zweiten Sosso« nannte. Und was die
letzten Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines so beachtenswerten geschichtlichen
Zeugen zerstreut, der den Sowjethistorikern völlig unbekannt blieb. Wie Koba
selbst bei seinen Aussagen während der Untersuchung zugab, verfolgte er mit den
Instruktionen, die er der Mutter zukommen lassen wollte, die Absicht, die
Polizei über die Dauer seines Aufenthalts in Batum zu täuschen und auf diese
Weise aus dem Prozeß herauszubleiben. Ein Verhalten, in dem an und für sich
nichts Nachteiliges liegt. Die Polizei zu täuschen war eine der Regeln jenes
gefährlichen Spiels, das sich revolutionäre Konspiration nannte. Der Atem
stockt einem aber, wenn man beobachtet, mit welcher Sorglosigkeit Koba zwei
seiner Mitverschwörer der Gefahr aussetzt. Nicht weniger befremdend wirkt die
rein politische Seite solchen Verhaltens. Von einem Revolutionär, der eine
Kundgebung vorbereiten half, die einen so tragischen Ausgang nahm, sollte man
erwarten, daß er mit den einfachen Teilnehmern den Platz auf der Anklagebank
teilen will. Dies nicht aus sentimentalen Erwägungen heraus, sondern um die
Ereignisse ins rechte politische Licht zu rücken und das Verhalten der Behörden
geißeln zu können, um den Gerichtssaal in eine Tribüne revolutionärer Propaganda
zu verwandeln. Bot sich doch eine so günstige Gelegenheit
nicht allzu häufig! Daß Koba diesen Wunsch überhaupt nicht verspürt hat, läßt
sich nicht nur durch politische Engstirnigkeit erklären. Sicherlich hatte er
die allgemeine Bedeutung der Batumer Zwischenfälle überhaupt nicht erfaßt. Sich
ihren Konsequenzen zu entziehen – etwas anderes scheint ihm nicht in den Sinn
gekommen zu sein.
Zu bemerken
ist noch, daß dieser ganze Täuschungsversuch natürlich von vornherein
aussichtslos gewesen wäre, hätte Koba tatsächlich als Leiter figuriert und sich
an der Spitze der Demonstranten als »Zielscheibe« dargeboten. Dutzende von
Zeugen hätten ihn wiedererkannt. Die Idee, aus dem Prozeß herauszubleiben,
konnte ihm nur kommen, wenn er eine verborgene, anonyme Rolle gespielt hatte.
In der Tat hat denn auch nur einer der Polizisten, Schchidnadse mit Namen, in
der Voruntersuchung ausgesagt, daß er Dschugaschwili »in der Menge« vor den
Gefängnisbaracken bemerkt habe. Die Aussage eines einzigen Polizisten wog nicht
schwer; Koba wurde – trotz der an die falsche Adresse geratenen »Kassiber« –
nicht in den Demonstrantenprozeß verwickelt. Die Verhandlung fand erst ein Jahr
später statt und dauerte neun Tage. Ihre politische Auswertung lag allein in
den gepflegten Händen liberaler Advokaten. Sie erreichten, daß die
einundzwanzig Angeklagten mit Mindeststrafen davonkamen. Der Preis, der dafür
entrichtet werden mußte, war, daß die revolutionäre Bedeutung der Ereignisse
von Batum verschwiegen wurde.
Der
Polizeikommissar, der die Leiter der Batumer Organisation verhaftet hatte,
spricht in seinem Bericht von Koba als von »dem aus Gori stammenden Josef
Dschugaschwili, vom Seminar relegiert, gegenwärtig unangemeldet in Batum
wohnhaft, ohne Beruf und ohne festen Wohnsitz«. Die Bemerkung über die
Verweisung vom Seminar hat keinen eigentlichen dokumentarischen Wert, dem
Kommissar standen kaum Archive zur Verfügung, und er stützte sich auf Gerüchte;
viel wesentlicher ist die Tatsache, daß Koba weder Ausweispapiere besaß, noch
Beruf oder Wohnung hatte: drei sichere Kennzeichen für den revolutionären
Troglodyten.
Koba
verbrachte über achtzehn Monate in den alten, verwahrlosten Gefängnissen von
Batum, Kutais und abermals Batum – die für die damalige Zeit übliche Frist der
Untersuchungshaft, die mit der Verbannung endete. Das Regime der Gefängnisse
war wie das des ganzen Landes zugleich barbarisch und
patriarchalisch. Friedliche und sogar familiäre Beziehungen zur Verwaltung
wurden von Meutereien unterbrochen, wobei die Gefängnisinsassen Einrichtungsgegenstände
und Geschirr zerschlugen und schreiend und pfeifend mit den Stiefeln gegen die
Zellentüren hämmerten. Nach dem Sturm war wieder Ruhe. Lolua berichtet von so
einer Explosion in Kutais, die natürlich »auf Initiative und unter Führung Stalins«
stattfand. Es ist anzunehmen, daß Koba bei den Konflikten mit der
Gefängnisverwaltung eine treibende Rolle spielte und sich und seine Kameraden
zu verteidigen wußte.
»Er teilte
sich seinen Tag im Gefängnis genau ein«, schreibt Kalandadse 35 Jahre später;
»er stand früh auf, trieb Gymnastik und studierte dann Deutsch und politische
Ökonomie... Er unterhielt sich gern mit seinen Kameraden über die Bücher, die
er gerade las.« Die Liste seiner Bücher kann man sich leicht vorstellen:
populäre naturwissenschaftliche Werke, Stücke aus Darwin, Lipperts »Geschichte
der Kultur«, vielleicht auch die nach 1870 übersetzten Buckle und Draper,
Pawlenkows »Biographien großer Männer«, Marxens ökonomische Lehren nach der
Darstellung des russischen Professors Sieber, etwas russische Geschichte, das
prächtige Buch über den historischen Materialismus von »Beltow« (Pseudonym des
Emigranten Plechanow), schließlich die 1899 unter dem Pseudonym W. Iljin
erschienene grundlegende Untersuchung über den russischen Kapitalismus von dem
Verbannten Wladimir Uljanow, dem späteren Lenin. All das mag mehr oder weniger
vertreten gewesen sein. Natürlich gab es da manche Lücke im theoretischen
Gepäck des jungen Revolutionärs. Doch war er zumindest gewappnet gegenüber den
Lehren der Kirche, des Liberalismus und besonders den Vorurteilen der
»Volkstümler«.
Im Laufe der
neunziger Jahre siegten die Theorien des Marxismus über die der Volkstümler;
ein Sieg, der sich auf die Erfolge des Kapitalismus und das Anwachsen der
Arbeiterbewegung gründete. Doch hatten Streiks und Arbeiterkundgebungen auch
ein Erwachen des Dorfes mit sich gebracht, was seinerseits zu einer
Wiedergeburt der Volkstümler-Ideen innerhalb der städtischen Intelligenz
führte. So begann am Anfang des Jahrhunderts jene zwitterhafte revolutionäre
Richtung ziemlich rasch an Boden zu gewinnen, die dem Marxismus einige Elemente
entnahm, auf romantische Bezeichnungen wie »Boden und Freiheit« oder
»Volkswille« verzichtete und sich den europäisch klingenden Namen
»Sozial-Revolutionäre Partei« zulegte. Der Kampf gegen den »Ökonomismus« war im
Winter 1902-1903 in der Hauptsache beendet, die Ideen der »Iskra« hatten in den
Erfolgen der politischen Agitation und der öffentlichen Kundgebungen eine
überzeugende Bestätigung gefunden. Von 1903 an widmet die »Iskra« mehr und mehr
Raum dem Kampf gegen das eklektische Programm der Sozial-Revolutionäre und den
von diesen gepredigten Methoden des individuellen Terrors. Die
leidenschaftliche Polemik zwischen »S.-D.« und »S.-R.«-Leuten dringt in alle
Winkel des Landes, natürlich auch in die Gefängnisse. Öfter als einmal wird
Koba mit diesen neuen Gegnern die Waffen haben kreuzen müssen, wahrscheinlich
tat er es mit Erfolg: die »Iskra« versah ihn mit ausgezeichneten Argumenten.
Nachdem Koba
nicht mit in das Strafverfahren wegen der Kundgebung einbezogen worden war,
blieb er zur Verfügung der Gendarmerie. Die Methoden der Geheimuntersuchung
waren wie die Behandlung in den Gefängnissen in den einzelnen Landesteilen
verschieden. In der Hauptstadt waren die Polizisten gebildeter und behutsamer,
in der Provinz brutaler. Im Kaukasus, einem Land mit primitiven Umgangsformen,
das zudem einem Kolonialregime unterworfen war, bedienten sich die Gendarmen
gröbster Gewalt, besonders schwachen, ungebildeten und unerfahrenen Opfern
gegenüber. »Einschüchterungen, Drohungen, Folter, falsche Zeugenschaft,
gefälschte oder übertriebene Beschuldigungen, Zuerkennung absoluter Beweiskraft
an Aussagen von Spitzeln – solcher Art waren die Mittel, die die Polizei zur
Aufklärung vorliegender Fälle anwendete.« Der Verfasser dieser Zeilen, der
bereits zitierte Arkomed, berichtet, daß der Gendarmerieoffizier Lawrow mit
Hilfe inquisitorischer Prozeduren »Geständnisse« zu erzwingen suchte, von denen
er wußte, daß sie falsch waren. Das muß Stalin tief und dauernd beeindruckt
haben, dreißig Jahre später hat er Hauptmann Lawrows Methoden in bedeutend
verstärktem Maße anzuwenden gewußt. Aus den Gefängniserinnerungen Loluas
erfahren wir beiläufig, daß »Sosso nicht wollte, daß sich die Genossen untereinander
mit ›Sie‹ anredeten, weil die Zarenknechte, wenn sie die Revolutionäre aufs
Schaffott schicken, ebenfalls ›Sie‹ zu ihnen sagen«. In der Tat war es unter
den Revolutionären, besonders im Kaukasus, üblich, sich zu duzen. Einige
Jahrzehnte später sollte Koba so manchen alten Kameraden aufs Schaffott
schicken, zu dem er von Jugend auf »Du« gesagt hatte. Doch
sind wir dort noch nicht angelangt.
Erstaunlich
ist, daß Koba betreffende Vernehmungsprotokolle weder von dieser ersten, noch
von späteren Verhaftungen veröffentlicht worden sind. Die Organisation der
»Iskra« schrieb ihren Mitgliedern vor, jede Aussage zu verweigern. Gewöhnlich
gaben die Revolutionäre diese Formel zu Protokoll: »Ich bin seit langer Zeit
überzeugter Sozialdemokrat; ich leugne die gegen mich vorgebrachten
Beschuldigungen; ich weigere mich, während einer geheimen Untersuchung
irgendeine Aussage zu machen.« Nur in den seltenen Fällen, wo die Staatsgewalt
eine Verhandlung vor dem Forum der Öffentlichkeit nicht umgehen konnte,
entfalteten die Iskraleute ihre Fahne. Die Aussageverweigerung, die durchaus
den Interessen der Partei in ihrer Gesamtheit entsprach, erschwerte in gewissen
Fällen die Lage der Verhafteten. Wir haben gesehen, wie sich Koba im April 1902
mit Hilfe einer List, unter deren Folgen andere zu leiden hatten, ein Alibi zu
verschaffen suchte. Es ist vorstellbar, daß er sich auch später eher auf die
eigene Schlauheit verlassen hat als auf die für alle gültige Regel. Die
Protokolle von seinen Aussagen dürften ihn kaum in einem besonders
hervorragenden Lichte, ganz sicher nicht im Glanze des Helden erscheinen
lassen. Das ist die einzig wahrscheinliche Erklärung dafür, daß sie so
sorgfältig unter Verschluß gehalten werden.
Die
überwiegende Mehrzahl der Revolutionäre wurde auf Grund einer, wie es hieß,
»administrativen Maßnahme« verurteilt. Ein aus vier höheren Beamten der
Ministerien des Innern und der Justiz zusammengesetztes »Sondergericht« fällte
in Abwesenheit des Angeklagten das auf den Berichten der lokalen Polizei
fußende Urteil, das vom Innenminister bestätigt wurde. Am 25. Juli 1903 erging
an den Gouverneur von Tiflis der Befehl, ein solches Urteil zu vollstrecken,
auf Grund dessen sechzehn »Politische« nach Ostsibirien zwangsverschickt
wurden, um dort unter Polizeiaufsicht gestellt zu werden. Die Reihenfolge der
Namen auf der Liste entspricht wie üblich der Bedeutung und der Gefährlichkeit,
die dem einzelnen Verurteilten beigemessen wurde, und davon hing es auch ab, ob
ihm in Sibirien ein mehr oder weniger günstige Lebensmöglichkeiten bietender
Aufenthaltsort zugewiesen wurde. An erster Stelle der Liste stehen Kurnatowski
und Frantscheski, die zu je vier Jahren verurteilt wurden. Dann folgen 14 zu je
drei Jahren Verurteilte, unter denen den ersten Platz der
uns bereits bekannte Sylvester Dschibladse einnimmt. Josef Dschugaschwili steht
an elfter Stelle. Für die Gendarmen zählte er nicht zu den bedeutenden
Revolutionären.
Im November
wurde Koba mit den übrigen Verbannten vom Batumer Gefängnis aus ins
Gouvernement Irkutsk gebracht. Von einem Halteplatz zum anderen dauerte die
Reise ungefähr drei Monate. Das erste Grollen der heraufziehenden Revolution
war schon zu hören, jeder Verbannte suchte sobald wie möglich auszureißen.
Anfang 1904 glich das ganze Verbannungssystem einem Sieb. In den meisten Fällen
war es nicht schwer zu entkommen, in allen Gouvernements gab es geheime
»Zentralen«, die falsche Papiere, Geld und Adressen zur Verfügung stellen
konnten. Koba blieb nur ungefähr einen Monat in dem Dorf Nowaja Uda, gerade die
Zeit, um sich umzuschauen, die nötigen Verbindungen herzustellen und einen
Fluchtplan auszuarbeiten. Allilujew, der Vater seiner zweiten Frau, erzählt,
daß sich Koba bei seinem ersten Fluchtversuch das Gesicht und die Ohren erfror
und zurückkommen mußte, um sich wärmere Kleidung zu besorgen. Eine gute
sibirische Troika, mit einem zuverlässigen Kutscher auf dem Bock, brachte ihn
dann in schnellster Fahrt über die verschneite Landstraße zur nächsten
Bahnstation. Die Rückreise über den Ural nahm diesmal nicht drei Monate,
sondern nur eine Woche in Anspruch.
Es ist
geboten, an dieser Stelle einiges über das spätere Schicksal des Ingenieurs
Kurnatowski zu sagen, der der eigentliche geistige Führer der revolutionären
Bewegung in Tiflis zu Anfang dieses Jahrhunderts war. Nachdem er zwei Jahre
lang in einem Militärgefängnis festgehalten worden war, wurde er in die Region
von Jakutsk verschickt, von wo aus seine Flucht ungleich schwieriger zu
bewerkstelligen war als vom Gouvernement Irkutsk aus. Während seines
Transportes durch das Jakutsker Gebiet unternahmen Verbannte einen bewaffneten
Aufstand gegen die Lokalbehörden, an dem sich Kurnatowski beteiligte, weswegen
er zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Im Herbst 1905 amnestiert,
gelangte er nach Tschita; die Stadt war damals voll von Soldaten aus dem
Russisch-Japanischen Krieg; Kurnatowski wurde Vorsitzender des Sowjets der
Arbeiter-, Soldaten- und Kosaken-Deputierten, der die sogenannte »Republik
Tschita« leitete. Anfang 1906 von neuem verhaftet, wird er nunmehr zum Tode
verurteilt. General Rennenkampf, der die Befriedung
Sibiriens durchführte, schleppte den Verurteilten in seinem Eisenbahnwagen mit
und zwang ihn, auf jeder Station den Erschießungen der Arbeiter zuzusehen. Im
Gefolge einer liberalen Tendenz gelegentlich der Wahlen zur ersten Duma wurde
das Todesurteil in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien umgewandelt. Von
Nertschinsk aus glückte es Kurnatowski, nach Japan zu fliehen; von dort
gelangte er nach Australien, wo er in größtes Elend geriet und Holzfäller
wurde, was seine Körperkräfte völlig erschöpfte. Krank, mit einer schweren
Mittelohrentzündung, kam er schließlich nach Paris. »Ein außergewöhnlich herbes
Schicksal hatte ihn zerbrochen«, schreibt die Krupskaja. »Im Herbst 1910, kurz
nach seiner Ankunft, besuchten ihn Iljitsch und ich im Krankenhaus.« Er starb
zwei Jahre später, als Lenin und die Krupskaja schon nach Krakau übergesiedelt
waren. Auf den Schultern solcher Männer wie Kurnatowski, und auch auf ihren
Leichnamen, schritt die Revolution voran.
Die
Revolution schritt voran. Die erste Generation russischer Sozialdemokraten, an
deren Spitze sich Plechanow befand, hatte mit ihrer kritisch-propagandistischen
Tätigkeit kurz nach 1880 begonnen. Erst gab es einzelne, dann einige Dutzend
Pioniere. Die zweite Generation, mit Lenin als führendem Kopf – er war vierzehn
Jahre jünger als Plechanow –, betrat die politische Arena gegen 1890. Die
dritte Generation, deren Angehörige zehn Jahre jünger waren als Lenin,
formierte die revolutionäre Bewegung am Ende des vergangenen und zu Beginn
unseres Jahrhunderts. Dieser Generation, die schon Tausende umfaßte, gehörten
Stalin an, Rykow, Sinowjew, Kamenew, der Verfasser dieser Zeilen und viele
andere.
Im März 1898
versammelten sich in der Provinzstadt Minsk die Vertreter von neun Ortskomitees
und gründeten die russische sozialdemokratische Arbeiterpartei. Sämtliche
Kongreßteilnehmer wurden alsbald verhaftet. Es ist wenig wahrscheinlich, daß
Resolutionen dieses Kongresses in jener Zeit nach Tiflis gelangt sind, wo sich der
Seminarist Dschugaschwili anschickte, der Sozialdemokratie beizutreten. Der
Minsker Parteitag, von Leuten aus der Leninschen Generation vorbereitet,
proklamierte die Gründung der Partei, aber er schuf sie nicht. Ein
wohlgeführter Streich der zaristischen Polizei genügte, um die schwachen
Verbindungsfäden der Partei für lange hinaus zu zerreißen. Im Laufe der
folgenden Jahre konnte die Bewegung, die vorwiegend den
ersten Platz der uns bereits bekannte Sylvester Dschibladse einnimmt. Josef
Dschugaschwili steht an elfter Stelle. Für die Gendarmen zählte er nicht zu den
bedeutenden Revolutionären.
Im November
wurde Koba mit den übrigen Verbannten vom Batumer Gefängnis aus ins
Gouvernement Irkutsk gebracht. Von einem Halteplatz zum anderen dauerte die
Reise ungefähr drei Monate. Das erste Grollen der heraufziehenden Revolution
war schon zu hören, jeder Verbannte suchte sobald wie möglich auszureißen.
Anfang 1904 glich das ganze Verbannungs-system einem Sieb. In den meisten Fällen
war es nicht schwer zu entkommen, in allen Gouvernements gab es geheime
»Zentralen«, die falsche Papiere, Geld und Adressen zur Verfügung stellen
konnten. Koba blieb nur ungefähr einen Monat in dem Dorf Nowaja Uda, gerade die
Zeit, um sich umzuschauen, die nötigen Verbindungen herzustellen und einen
Fluchtplan auszuarbeiten. Allilujew, der Vater seiner zweiten Frau, erzählt,
daß sich Koba bei seinem ersten Fluchtversuch das Gesicht und die Ohren erfror
und zurückkommen mußte, um sich wärmere Kleidung zu besorgen. Eine gute
sibirische Troika, mit einem zuverlässigen Kutscher auf dem Bock, brachte ihn
dann in schnellster Fahrt über die verschneite Landstraße zur nächsten
Bahnstation. Die Rückreise über den Ural nahm diesmal nicht drei Monate,
sondern nur eine Woche in Anspruch.
Es ist geboten,
an dieser Stelle einiges über das spätere Schicksal des Ingenieurs Kurnatowski
zu sagen, der der eigentliche geistige Führer der revolutionären Bewegung in
Tiflis zu Anfang dieses Jahrhunderts war. Nachdem er zwei Jahre lang in einem
Militärgefängnis festgehalten worden war, wurde er in die Region von Jakutsk
verschickt, von wo aus seine Flucht ungleich schwieriger zu bewerkstelligen war
als vom Gouvernement Irkutsk aus. Während seines Transportes durch das
Jakutsker Gebiet unternahmen Verbannte einen bewaffneten Aufstand gegen die
Lokalbehörden, an dem sich Kurnatowski beteiligte, weswegen er zu zwölf Jahren
Zwangsarbeit verurteilt wurde. Im Herbst 1905 amnestiert, gelangte er nach
Tschita; die Stadt war damals voll von Soldaten aus dem Russisch-Japanischen
Krieg; Kurnatowski wurde Vorsitzender des Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und
Kosaken-Deputierten, der die sogenannte »Republik Tschita« leitete. Anfang 1906
von neuem verhaftet, wird er nunmehr zum Tode verurteilt. General Rennenkampf,
der die sich über die Lokalorganisationen erhob und diese
als sein Tätigkeitsfeld betrachtete.
Koba hatte
an dieser verantwortlichen Arbeit keinerlei Anteil. Er war ein Sozialdemokrat
aus Tiflis, dann aus Batum, mit anderen Worten ein provinzieller
Parteiarbeiter. Die Verbindung zwischen dem Kaukasus auf der einen, und der
»Iskra« und Zentralrußland auf der anderen Seite lag in den Händen von Krassin,
Kurnatowski und anderen. Alle der Zusammenfassung der Komitees und Ortsgruppen
in eine zentralisierte Partei dienende Tätigkeit ging ohne ihn vor sich; dieser
Umstand – daß darauf nicht der Schatten eines Zweifels fallen kann, ist durch
Dokumente aller Art, Memoiren und Korrespondenzen aus jener Zeit belegt – ist
wichtig für die Einschätzung von Stalins politischer Entwicklung: er geht
langsam voran, unsicher und zögernd.
Im Juni 1900
erhielt der junge Krassin, der schon als Ingenieur von sich reden gemacht
hatte, einen bedeutenden Posten in Baku. »Nicht weniger angespannt hatte ich
auf einem anderen Gebiet zu arbeiten, schreibt er«, »nämlich dem der
sozialdemokratischen Untergrundtätigkeit, sowohl in Baku selbst als im Kaukasus
überhaupt, in Tiflis, in Kutais, in Batum, wohin ich mich von Zeit zu Zeit
begab, um die Verbindungen mit den lokalen Organisationen aufrecht zu erhalten.«
Krassin blieb bis 1904 in Baku. Mit Rücksicht auf seine offizielle Stellung
nahm er an der Arbeit unter den Massen nicht teil; die Arbeiter, in Unkenntnis
seiner eigentlichen Rolle, wollten sogar einmal seine Entlassung aus der
Direktion des Bakuer Elektrizitätswerkes erzwingen. Krassin kam nur mit den
Spitzen der Ortskomitees zusammen. Unter den Revolutionären, mit denen er
direkt in Verbindung trat, erwähnt er die Gebrüder Jenukidse, Lado Ketskhoweli,
Allilujew, Schelgunow, Halperin und so fort. Den Namen Stalins erwähnt der
Leiter der sozialdemokratischen Arbeit im Kaukasus in der Zeit von 1900 bis
1904 nicht ein einziges Mal. Nicht weniger bemerkenswert ist, daß diese
Unterlassungssünde niemandem auffiel und die Autobiographie Krassins im Staatsverlag
kommentarlos erscheinen konnte. Ebensowenig wird Stalin von anderen
Bolschewiken erwähnt, die in diesen Jahren mit der kaukasischen Bewegung in
Verbindung gestanden hatten. Wenigstens nicht, soweit deren Erinnerungen vor
der offiziellen Revision der Parteigeschichte geschrieben worden sind, das
heißt, nicht später als 1929.
Im Februar 1902 sollte in Kiew eine Zusammenkunft der
innerhalb Rußlands tätigen Vertrauens-leute der ausländischen »Iskra«-Zentrale
stattfinden. »Zu dieser Konferenz«, schreibt Pjatnitzki, »kamen Delegierte aus
allen Teilen Rußlands.« Als sie bemerkten, daß sie überwacht wurden, wollten
sie schleunigst wieder abreisen, wurden jedoch allesamt entweder noch in Kiew
oder unterwegs verhaftet. Einige Monate später gelang ihnen der berühmt
gewordene Ausbruch aus dem Kiewer Gefängnis. Koba, der zu dieser Zeit in Batum
arbeitete, war zur Konferenz nicht eingeladen worden und wußte wahrscheinlich
gar nichts von ihr.
Sein
politischer Provinzialismus wird besonders deutlich an der Art seiner Beziehungen
zur ausländischen Zentrale, genauer gesagt, an der Nichtexistenz solcher
Beziehungen. Von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an spielte in der
russischen revolutionären Bewegung die Emigration fast ständig die maßgebende
Rolle. Während in Rußland selbst Verhaftungen, Verschickungen, Hinrichtungen
einander unaufhörlich ablösten, blieben die von den hervorragendsten
Theoretikern, Publizisten und Organisatoren gebildeten Emigrantenzirkel das
einzige dauerhafte Element in der Bewegung, der sie der Natur der Sache nach
ihren Stempel aufdrückten. Der Redaktionsstab der »Iskra« war zu Anfang des
Jahrhunderts fraglos zum Zentrum der Sozialdemokratie geworden. Von hier gingen
nicht nur die politischen Losungen aus, sondern auch die praktischen
Richtlinien. Jeder Revolutionär wünschte leidenschaftlich, einmal ins Ausland
gehen zu können, um dort die Führer zu sehen und zu hören, die eigenen
Ansichten zu überprüfen, dauernde Fühlung mit der »Iskra« und über diese mit
allen Illegalen in Rußland herzustellen. W. Kozewnikowa, zeitweise nahe
Mitarbeiterin Lenins im Ausland, berichtet, »wie in den Verbannungsorten und
auf den Wegen zur Verbannung die allgemeine Flucht nach dem Ausland und zur
Iskra-Redaktion einsetzte ... um nachher nach Rußland zurückzukehren und wieder
an die Arbeit zu gehen«. Der junge Arbeiter Nogin, um nur ein Beispiel von
Hunderten zu nennen, flieht im April 1903 aus der Verbannung und geht ins
Ausland, um, wie er an einen seiner Freunde schreibt, »wieder Leben aufzuholen,
zu lesen und zu lernen«. Einige Monate später kehrt er als
Iskra-Verbindungsmann nach Rußland zurück. Die aus der Haft entkommenen zehn
Teilnehmer der verunglückten Kiewer Konferenz, unter ihnen der zukünftige Sowjetdiplomat Litwinow, gingen sofort ins Ausland. Einer nach
dem andern kehrten sie dann nach Rußland zurück, um den Parteitag
vorzubereiten. Von ihnen und so manchen anderen erprobten und zuverlässigen
Vertrauensleuten schreibt die Krupskaja in ihren Erinnerungen: »Mit ihnen allen
stand die Iskra in ständigem Briefwechsel. Wladimir Iljitsch sah jeden Brief
durch. Wir kannten die Tätigkeit eines jeden von ihnen bis in alle Einzelheiten
und berieten mit ihnen über jeden Schritt, den sie zu unternehmen hatten. Wir
waren auf dem laufenden über ihre abgerissenen oder wiederhergestellten
Verbindungen, die Verhaftungen und so weiter.« Diese Männer gehörten zur
Generation Lenins sowohl wie zu der von Stalin. Koba jedoch begegnen wir nicht
innerhalb dieser oberen Schicht von Revolutionären, Schöpfern der
Zentralisation, Erbauern der einheitlichen Partei. Provinzler durch und durch,
bleibt Koba »lokaler Parteiarbeiter« im Kaukasus.
Im Juli 1903
tritt endlich in Brüssel der von der »Iskra« vorbereitete Parteitag zusammen;
unter dem Druck der russischen Diplomatie, dem die belgische Polizei gehorchte,
mußte er nach London verlegt werden. Der Kongreß nahm das von Plechanow
verfaßte Programm und verschiedene Entschließungen über taktische Fragen an.
Sobald aber die Organisationsform zur Sprache kam, zeigten sich plötzlich unerwartete
Meinungsverschiedenheiten sogar unter den Anhängern der »Iskra«, die den
Parteitag beherrschten. Beide Seiten, sowohl die »Harten« um Lenin wie die von
Martow geführten »Weichen«, hielten diese Gegensätze vorerst für nicht allzu
tiefgehend; um so überraschender war die Heftigkeit, mit der sie
aufeinanderprallten. Die Partei, deren Einheit doch soeben erst hergestellt
worden war, fand sich von einer Spaltung bedroht.
»Bereits im
Jahre 1903, noch im Gefängnis, stieß Stalin, der von Genossen, die vom Zweiten
Parteitag zurückgekommen waren, über die sehr ernsten Unstimmigkeiten zwischen
Bolschewiki und Menschewiki unterrichtet worden war, entschlossen zu den
Bolschewiki.« So lautet der von Stalin selbst diktierte Text, der als Unterlage
für die Parteihistoriker gedacht ist. Man tut gut, dieser Darstellung nicht
blind zu vertrauen. Drei Delegierte vom Kaukasus nahmen an diesem Kongreß teil,
der zur Spaltung führte. Mit wem von ihnen und unter welchen Umständen ist
Koba, der sich damals in Einzelhaft befand, zusammengetroffen? Auf welche Weise
und wo hat Koba seine Solidarität mit den Bolschewiki zum
Ausdruck gebracht? Die einzige Bestätigung für Stalins Version stammt von
Iremaschwili. »Koba«, schreibt er, »der schon immer ein begeisterter Anhänger
von Lenins Gewaltmethoden gewesen war, stellte sich selbstverständlich sofort
auf die Seite des Bolschewismus und wurde dessen begeisterter Verteidiger und
Wortführer in Georgien.« Trotz ihrer kategorischen Form enthalten diese
Behauptungen unbezweifelbarerweise einen Anachronismus: vor diesem Parteitag
hatte noch niemand, auch nicht Lenin selbst, die »Leninschen Gewaltmethoden«
den Methoden der übrigen Redaktionsmitglieder, den späteren Führern des
Menschewismus, gegenübergestellt. Meinungsverschiedenheiten über die
revolu-tionären Methoden hatte es auf dem Parteitag nicht gegeben, Differenzen
über die Taktik waren noch nicht aufgetaucht. Iremaschwili täuscht sich
offensichtlich, was nicht so verwunderlich ist – Koba verbrachte das ganze Jahr
1903 im Gefängnis, und Iremaschwili konnte zu dieser Zeit nicht aus eigenem
Augenschein über ihn unterrichtet sein. Überhaupt, so überzeugend die allen
Nachprüfungen standhaltenden persönlichen Erinnerungen und psychologischen
Beobachtungen des »zweiten Sosso« im allgemeinen sind, so wenig sind es seine
politischen Bemerkungen. Es fehlt Iremaschwili offensichtlich an
Einfühlungsvermögen und an Verständnis für die Entwicklung rivalisierender,
revolutionärer Tendenzen; wenn es sich um eine solche Materie handelt, hat er
nur rückschauend aufgestellte Vermutungen zu bieten, die von seinen eigenen
späteren Ansichten bestimmt sind.
Tatsache ist
vielmehr, daß die Diskussionen auf dem Zweiten Parteitag um die Frage gingen,
wer als Mitglied der Partei betrachtet werden sollte: nur die Mitglieder der
illegalen Organisation oder jeder, der irgendwie systematisch unter der Leitung
eines Ortskomitees am revolutionären Kampf Anteil nahm. Lenin erklärte im
Verlauf der Debatte: »Ich halte unsere Meinungsverschiedenheiten nicht für so
wesentlich, daß davon Leben oder Tod der Partei abhinge. Wir sind noch nicht
verloren, weil wir einen schlechten Paragraphen in unseren Statuten haben.«
Gegen Ende des Parteitags tauchten auch Meinungsverschiedenheiten über die
Zusammensetzung der »Iskra«-Redaktion und des Zentralkomitees auf, über so enge
Grenzen gingen sie nicht hinaus. Lenin setzte sich für eine fest und scharf
abgegrenzte Partei ein, einen schlagkräftigen Redaktionsstab und strenge Disziplin. Martow und seine Freunde neigten mehr zu einer
lockeren Organisation mit familiären Formen. Beide Richtungen suchten noch
tastend ihren Weg, und trotz der Schärfe des Konflikts dachte noch niemand
daran, die Verschiedenheit der Meinungen für »sehr ernst« zu halten. Wie es
Lenin später treffend ausdrückte, hat der Kampf auf dem Parteitag nur erst die
künftigen Kämpfe »vorweggenommen«.
Lunatscharsky,
der erste Leiter des Unterrichtswesens in der Sowjetrepublik, hat späterhin
geschrieben: »Die größte Schwierigkeit in diesem Kampfe war, daß der Zweite
Parteitag die Partei spaltete, ohne wirklich die tiefen Differenzen zwischen
Martowisten und Leninisten klarzustellen. Die Meinungsverschiedenheiten
schienen um einen Paragraphen des Statuts und die Zusammensetzung einer
Redaktion zu gehen. Viele Genossen waren unangenehm berührt von der
Unbedeutendheit der Gründe, die zur Spaltung geführt hatten.« Pjatnitzki,
später bedeutender Funktionär der Kommunistischen Internationale, damals ein
junger Arbeiter, schreibt in seinen Lebenserinnerungen: »Ich konnte einfach
nicht verstehen, warum so geringfügige Meinungs-verschiedenheiten die
Zusammenarbeit verhindern sollten.« Der Ingenieur Krzischanowsky, der in jenen
Jahren Lenin sehr nahestand und nach der Revolution Leiter der Plankommission
wurde, sagt: »Ich persönlich fand es weit hergeholt, den Genossen Martow des
Opportunismus zu bezichtigen.« Bezeugungen solcher Art gibt es eine Menge. Aus
Petersburg, Moskau, den Provinzen kamen Proteste und Beschwerden. Niemand
wollte die Spaltung anerkennen, die sich auf dem Parteitag unter den
Iskra-Leuten vollzogen hatte. Die Abgrenzung der beiden Richtungen vollzog sich
in den nächsten Jahren allmählich und mit unvermeidlichen Übergängen von einem
Lager ins andere. Bolschewiki und Menschewiki arbeiteten oft weiterhin
friedlich zusammen.
Im Kaukasus
mit seiner zurückgebliebenen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung
verstand man noch weniger als anderswo, was auf dem Parteitag vorgegangen war.
Es ist zwar richtig, daß sich die drei kaukasischen Delegierten in London in
der Hitze des Gefechts zur Mehrheit bekannt hatten. Bemerkenswert ist jedoch,
daß alle drei später Menschewiki wurden: Zopuridse trennte sich noch vor Schluß
des Parteitags wieder von der Mehrheit, Tsurabow und Knunjanz gingen im Laufe
der nächsten Jahre zu den Menschewiki über. Die berühmte Geheimdruckerei
im Kaukasus, unter deren Mitarbeitern die Sympathien für die Bolschewiki
vorherrschend waren, fuhr im Jahre 1904 fort, die menschewistische »Iskra« zu
drucken, die formell das Zentralorgan der Partei blieb. »In unserer Arbeit«,
schreibt Jenukidse, »spiegelten sich unsere verschiedenen Ansichten überhaupt
nicht wider.« Erst nach dem Dritten Parteitag, also nicht vor Mitte 1905, kam
die Druckerei unter Kontrolle des bolschewistischen Zentralkomitees. Es ist
also kein Grund vorhanden, der Behauptung Glauben zu schenken, daß der in einem
weltverlorenen Gefängnis sitzende Koba die Meinungsverschiedenheiten sofort für
»sehr ernst« gehalten habe. »Vorwegnahme« war nie seine stärkste Seite. Es wäre
wohl auch ungerecht, einem jungen Revolutionär, selbst einem weniger
vorsichtigen und mißtrauischen, vorzuwerfen, nach Sibirien abgefahren zu sein,
ohne vorher im innerparteilichen Kampf Stellung bezogen zu haben.
Von Sibirien
aus kehrte Koba direkt nach Tiflis zurück, worüber man mit Recht erstaunt sein
kann. Flüchtlinge, die auch nur einigermaßen hervorgetreten waren, pflegten
nicht in ihren Heimatort zurückzugehen, wo sie sich der Gefahr aussetzten, von
der stets wachsamen Polizei erkannt zu werden, um so eher nicht, wenn es sich
statt um Petersburg oder Moskau um eine kleine Provinzstadt wie Tiflis
handelte. Doch der junge Dschugaschwili hat noch nicht die Nabelschnur
durchschnitten, die ihn mit dem Kaukasus verbindet; bei seiner
Propagandatätigkeit bedient er sich noch fast ausschließlich der georgischen
Sprache. Darüber hinaus fühlt er, daß er nicht im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit der Polizei steht. Seine Fähigkeiten in Zentralrußland auf die
Probe zu stellen, traut er sich noch nicht zu. Außerhalb Rußlands ist er weder
bekannt, noch versucht er, ins Ausland zu gehen. Ferner scheint ihn ein
privater Grund nach Tiflis gezogen zu haben: wenn Iremaschwili in seiner
Chronologie kein Irrtum unterlaufen ist, war Koba zu jener Zeit schon
verheiratet und hatte während seiner Haft- und Verbannungszeit seine junge Frau
in Tiflis zurückgelassen.
Der Krieg
mit Japan, der im Januar 1904 ausbrach, schwächte zunächst die
Arbeiterbewegung, führte dann aber noch vor Ende des gleichen Jahres ihren
beispiellosen Aufschwung herbei. Angesichts der militärischen Niederlagen des
Zarismus verflüchtigte sich alsbald der patriotische Rausch, von dem die
liberalen und manche studentischen Kreise anfänglich ergriffen worden
waren. Der Defätismus, wenn auch nicht überall in gleicher Stärke, bemächtigte
sich mehr und mehr nicht nur der revolutionären Masse, sondern auch der
bürgerlichen Opposition. Unterdes blieb die Sozialdemokratie, am Vorabend des
grandiosen Aufstiegs, der ihrer harrte, monatelang in einem lethargischen
Zustande stecken. Die Differenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki, um so
zermürbender, als sie noch nicht fest umrissen waren, traten nur nach und nach
aus der Enge des Hauptquartiers heraus, um auf das ganze Gebiet der
revolutionären Strategie überzugreifen.
»Die
Tätigkeit Stalins in den Jahren 1904–1905 geht unter dem Banner des grimmigen
Kampfes gegen den Menschewismus vor sich«, stellt die offizielle Biographie
fest. »Auf seinen Schultern ruht das ganze Gewicht des Kampfes gegen die
Menschewiki im Kaukasus von 1904 bis 1908«, schreibt Jenukidse in seinen –
neubearbeiteten – Lebenserinnerungen. Beria behauptet, daß Stalin nach seiner
Flucht aus der Verbannung »den Kampf gegen die Menschewiki organisiert und
leitet, die nach dem zweiten Parteitag, während der Abwesenheit des Genossen
Stalin, besonders aktiv geworden waren«. Diese Autoren wollen zu viel beweisen.
Wollte man zugeben, daß Stalin schon von 1901-1903 eine führende Rolle in der
kaukasischen Sozialdemokratie gespielt hat, daß er sich schon 1903 zu den
Bolschewiki schlug und sich vom Februar 1904 an dem Kampf gegen den
Menschewismus widmete, dann würde man staunend vor der Tatsache stehen, daß all
diese Anstrengungen nur ein so klägliches Resultat ergeben haben: zu Beginn der
Revolution von 1905 konnte man die georgischen Bolschewiki noch wortwörtlich an
den Fingern abzählen. Berias Erklärung, daß die Menschewiki »während der
Abwesenheit des Genossen Stalin« besonders rührig gewesen sein sollen, klingt
fast wie Ironie. Das kleinbürgerliche Georgien, mit Einschluß von Tiflis, blieb
zwei Jahrzehnte lang die Hochburg des Menschewismus, ganz unabhängig von der
Anwesenheit oder Abwesenheit von wem es auch immer sei! Während der Revolution
von 1905 standen die georgischen Arbeiter und Bauern ausnahmslos hinter der
menschewistischen Fraktion. In alle vier Dumas schickte Georgien ausschließlich
menschewistische Abgeordnete. Während der Februarrevolution von 1917 stellte
der georgische Menschewismus im nationalen Rahmen auftretende Führer wie
Tseretelli, Tschcheidse und andere. Und schließlich behielt der Menschewismus
selbst nach Errichtung der Sowjetmacht dort in Georgien
beträchtlichen Einfluß, was sich in dem Aufstand von 1924 ausdrückte. »Ganz
Georgien muß umgepflügt werden!« – mit diesen Worten zog Stalin auf einer
Sitzung des Politischen Büros im Herbst 1924 die Lehre aus der georgischen
Erhebung, das heißt, zwanzig Jahre, nachdem er seinen »grimmigen Kampf gegen
den Menschewismus« begonnen hatte! Es wäre also wohl gerechter und Stalin
gegenüber korrekter, Kobas Rolle in den ersten Jahren des Jahrhunderts nicht zu
übertreiben.
Koba kehrte
als Mitglied des Kaukasischen Komitees aus der Verbannung zurück, zu dem er in
Abwesenheit, während seiner Gefangenschaft, von einer Konferenz der
transkaukasischen Ortsorganisationen gewählt worden war. Möglich, daß die
Mehrzahl der Mitglieder – acht an der Zahl – bereits zu Anfang des Jahres 1904
Sympathien für die bolschewistische Mehrheit auf dem Londoner Parteitag gehabt
hat; das besagt aber noch nichts über die Sympathien von Koba selbst. Die
Ortskomitees des Kaukasus neigten zweifellos zur menschewistischen Minderheit.
Das versöhnlerische Zentralkomitee unter Leitung von Krassin war zeitweise
gegen Lenin. Die »Iskra« war völlig in den Händen der Menschewiki. Unter diesen
Umständen hing das kaukasische Komitee mit seinen Sympathien für die
Bolschewiki völlig in der Luft. Koba aber zog es vor, festen Grund unter den
Füßen zu haben. Der Parteiapparat stand für ihn höher als die Idee.
Die
offiziellen Berichte über Kobas Tätigkeit im Jahre 1904 sind außerordentlich
ungenau und unglaubwürdig. Es bleibt ungewiß, ob er überhaupt in Tiflis
arbeitete, und wenn ja, worin seine Tätigkeit bestand. Es ist kaum anzunehmen,
daß sich der aus Sibirien Geflüchtete in den Arbeitergruppen zeigen konnte, wo
ihn viele persönlich kannten. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb sich
Koba schon im Juni nach Baku begab. Über seine dortige Tätigkeit werden wir mit
stereotypen Sätzen informiert: »Er leitet den Kampf der Bolschewiki in Baku«,
»er demaskiert die Menschewiki.« Nichts Präzises, keine Tatsache. Wenn Kobas
Feder in jenen Monaten irgendwelche Dokumente produziert haben sollte, so
werden diese sorgfältig verborgen gehalten, und das dürfte seinen guten Grund
haben.
Die späteren
Bemühungen, Stalin als den Gründer der Bakuer Sozialdemokratie hinzustellen,
stützen sich auf nichts. In dieser düsteren und rauchigen Stadt, deren
Atmosphäre noch durch die Feindschaft zwischen Tataren und
Armeniern vergiftet war, sind schon 1896 Arbeitergruppen aufgetaucht. Der
Grundstein für eine umfassendere Organisation wurde drei Jahre später von Abel
Jenukidse und einigen deportierten Moskauer Arbeitern gelegt. Gleich zu Anfang
des Jahrhunderts organisierte eben derselbe Jenukidse zusammen mit Lado
Ketskhoweli das Komitee von Baku, das der Iskra-Richtung angehörte. Und es
waren die eng zu Krassin haltenden Brüder Jenukidse, die 1903 in Baku die große
Geheimdruckerei einrichteten, die eine so bedeutende Rolle bei der Vorbereitung
der ersten Revolution spielte. In eben dieser Druckerei arbeiteten Menschewiki
und Bolschewiki bis Mitte 1905 freundschaftlich zusammen. Als Abel Jenukidse,
der lange Jahre hindurch Sekretär des Zentralen Exekutiv- Komitees der
Sowjetunion gewesen war, 1935 bei Stalin in Ungnade fiel, zwang man ihn, seine
1923 geschriebenen Lebenserinnerungen umzuarbeiten und an Stelle feststehender
Tatsachen leere Behauptungen über die inspirierende und führende Rolle Sossos
im Kaukasus und besonders in Baku zu setzen. Diese Selbstdemütigung hat
Jenukidse nicht gerettet, noch hat sie die Biographie Stalins um den kleinsten
Zug bereichert.
Zu dem
Zeitpunkt, als Koba am Horizont von Baku auftauchte, im Juni 1904, hat die
sozialdemokratische Ortsorganisation schon eine achtjährige Geschichte hinter
sich, und in den letzten dieser Jahre hatte die »Schwarze Stadt« in der
Arbeiterbewegung eine besonders wichtige Rolle gespielt. Das voraufgegangene
Frühjahr hatte in Baku einen Generalstreik ausbrechen sehen, der das Signal für
eine Welle von Streiks und Kundgebungen in ganz Südrußland abgab. Wera Sassulitsch
war die erste, die in diesen Ereignissen den Beginn der Revolution sah. Der
besonders im Vergleich zu Tiflis proletarische Charakter der Stadt Baku hatte
es den Bolschewiki ermöglicht, sich hier eher und gründlicher festzusetzen als
im übrigen Kaukasus. Der gleiche Macharadse, der seinerzeit mit Bezug auf
Stalin den Tifliser Schimpfnamen »Kinto« gebraucht hatte, berichtet, daß im
Herbst 1904 in Baku »unter der unmittelbaren Leitung von Sosso« eine
Organisation geschaffen wurde, ausdrücklich dazu bestimmt, »revolutionäre
Arbeit unter den rückständigsten Arbeitern der Petroleumindustrie, den
Aserbeidschaner Tataren und den Persern zu leisten«. Eine Bekundung, die
weniger Zweifel hervorrufen würde, hätte Macharadse sie in der ersten Ausgabe
seiner Lebenserinnerungen ausgesprochen und nicht erst zehn Jahre
später, als er unter der Peitsche Berias die ganze Geschichte der kaukasischen
Sozialdemokratie neu zu schreiben hatte. Macharadse hat sich der amtlich
vorgeschriebenen »Wahrheit« in einem schrittweise vor sich gehenden Prozeß
genähert, er hat alle Spuren des bösen Geistes getilgt, die in früheren
Ausgaben vorhanden gewesen waren, bis diese ganz eingestampft wurden.
Nach seiner
Rückkehr aus Sibirien hat Koba sicherlich Kamenew kennengelernt, der in Tiflis
geboren und einer der ersten jungen Anhänger Lenins war. Möglich, daß es der
kürzlich aus dem Ausland zurückgekommene Kamenew war, der dazu beitrug, Koba im
Sinne des Bolschewismus zu beeinflussen. Aber Kamenews Name wurde aus der
Geschichte der Partei ausgemerzt, schon mehrere Jahre bevor Kamenew selbst auf
phantastische Anklagen hin verurteilt und erschossen wurde. Wie dem auch sei,
die eigentliche Geschichte des Bolschewismus im Kaukasus beginnt mit dem Herbst
1904 und nicht mit der Rückkehr Kobas aus Sibirien. Dieses Datum wird
verschiedentlich sogar von den offiziellen Geschichtsschreibern bestätigt,
sofern sie sich nicht direkt mit Stalin selbst beschäftigen. Im November 1904
wurde in Tiflis mit fünfzehn Delegierten von den meist sehr kleinen kaukasischen
Ortsgruppen eine Konferenz abgehalten, auf der die Einberufung eines neuen
Parteitages gefordert wurde. Das war eine offene Kriegserklärung nicht nur an
die Menschewiki, sondern auch an das versöhnlerische Zentralkomitee. Wenn Koba
an dieser bolschewistischen Konferenz im Kaukasus teilgenommen hätte, würden
Beria und die übrigen offiziellen Geschichtsschreiber nicht verfehlt haben,
darauf hinzuweisen, daß die Konferenz »auf Initiative und unter Leitung
Stalins« stattgefunden habe. Das absolute Stillschweigen, das sie über diesen
Punkt beobachten, beweist, daß Koba, der sich zu jenem Zeitpunkt im Kaukasus
aufhielt, nicht an der Konferenz teilnahm. Mit anderen Worten, keine einzige
bolschewistische Organisation hatte ihn delegiert. Die Konferenz wählte ein
Sekretariat. Koba wurde nicht Mitglied dieser leitenden Körperschaft. Das alles
wäre undenkbar gewesen, wenn er auch nur eine halbwegs bedeutende Rolle unter
den kaukasischen Bolschewiki gespielt hätte.
Viktor
Taratuta, der als Delegierter von Batum an der Konferenz teilnahm und der
später Mitglied des Zentralkomitees der Partei wurde, macht ziemlich genaue und
unbezweifelbare Angaben über die Bolschewiki, die damals im
Kaukasus eine führende Rolle spielten. »Auf der kaukasischen Bezirkskonferenz
Ende 1904 oder Anfang 1905«, schreibt er, »traf ich zum erstenmal den Genossen
Leo Borissowitsch Kamenew, den Leiter der kaukasischen bolschewistischen
Organisation. Die Konferenz wählte Kamenew zum Propagandisten und beauftragte
ihn damit, im ganzen Land herumzureisen und für die Einberufung eines neuen
Parteitages Propaganda zu machen. Gleichzeitig sollte er alle Ortskomitees
besuchen und mit der ausländischen Zentrale in Verbindung treten.« Über eine
Teilnahme Kobas an solcher Tätigkeit sagt dieser authentische Zeuge nichts.
Unter diesen
Umständen konnte natürlich kein Grund dafür vorhanden sein, Koba in die
Zentrale der Bolschewiki in Rußland, das »Büro der Komitees der Mehrheit«,
aufzunehmen, das von siebzehn Mitgliedern gebildet und beauftragt war, den Parteitag
einzuberufen. Unter den Mitgliedern des Büros, die später zu bekannten
sowjetischen Führerpersönlichkeiten wurden, finden wir die Namen von Rykow und
Litwinow. Es ist erwähnenswert, daß Kamenew und Rykow zwei oder drei Jahre
jünger waren als Stalin. Wie überhaupt die meisten Mitglieder des Büros
Vertreter der »dritten Generation« waren.
Zum zweiten
Male kam Koba im Dezember 1904 nach Baku, also kurz nachdem in Tiflis die
bolschewistische Zusammenkunft stattgefunden hatte. Am Vorabend seiner Ankunft
war in den Ölfeldern und Fabriken ein für das ganze Land unerwartet kommender
Generalstreik ausge-brochen. Die Parteiorganisationen hatten offensichtlich noch
keinen rechten Begriff von der aufrührerischen Stimmung unter den Massen, die
das erste Kriegsjahr mit sich gebracht hatte. Der Streik von Baku ging
unmittelbar dem berüchtigten »Blutigen Sonntag« von Petersburg voraus, dieser
von dem Popen Gapon geführten Arbeiterdemonstration vor dem Winterpalais am 22.
Januar 1905, die so tragisch geendet hat. Im Jahre 1935 fabrizierte »Memoiren«
erwähnen andeutungsweise, daß Stalin das Bakuer Streikkomitee leitete und daß
alles unter seiner Führung vor sich ging. Dem gleichen Verfasser nach ist aber
Stalin erst nach Beginn des Streiks in Baku angekommen und höchstens zehn Tage
geblieben. In Wirklichkeit kam er mit einem ganz bestimmten Auftrag nach Baku,
der aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Vorbereitung des Parteitags
zusammenhing; zu dieser Zeit hatte er sich wohl schon für den Bolschewismus
entschieden.
Stalin selbst hat versucht, den Zeitpunkt seines
Anschlusses an die Bolschewiki vorzuverlegen. Nicht genug, daß er behauptete,
schon im Gefängnis Bolschewik geworden zu sein, erzählte er auf einer
Abendfeier der Offiziersschüler des Kreml im Jahre 1924, daß er schon zur Zeit
seiner ersten Verbannung mit Lenin in Verbindung getreten sei.
»Ich bin dem
Genossen Lenin zum erstenmal im Jahre 1903 begegnet. Das war allerdings keine
persönliche Begegnung, sondern eine Korrespondenz, ein Briefwechsel. Aber sie
hinterließ in mir einen unauslöschlichen Eindruck, der mich während meiner
ganzen Parteiarbeit nicht verließ. Ich war damals nach Sibirien verbannt. Meine
Kenntnis der revolutionären Tätigkeit des Genossen Lenin vom Ende des vorigen
Jahrhunderts an und vor allem seiner Tätigkeit im Jahre 1901 seit dem
Erscheinen der ›Iskra‹, brachte mich zu der Überzeugung, daß wir in Lenin einen
außergewöhnlichen Menschen hatten. In meinen Augen war er nicht nur der Führer
der Partei, sondern ihr wirklicher Schöpfer, da er allein ihr inneres Wesen und
ihre unaufschiebbaren Aufgaben begriffen hatte. Wenn ich ihn mit den übrigen
Parteiführern verglich, schien es mir immer, daß die Mitkämpfer Lenins,
Plechanow, Martow, Axelrod und die anderen, um einen Kopf kleiner seien als er,
daß im Vergleich zu ihnen Lenin nicht nur ein Führer neben anderen, sondern ein
Führer höherer Art war, ein Bergadler, der die Partei auf den noch unerprobten
Wegen der russischen revolutionären Bewegung kühn voranführte. Dieser Eindruck
verankerte sich so tief in meiner Seele, daß ich das Bedürfnis verspürte,
darüber einem meiner engsten Freunde zu schreiben, der in der Emigration war,
und ihn um Antwort zu ersuchen. Einige Zeit später, ich war schon in der
sibirischen Verbannung, es war gegen Ende 1903, erhielt ich die begeisterte
Antwort meines Freundes und zugleich ein einfaches, aber überaus gehaltvolles
Schreiben des Genossen Lenin, dem mein Freund, wie sich herausstellte, meinen
Brief übergeben hatte. Der Brief des Genossen Lenin war verhältnismäßig kurz,
doch gab er eine kühne und furchtlose Kritik der Praktiken unserer Partei und eine
bemerkenswert knappe und klare Darlegung des gesamten Arbeitsplans für die
nächste Zeitspanne. Allein Lenin konnte einen Brief über die verwickeltesten
Dinge so einfach und klar schreiben; so scharf, genau und kühn, daß jeder Satz
wie ein Gewehrschuß war. Dieser einfache und kühne Brief hat mich noch mehr in
meiner Überzeugung bestärkt, daß wir in Lenin den Bergadler
unserer Partei hatten. Ich kann es mir nicht verzeihen, daß ich damals diesen
Brief Lenins, wie so viele andere Briefe, nach alter illegaler Gewohnheit
verbrannt habe. Zu dieser Zeit begann meine Bekanntschaft mit Lenin.«
Nicht nur
die Chronologie ist an dieser in ihrer psychologischen und stilistischen
Primitivität für Stalin so bezeichnenden Geschichte falsch. Koba kam in seinem
Verbannungsort nicht vor Januar 1904 an und konnte also den Brief nicht 1903
erhalten haben. Weiterhin ist nicht ganz klar, wie und wann er an »einen seiner
engsten Freunde« im Ausland geschrieben haben kann, da er ja vor seiner
Verbannung anderthalb Jahre lang im Gefängnis war. Den Verbannten wurde niemals
vorher der Ort mitgeteilt, an den sie verschickt werden würden. Koba konnte
also seine sibirische Adresse gar nicht ins Ausland schicken, um noch
rechtzeitig eine Antwort zu erhalten, und die Zeit ist ganz sicherlich für
einen Brief ins Ausland und eine Antwort nach Sibirien zu kurz gewesen, da Koba
ja nur einen Monat in Sibirien blieb. Nach Stalin selbst war Lenins Schreiben
nicht persönlich gehalten, sondern handelte vom Parteiprogramm. Kopien solcher
Schreiben wurden ständig von der Krupskaja an eine Reihe von Adressen gesandt,
das Original wurde im ausländischen Parteiarchiv aufbewahrt. Daß in diesem
einen Falle für einen unbekannten jungen Kaukasier eine Ausnahme gemacht worden
ist, ist unwahrscheinlich. Die Parteiarchive enthalten aber keine Abschrift
eines solchen Briefes, den Koba »nach alter illegaler Gewohnheit« – er war
damals gerade vierundzwanzig Jahre alt – verbrannt haben will. Am
erstaunlichsten ist jedoch, daß Stalin nichts von einer Antwort an Lenin
erwähnt. Auf einen Brief des nach seinen eigenen Worten wie ein Halbgott
verehrten Führers würde er doch sogleich geantwortet haben. Darüber schweigt
Stalin, und nicht ohne Grund: die Archive Lenins und der Krupskaja enthalten
keinen Brief Stalins aus jener Zeit. Natürlich könnte dieses Antwortschreiben
von der Polizei abgefangen worden sein, dann wäre aber eine Abschrift in den
Polizeiakten gefunden worden, und die Sowjetpresse hätte sie längst
veröffentlicht. Schließlich würde es auch nicht bei einem Brief geblieben sein.
Für einen jungen Sozialdemokraten mußte ein regelmäßiger Briefwechsel mit dem
Führer der Partei, mit ihrem »Bergadler«, von höchster Bedeutung sein. Lenin
seinerseits hielt sehr auf die Verbindungen mit Rußland und beantwortete
pünktlich jeden Brief. Nun hat aber im Laufe der kommenden
Jahre keinerlei Korrespondenz zwischen Lenin und Koba stattgefunden. Alles an
diesem Geschichtchen ist unverständlich, ausgenommen sein Zweck.
Das Jahr
1904 war zweifellos das schwerste im Leben Lenins, von seiner letzten
Krankheitszeit abgesehen. Ohne den Bruch gewollt und vorausgesehen zu haben,
trennte sich Lenin von allen führenden Köpfen der russischen Sozialdemokratie
und fand auf lange Zeit hinaus niemanden, der imstande gewesen wäre, die
früheren Waffengefährten zu ersetzen. Nur langsam und mühselig fanden sich
bolschewistische Schriftsteller, und keiner konnte sich mit den Herausgebern
der »Iskra« messen. Ljadow, einer der aktivsten Bolschewiki jener Tage, der
1904 mit Lenin in Genf war, schrieb zwanzig Jahre später: »Olminski kam,
Worowski kam, es kam Bogdanow ... Wir warteten darauf, daß Lunatscharsky kommen
würde, von dem Bogdanow gesagt hatte, er würde sich gleich nach seiner Ankunft
hier zu uns gesellen.« Alle diese Männer kamen aus der Ver-bannung. Ihr Ruf
eilte ihnen voraus, man wartete auf sie. Als die Redaktion für das
bolschewistische Fraktionsorgan zusammengestellt werden sollte, hat niemand
Koba vorgeschlagen. Heute jedoch stellt man ihn als einen bekannten
bolschewistischen Führer jener Zeit hin. Am 23. Dezember 1904 konnte endlich in
Genf die erste Nummer der Zeitschrift »Wperjod« (»Vorwärts«) erscheinen. Koba
hatte an diesem großen Ereignis im Leben seiner Fraktion keinen Anteil. Er
suchte nicht einmal mit der Redaktion in Verbindung zu treten. Die Zeitschrift
enthält weder Artikel noch Mitteilungen von ihm. Das wäre undenkbar, wenn er
zur damaligen Zeit einer der Führer der kaukasischen Bolschewiki gewesen wäre.
Wir besitzen
außerdem einen direkten, dokumentarischen Beweis, der unsere nach
sorgfältigster Prüfung aller Umstände gezogenen Schlußfolgerungen bestätigt. In
einem 1911 vom Chef der Tifliser Ochrana, Karpow, geschriebenen ausführlichen
und hochinteressanten Rapport, mit dem wir uns noch näher zu befassen haben
werden, lesen wir über Josef Dschugaschwili: »Er betätigt sich seit 1902 in der
sozialdemokratischen Organisation, zuerst als Menschewik, später als
Bolschewik.« Karpows Bericht ist das einzige uns bekannte Dokument, in dem
ausdrücklich festgestellt wird, daß Stalin nach der Spaltung eine Zeitlang
Menschewik war. Die Tifliser Zeitung »Morgenröte des Ostens«, die dieses
Dokument am 23. Dezember 1925 unvorsichtigerweise abdruckte,
vergaß, einen Kommentar dazu zu liefern oder war nicht dazu imstande. Kein
Zweifel, daß der Redakteur später seinen Fehltritt hat teuer bezahlen müssen.
Sehr bezeichnend ist, daß Stalin selbst es nicht für möglich befunden hat,
diese Mitteilung zu dementieren. Nicht ein einziger unter den offiziellen
Stalin-Biographen und Parteihistorikern ist später auf dieses wichtige Dokument
zurückgekommen oder hat es auch nur erwähnt, während Dutzende unwesentlicher
Zettel endlos zitiert, reproduziert, photographiert worden sind. Nimmt man für
einen Moment an, daß der Tifliser Polizei, die auf alle Fälle in diesem Punkte
gut informiert sein mußte, ein Irrtum unterlaufen ist, so erhebt sich sofort
die Frage: wie war ein solcher Irrtum möglich? Wenn sich Koba wirklich an der
Spitze der kaukasischen Bolschewiki befunden hätte, dann hätte das der
Geheimpolizei nicht verborgen bleiben können. Ein so grober Irrtum in der
politischen Charakterisierung hätte ihr nur in bezug auf einen frisch
Hinzugekommenen oder auf eine drittrangige Figur unterlaufen können, niemals,
wenn es sich um einen »Führer« handelte. So zerstört dieses eine zufällig in
die Presse gelangte Dokument den mit größten Anstrengungen geschaffenen
offiziellen Mythos! Wieviel ähnliche Dokumente ruhen in den Panzerschränken
oder sind mit aller Sorgfalt den Flammen überantwortet worden?
Es möchte
scheinen, als würden wir allzuviel Zeit und Mühe darauf verwenden, eine recht
bescheidene Schlußfolgerung zu rechtfertigen. Macht es wirklich einen
Unterschied, ob Stalin Mitte 1903 oder Anfang 1905 Bolschewik geworden ist?
Aber diese bescheidene Schlußfolgerung, ganz abgesehen davon, daß sie uns in
die Kenntnis der vom Kreml angewandten Methoden für Historiographie und
Ikonographie einführt, hat eine sehr ernste Bedeutung für das eigentliche
Verständnis von Stalins politischer Persönlichkeit. Die Mehrzahl derjenigen,
die über ihn geschrieben haben, nehmen seinen Übergang zum Bolschewismus als
etwas hin, was sich aus seinem Charakter wie selbstverständlich und ganz
natürlich ergab. Doch ist das einseitig gesehen. Richtig ist, daß Härte und
Entschlossenheit empfänglich dafür machen, die bolschewistischen Methoden zu
akzeptieren. Jedoch sind diese Eigenschaften für sich allein noch nicht
entscheidend. Fest entschlossene Charaktere gab es auch unter den Menschewiki
und Sozialrevolutionären. Andererseits waren auch unter den Bolschewiki weiche
Gemüter nicht gar so selten.
Psychologie und Charakterologie erschöpfen die
Beurteilung des Bolschewismus nicht; er ist in erster Linie eine
Geschichtsphilosophie und eine politische Konzeption. Unter bestimmten
historischen Bedingungen werden die Arbeiter unabhängig von der Festigkeit der
individuellen Charaktere durch die ganzen sozialen Verhältnisse auf den Weg des
Bolschewismus gestoßen. Zu einer Zeit, als der Bolschewismus nur erst noch eine
historische »Vorwegnahme« war, mußte ein Intellektueller, um sein Schicksal
verantwortungsbewußt und für dauernd mit dem der Bolschewistischen Partei zu
verbinden, überdurchschnittliches politisches Fingerspitzengefühl und
theoretische Einbildungskraft, ungewöhnliches Vertrauen in den dialektischen Prozeß
der Geschichte und in die revolutionären Eigenschaften der Arbeiterklasse
besitzen. Die überwältigende Mehrzahl der Intellektuellen, die sich ihm in der
Zeit des revolutionären Aufschwungs angeschlossen hatten, kehrten dem
Bolschewismus in den folgenden Jahren wieder den Rücken. War es für Koba
schwieriger, zum Bolschewismus zu kommen, so fiel es ihm auch schwerer, mit ihm
zu brechen; er besaß weder theoretische Einbildungskraft, noch historisches
Einfühlungsvermögen, noch die Fähigkeit zum Vorausschauen, so wie er
andererseits nicht leichtfertig im Denken war. Sein Intellekt war immer
unverhältnismäßig schwächer als sein Wille. In verwickelten Situationen, neuen
Faktoren gegenüber, zieht es Koba vor, abzuwarten, zu schweigen, sich
zurückzuziehen. Jedesmal wenn er zwischen Idee und Apparat zu wählen hat, steht
er unweigerlich auf Seiten des Apparates. Ein Programm muß zuerst einmal seine
Bürokratie geschaffen haben, bevor Koba es irgendwie ernst nimmt. Mißtrauen den
Massen ebenso wie Einzelpersonen gegenüber ist die Grundlage seiner Natur. Sein
Empirismus führt ihn stets auf die Linie des geringsten Widerstandes. Daher
kommt es, daß dieser kurzsichtige Revolutionär an allen entscheidenden
Wendepunkten der Geschichte eine opportunistische Haltung einnimmt, der der
Menschewiki äußerst nahe und gelegentlich rechts von ihnen. Ebenso unweigerlich
wird er die entschiedensten Mittel wählen, um das aus dem einmal gemeisterten
Problem hervorgehende Ziel zu verwirklichen. Gut organisierte Gewalt erscheint
ihm unter allen Umständen als der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten. Hier
drängt sich ein Vergleich auf. Die russischen Terroristen waren ihrem Wesen
nach kleinbürgerliche Demokraten, aber äußerst kühn und entschlossen; »Liberale
mit der Bombe« wurden sie von den Marxisten nicht mit
Unrecht genannt. Stalin war und ist ein Politiker der goldenen Mitte, der vor
der Anwendung äußerster Mittel nicht zurückschreckt. In der Strategie ist er
ein Opportunist, auf dem Gebiet der Taktik ein »Revolutionär« – eine Art
Opportunist mit der Bombe. Wir werden späterhin mehr als einmal Gelegenheit
haben, die Richtigkeit dieser Definition zu überprüfen.
Kurze Zeit
nach seinem Abgang vom Seminar fand Koba eine Anstellung als eine Art
Buchhalter im Tifliser Observatorium. Trotz der »miserablen Bezahlung« gefiel
ihm dieser Posten, der ihm, Iremaschwili zufolge, viel freie Zeit ließ für die
revolutionäre Arbeit. »An sein persönliches Wohlergehen dachte er am
allerwenigsten. Er stellte keine Anforderungen, die er für unvereinbar mit den
sozialistischen Prinzipien hielt. Er war ehrlich genug, seiner Idee persönlich
Opfer zu bringen.« Koba blieb jenem Gelübde der Armut treu, das all die jungen
Menschen, die in die revolutionäre Untergrundbewegung hineingingen,
stillschweigend, ohne besondere Feierlich-keiten ablegten. Zudem war er, zum
Unterschied von manchen anderen, schon in der Kindheit nicht an Wohlleben
gewöhnt worden. »Ich ging ihn ein paarmal in seiner kleinen, armselig
möblierten Stube in der Michailowskajastraße besuchen«, erzählt der unersetzliche
»zweite Sosso«. »Koba trug Tag für Tag ein einfaches schwarzes Russenhemd mit
der für die Sozialdemokraten damals charakteristischen roten Krawatte. Im
Winter hing er sich eine alte braune Pelerine über. Die einzige Kopfbedeckung,
die er kannte, war die russische Mütze. Obwohl er sich beim Verlassen des
Seminars nicht mit allen dortigen jungen Marxisten gut gestanden hatte,
veranstalteten diese von Zeit zu Zeit eine Sammlung, um ihm in den dringendsten
Notfällen zu helfen.« Nach Barbusse war Josef im Jahre 1900, also ein Jahr nach
seinem Ausscheiden aus dem Seminar, völlig mittellos. »Seine Kameraden hielten
ihn über Wasser.« Den Polizeiberichten nach war Koba bis zum März 1901 im
Observatorium angestellt, dann mußte er untertauchen. Seine Stellung brachte
ihm, wie wir gehört haben, kaum das zum Leben Notwendigste ein. »... Sein
Verdienst reichte nicht aus, um sich anständig zu kleiden«, fährt Iremaschwili
fort; »jedoch legte er auch keinen Wert darauf, seine Kleider wenigstens sauber
und ordentlich zu halten. Man sah ihn nie anders als in schmutziger Bluse und
mit ungeputzten Schuhen. Alles, was an den Bourgeois erinnerte, war ihm in
tiefster Seele zuwider. « Schmutzige Blusen, ungeputzte
Schuhe und ungekämmtes Haar waren übrigens allgemeine Charakteristiken für die
jungen Revolutionäre, besonders in der Provinz.
Im März 1901
in die Illegalität gegangen, wurde Koba Berufsrevolutionär. Von da an hat er
keinen Namen mehr, denn nun hat er viele Namen. Zu verschiedenen Zeiten und
manchmal auch zu gleicher Zeit, nennt er sich nun »David«, »Koba«,
»Nischeradse«, »Tschischikow«, »Iwanowitsch«, »Stalin«. Gleichzeitig gaben ihm
die Polizisten ihrerseits Spitznamen, von denen sich am längsten »Ryaboi«
hielt, »der Narbige«, eine Anspielung auf die Spuren, die die Pocken in seinem
Gesicht hinterlassen haben. Legalität kannte Koba nur noch im Gefängnis oder in
der Verbannung, das heißt zwischen zwei Perioden der Illegalität.
Jenukidse
schreibt in seinen – umgearbeiteten – Memoiren über den jungen Stalin: »Er zersplitterte
sich nie. Alle seine Handlungen, Freundschaften, Begegnungen, waren auf ein
bestimmtes Ziel gerichtet ... Stalin suchte nie persönliche Popularität ...«
und beschränkte deshalb den Kreis seiner Verbindungen »auf fortgeschrittene
Arbeiter und Berufsrevolutionäre«. Der Sinn dieses Refrains, der in zahllosen
offiziellen Memoiren immer wiederkehrt, ist, zu erklären, warum Stalin, bevor
er zur Macht kam, den Massen des Volkes und auch der Parteimitgliedschaft
unbekannt geblieben ist. Dagegen ist falsch, daß er Popularität nicht gesucht
habe. Er suchte sie gierig, wußte sie aber nicht zu finden. Und das fraß ihm
schon frühzeitig an der Seele. Gerade die Unfähigkeit, Ruhm im Frontalangriff
zu erobern, hat diese starke Natur auf Umwege und krumme Bahnen gestoßen.
Von
frühester Jugend an hat Koba Macht gesucht über Menschen, die ihm fast alle
schwächer als er selbst erschienen. Er war aber weder klüger als die anderen,
noch gebildeter, noch redegewandter. Er hatte keine von den Eigenschaften, die
Sympathie erwecken. Hingegen verfügte er über eiserne Beharrlichkeit und über
größere praktische Schläue als die anderen. Er gab seinen Impulsen nicht nach:
er wußte sie vielmehr seinen Berechnungen unterzuordnen. Dieser Zug war schon
auf der Schulbank in Erscheinung getreten. »Wenn man ihn etwas fragte«,
schreibt Glurdsidse, »antwortete Josef gewöhnlich ohne Hast. Wenn er eine
wohlbegründete Antwort zur Hand hatte, antwortete er; wenn nicht, ließ er sich
Zeit.« Lassen wir die Übertreibung von der »wohlbegründeten Antwort« beiseite, so tritt hier ein Charakterzug des jungen Stalin hervor, der
ihm einen wichtigen Vorsprung anderen jungen Revolutionären gegenüber sicherte,
die fast alle großmütig, hastig und naiv waren.
Schon in
dieser frühen Periode hat Koba nicht gezögert, seine Gegner gegeneinander
auszuspielen, sie zu verleumden oder Intrigen einzufädeln gegen jeden, der ihn
irgendwie zu überragen oder sich seinen Plänen hindernd in den Weg zu stellen
schien. Die moralische Skrupellosigkeit des jungen Stalin schuf um ihn eine
Atmosphäre von Verdächtigungen und bösen Gerüchten. Schon schreibt man ihm
Dinge zu, an denen ihn keine Schuld trifft. Der Sozialrevolutionär
Wereschtschak, der mit Koba im Gefängnis sehr nahe zusammenkam, schreibt 1928
in der Emigrantenpresse, nach seinem Ausschluß aus dem Seminar habe Josef
Dschugaschwili einen Kameraden der revolutionären Gruppe beim Direktor des
Seminars denunziert. Als sich Josef wegen dieser Anschuldigung vor der Tifliser
Organisation zu verantworten gehabt hätte, habe er nicht nur zugegeben, der
Verfasser dieser Denunziation gewesen zu sein, sondern sich diese Tat auch noch
als Verdienst angerechnet: anstatt Priester oder Schulmeister würden die
Ausgeschlossenen aller Wahrscheinlichkeit nach Revolutionäre werden. Diese ganze,
von einigen leichtgläubigen Biographen aufgegriffene Episode steht im Zeichen
der Erfindung. Eine revolutionäre Organisation kann ihre Existenz nur sichern
durch erbarmungslose Härte gegen alles, was auch nur von ferne an Denunziation,
Provokation oder Verrat gemahnt. Die geringste Nachsicht in solchen Dingen
bedeutet für sie den Anfang vom Ende. Wenn Sosso nachgewiesenermaßen fähig
gewesen wäre, zu solchen zu einem Drittel von Machiavelli und zu zwei Dritteln
von Judas inspirierten Mitteln zu greifen, dann wäre es völlig ausgeschlossen
gewesen, daß die Partei ihn späterhin noch in ihren Reihen geduldet hätte.
Iremaschwili, der ja zum gleichen Seminaristenzirkel gehört hat, weiß nichts
von dieser Affäre. Er hat das Seminar mit Erfolg abgeschlossen und ist Lehrer
geworden. Immerhin ist es wohl kein Zufall, daß eine so bösartige Erfindung
gerade an den Namen Stalins gehängt worden ist. Über keinen anderen der alten
Revolutionäre sind jemals derartige Geschichten in Umlauf gesetzt worden.
Souvarine,
Verfasser der am besten dokumentierten Stalin-Biographie, versucht, Stalins
moralische Persönlichkeit aus seiner Zugehörigkeit zum
ominösen Orden der »Berufsrevolutionäre« zu erklären. In diesem wie in manchem
anderen Falle sind Souvarines Verallgemeinerungen äußerst oberflächlich. Ein
Berufsrevolutionär ist ein Mensch, der sich völlig in den Dienst der
Arbeiterbewegung stellt, und zwar unter den Bedingungen der Illegalität und,
gezwungenermaßen, der Verschwörung. Der erste beste ist nicht fähig dazu, und
die es sind, sind nicht die Schlechtesten. Die Arbeiterbewegung der
zivilisierten Welt weist eine stattliche Zahl von Funktionären und
Berufspolitikern auf. In ihrer Mehrzahl sind die Angehörigen dieser Kaste
bekannt für ihren Konservativismus, ihre Eigenliebe, ihre Engstirnigkeit; sie
leben nicht für die Bewegung, sondern von der Bewegung. Verglichen mit dem
durchschnittlichen Arbeiterbürokraten in Europa und Amerika ist der
durchschnittliche russische Berufsrevolutionär eine anziehende Figur.
Die
Jugendzeit der revolutionären Generation fiel mit der Jugendperiode der
Arbeiterbewegung zusammen; es war die Zeit der Achtzehn- bis Dreißigjährigen.
Es gab nur wenig Revolutionäre, die älter waren, sie erschienen geradezu als
alte Männer. Karrieremacher waren noch unbekannt, die Bewegung lebte völlig vom
Opfergeist und Glauben an die Zukunft. Es gab noch keine Routine, keine
vorfabrizierten Formeln, theatralischen Gesten, angelernten oratorischen
Taschenspielertricks. Das Pathos, das der Kampf natürlicherweise erzeugte, war
schüchtern und linkisch. Die bloßen Worte »Komitee«, »Partei« waren noch neu
und von jugendfrischem Reiz und klangen in den Ohren der Jugend wie eine
beunruhigende und verlockende Melodie. Wer in die Bewegung eintrat, wußte, daß
ihn in den nächsten Monaten Verhaftung und Verbannung erwarteten. Jeder setzte
seinen ganzen Ehrgeiz darein, sich so lange wie möglich für die Arbeit zu
erhalten und der Verhaftung zu entgehen, den Gendarmen gegenüber standhaft zu
bleiben, verhafteten Genossen so weit wie möglich zu Hilfe zu kommen, im
Gefängnis möglichst viel zu lesen und zu lernen, aus der Verbannung so schnell
wie möglich ins Ausland zu entfliehen, dort sein Wissen zu bereichern und dann
nach Rußland zurückzukehren, um von neuem an die revolutionäre Arbeit zu gehen.
Die
Berufsrevolutionäre glaubten an das, was sie lehrten; sonst wären sie ihren
Golgathaweg nicht gegangen. Solidarität war unter den Verfolgten kein leeres
Wort; die gemeinsame Verachtung für Kleinmütige und Fahnenflüchtige steigerte
sie noch. »Wenn ich in der Erinnerung die Reihe von
Kameraden durchgehe, denen ich begegnet bin«, schreibt Eugenie Levitzkaja über
die revolutionäre Untergrundbewegung von Odessa in den Jahren 1901 bis 1907,
»dann entsinne ich mich keiner schlechten Handlung, keines Betruges, keiner
Lüge. Reibungen gab es. Es gab fraktionelle Meinungsverschiedenheiten, aber
mehr nicht. Jeder hielt auf seine Moral, wurde besser und umgänglicher in
dieser Freundschaftsfamilie.« Odessa war natürlich keine Ausnahme. Diese jungen
Männer und Frauen, die sich ganz der Bewegung widmeten, ohne das Geringste für
sich selbst zu erwarten, waren gewiß nicht die schlechtesten Vertreter ihrer
Generation. Der Orden der »Berufsrevolutionäre« hält mühelos dem Vergleich mit
einem beliebigen anderen sozialen Milieu stand.
Josef
Dschugaschwili gehörte diesem Orden an und hatte an vielen seiner Züge teil, an
vielen, aber nicht an allen. Das Ziel seines Lebens sah er in dem Sturz der
bestehenden Macht. Der Haß gegen die Mächtigen war unvergleichlich aktiver in
seiner Seele als das Mitgefühl mit den Unterdrückten. Gefängnis, Verbannung,
Entbehrungen, Opfer schreckten ihn nicht. Er wußte der Gefahr fest ins Auge zu
sehen. Zugleich wurde er sich seiner schwerfälligen Auffassungsgabe, seines
Mangels an Talent, seiner physischen und moralischen Unbedeutendheit
schmerzlich bewußt. In den überspannten Ehrgeiz mischten sich Mißgunst und
Neid. Seine Hartnäckigkeit ging mit Rachsucht Hand in Hand. Der gelbliche
Schimmer in seinen Augen mahnte Menschen mit Feingefühl zur Vorsicht. Von der
Schulzeit an verstand er es, die Schwächen seiner Mitmenschen zu entdecken und
sie sich mitleidslos zunutze zu machen. Die kaukasische Umwelt begünstigte
diese Grundeigenschaften seines Wesens noch besonders. Keineswegs hingerissen
unter Enthusiasten, nicht mitlodernd unter schnell Entflammten, die auch ebenso
schnell wieder abgekühlt sind, begriff er frühzeitig den Vorteil eiskalter
Festigkeit, von Vorsicht und List, die sich in seinem Falle unmerklich in
Durchtriebenheit wandelten. Es bedurfte nur bestimmter historischer Umstände,
um diesen zweitrangigen Eigenschaften eine erstrangige Bedeutung zu sichern.