Leo Trotzki: Stalin. Drittes Kapitel - Die erste Revolution
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Drittes Kapitel.
Die erste Revolution
Bisher haben
wir angenommen, daß sich Koba nicht vor der Tifliser Konferenz vom November
1904 den Bolschewiki angeschlossen hat, nachdem diese sich bereit erklärt
hatte, an den Vorbereitungen für einen neuen Parteitag teilzunehmen.
Widerspruchslos haben wir Berias Behauptung als wahr unterstellt, derzufolge
Koba im Dezember nach Baku gereist ist, um dort für den Parteitag Propaganda zu
machen. Das alles mag zutreffen. Die Spaltung der Partei war für jedermann
offenkundig, die bolschewistische Fraktion hatte ihre organisatorische
Überlegenheit über die Menschewiki bewiesen, Koba hatte sich zu entscheiden.
Einen Beweis dafür, daß sich Koba tatsächlich schon 1904 den Bolschewiki
angeschlossen hat, können wir nicht liefern. Beria führt eine Reihe von
bolschewistischen Proklamationen aus jener Zeit an, sagt aber nie, daß Koba ihr
Verfasser gewesen wäre. Dieses Schweigen ist beredter als Worte. Diese Zitate
aus Flugblättern, die von anderen verfaßt worden sind, bezwecken
offensichtlich, eine Lücke in Stalins Biographie auszufüllen.
Die
Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki waren
mittlerweile über das Gebiet der Parteistatuten hinausgewachsen und erstreckten
sich nun auch auf die revolutionäre Strategie. Die von den Mitgliedern der
»Semstwos« und anderen Liberalen veranstaltete »Kampagne der Bankette«, die im
Herbst 1904 einsetzte – die bestürzten zaristischen Behörden wußten nicht, was
dagegen tun – warf in zugespitzter Form die Frage auf, wie sich die Beziehungen
zwischen Sozialdemokratie und oppositioneller Bourgeoisie gestalten sollten.
Der Sinn der menschewistischen Bestrebungen war, aus der Arbeiterschaft einen
demokratischen Chor zu machen, der die liberalen Solisten zu begleiten hatte,
der im Hintergrund bleiben und, weit entfernt davon, sie »abzuschrecken«, das
Selbstbewußtsein der Liberalen stärken sollte. Lenin nahm die Offensive auf. Er
verhöhnte die Grundidee des menschewistischen Plans, den revolutionären Kampf
gegen den Zarismus mit der diplomatischen Unterstützung einer kraftlosen
Opposition zu vertauschen. Nur durch den Ansturm der Massen kann der Sieg der Revolution gesichert werden! Nur ein kühnes
soziales Programm kann die Massen in Bewegung bringen! Das aber war es gerade,
was die Liberalen fürchteten. »Wir wären Dummköpfe gewesen, hätten wir ihrer
Panikstimmung Rechnung getragen!« Eine kleine Broschüre Lenins, nach längerem
Schweigen im November 1904 veröffentlicht, gab seinen Gesinnungsgenossen
frischen Mut und spielte eine bedeutsame Rolle in der Entwicklung der
taktischen Ideen des Bolschewismus. Ist es diese Broschüre gewesen, die Koba
für den Bolschewismus gewonnen hat? Das ist nicht mit Sicherheit zu sagen. In
der Folgezeit, wann immer Stalin selbst den Liberalen gegenüber Stellung zu
nehmen gezwungen war, kam er unweigerlich auf die menschewistische Position
zurück, sie ja nicht zu »erschrecken«. (1917, dann in China, später in Spanien
und anderswo.) Möglich ist es indes, daß der plebejische Demokrat am Vorabend
der ersten Revolution über diesen opportunistischen Plan ehrlich empört war,
der sogar unter den menschewistischen einfachen Parteimitgliedern große
Unzufriedenheit hervorgerufen hatte. Auch muß betont werden, daß die Verachtung
für den Liberalismus, unter den Sozialdemokraten traditionell geworden, damals
auch in der radikalen Intelligenz noch allgemein lebendig war. Möglich ist
auch, daß der Blutige Sonntag von Petersburg und die nachfolgende, durch das
ganze Land flutende Streikwelle den vorsichtigen und mißtrauischen Kaukasier
auf die Bahn des Bolschewismus gebracht haben. Wie dem auch sei, diese seine
plötzliche Wendung ist in den Annalen der Geschichte nicht verzeichnet worden.
Zwei alte
Bolschewiki, Stopani und Lehmann, führen in ihren sorgfältig ins einzelne
gehenden Erinnerungen alle Revolutionäre auf, denen sie Ende 1904 und Anfang
1905 in Baku und Tiflis begegnet sind: Koba steht nicht mit auf ihrer Liste.
Lehmann zitiert die Namen derjenigen, die »an der Spitze« der kaukasischen
Bewegung standen: Koba wird nicht erwähnt. Stopani zählt die Bolschewiki auf,
die gemeinsam mit den Menschewiki im Dezember 1904 den berühmten Streik von
Baku leiteten: von Koba ist noch immer keine Rede. Und Stopani, der selbst dem
Streikkomitee angehörte, ist bestens unterrichtet. Vermerken wir, daß beide
Autoren der in der offiziellen kommunistischen historischen Zeitschrift
veröffentlichten Erinnerungen, weit entfernt »Volksfeinde« zu sein, gute
Stalinisten sind; nur schrieben sie im Jahre 1925, als die von oben angeordnete
planmäßige Fälschung noch nicht zum allgemeinen System
geworden war. Auch Taratuta, ehemaliges Mitglied des Bolschewistischen
Zentralkomitees, erwähnt in seinem schon genannten, erst 1926 geschriebenen
Artikel über den »Vorabend der Revolution von 1905 im Kaukasus« Stalin nicht.
Auf den fünfzig Seiten Kommentar zum Briefwechsel von Lenin und Krupskaja mit
der kaukasischen Organisation ist Stalins Name nicht ein einziges Mal zu
finden. Es ist einfach unmöglich, in der Zeit von Ende 1904 und Anfang 1905
irgendeine Spur der Tätigkeit des Mannes zu entdecken, den man heute zum
Begründer des kaukasischen Bolschewismus stempelt.
Die heute
endlos wiederholte Behauptung von Stalins unversöhnlichem Kampf gegen die
Menschewiki steht unseren Schlußfolgerungen nicht entgegen. Der scheinbare
Widerspruch verschwindet: es war nur notwendig, den »Kampf« um zwei Jahre
vorzuverlegen, was nicht schwer war, wenn man keine Dokumente beizubringen und
keine Dementis zu fürchten hatte. Andererseits braucht man nicht daran zu
zweifeln, daß Koba, nachdem er einmal seine Wahl getroffen hatte, seinen Kampf
gegen die Menschewiki in der heftigsten, brutalsten, skrupellosesten Weise
führte. Sein Hang zu Hinterlist und Intrige, den man ihm als Mitglied der
Seminaristengruppe vorgeworfen hatte und auch, als er Propagandist des Tifliser
Komitees und Angehöriger der Gruppe von Batum war, konnte sich nun im Kampfe
der Fraktionen viel dreister und auf breiterem Felde betätigen.
Beria nennt
Tiflis, Batum, Zithory, Kutaïs und Poty als die Orte, wo Koba gegen Noah
Jordania, I. Tseretelli, Noah Ramischwili und andere menschewistische Führer
polemisierte, ebenso wie gegen Anarchisten und Föderalisten. Daten verschweigt
er ritterlicherweise, und mit gutem Grund. Die erste dieser Diskussionen, deren
Datum er mehr oder weniger genau angibt, fand im Mai 1905 statt. Das gleiche
gilt für die schriftstellerische Tätigkeit Kobas. Seine erste bolschewistische
Broschüre, ein kurzer Artikel, erscheint im Mai 1905 unter dem bizarren Titel:
»Oberflächliches über die Meinungsverschiedenheiten in der Partei«. Beria hält
es für notwendig anzugeben – ohne zu sagen, worauf er fußt –, daß die Broschüre
»Anfang 1905« geschrieben wurde; sein Bestreben, die Lücke von zwei Jahren zu
schließen, wird dadurch nur um so augenscheinlicher. Ein Korrespondent,
anscheinend Litwinow, der der georgischen Sprache nicht mächtig war,
berichtet in einem ins Ausland gesandten Brief vom Erscheinen einer Broschüre
in Tiflis, die »Sensation gemacht« habe. Die »Sensation« erklärt sich leicht
dadurch, daß das georgische Publikum bis dahin nur die menschewistischen
Veröffentlichungen gekannt hatte. Die Broschüre ist im Grunde nichts als ein
schülerhaftes Resümee der Schriften Lenins. Kein Wunder, daß sie niemals wieder
nachgedruckt wurde. Beria zitiert einige sorgfältig ausgewählte Zeilen, die es
völlig verständlich machen, daß der Verfasser selbst über diese Broschüre wie
über all seine, anderen literarischen Erzeugnisse aus jener Zeit den Schleier
des Vergessens breitet.
Im August
1905 veröffentlicht Stalin aus seiner Feder eine Zusammenfassung des Kapitels
aus Lenins Schrift »Was tun?«, in dem Lenin das Verhältnis zwischen der
elementaren Arbeiterbewegung und dem sozialistischen Bewußtsein zu klären
versucht. Nach Lenins Darstellung gerät die Arbeiterbewegung, wenn sie sich
selbst überlassen bleibt, unausweichlich auf die Bahn des Opportunismus; das
revolutionäre Klassenbewußtsein wird von außen, durch die marxistischen
Intellektuellen, in das Proletariat hineingetragen. Hier ist nicht der Ort,
diese Auffassung zu kritisieren, die der Biographie Lenins und nicht der
Stalins angehört. Der Verfasser von »Was tun?« hat übrigens später selbst ihre
Einseitigkeit und damit den Irrtum in seiner Theorie anerkannt; er führte
dieses Geschütz – das sei am Rande vermerkt – gegen den »Ökonomismus« in die
Schlacht, der den spontanen Charakter der Arbeiterbewegung überschätzte. Nach seinem
Bruch mit Lenin gab Plechanow eine verspätete, aber um so schärfere Kritik von
»Was tun?« heraus. Damit wurde das Problem des »von außen Hineintragens« des
revolutionären Bewußtseins ins Proletariat wieder aktuell. Das Zentralorgan der
Bolschewistischen Partei verzeichnete, daß ein in einem georgischen Blatt
anonym veröffentlichter Artikel »die Frage des Hineintragens des
Klassenbewußtseins in ausgezeichneter Weise gestellt« habe. Dieses Lob wird
heute als eine Art Reifezeugnis für den Theoretiker Koba zitiert. In
Wirklichkeit hat es sich natürlich um nicht mehr als eine der üblichen
Ermunterungen gehandelt, die das Zentralorgan einschob, wenn sich das eine oder
andere Parteiblatt innerhalb Rußlands für die Ideen oder einen der Führer der
eigenen Fraktion einsetzte. Folgender Absatz, von Beria ausgewählt und ins
Russische übersetzt, erlaubt, sich von der Qualität des Artikels ein Bild zu
machen:
»Das gegenwärtige Leben ist kapitalistisch
organisiert. Es gibt in ihm zwei große Klassen: die Bourgeoisie und das
Proletariat; zwischen ihnen findet ein Kampf auf Leben und Tod statt. Die
Lebensumstände zwingen die Bourgeoisie, die kapitalistische Ordnung zu
befestigen. Dieselben Umstände zwingen das Proletariat, diese Ordnung zu
untergraben und zu vernichten. Entsprechend diesen beiden Klassen bildet sich
ein zweifaches Klassenbewußtsein, bürgerlich und sozialistisch. Sozialistisches
Klassenbewußtsein entspricht der Situation des Proletariats ... Welche
Bedeutung könnte aber das sozialistische Klassenbewußtsein allein haben, wenn
es nicht im Proletariat verbreitet werden würde? Dann ist es nur eine leere
Phrase und weiter nichts! Die Dinge würden eine ganz andere Entwicklung nehmen,
wenn dieses Bewußtsein sich innerhalb des Proletariats verbreiten würde: das Proletariat
würde seine Lage begreifen und mit beschleunigten Schritten dem sozialistischen
Leben zustreben ...«
Et cetera.
Derartige Artikel fallen bloß der späteren Geschicke ihres Verfassers wegen
nicht der verdienten Vergessenheit anheim. Nichtsdestoweniger ist es
selbstverständlich, daß sich diese Geschicke nicht durch dergleichen Artikel
erklären lassen, sondern dadurch vielmehr nur um so rätselhafter erscheinen.
Das ganze
Jahr 1905 hindurch begegnen wir Koba nach wie vor nicht unter den kaukasischen
Korrespondenten Lenins und der Krupskaja. Am 8. März schreibt ihnen ein
gewisser Tari aus Tiflis, der die Meinungen verschiedener kaukasischer
Menschewiki mit folgenden Worten zusammenfaßt: »Lenin hat den Sinn unserer Zeit
früher und besser als alle anderen erfaßt.« Derselbe Tari schreibt weiter:
»Lenin wird mit einem Basarow inmitten lauter Arkadi Nikolajewitschen
verglichen.« Es handelt sich um Turgenjewsche Gestalten: Basarow ist der Typus
des praktischen Realisten, Arkadi Nikolajewitsch ein Idealist und Phrasenheld.
Zum Namen Tari bemerken die Herausgeber des historischen Tagebuchs in einer
Fußnote: »Verfasser unbekannt.« Das gutgewählte literarische Zitat beweist für
sich allein, daß Stalin nicht der Verfasser dieses Briefes gewesen sein kann.
In Lenins Artikeln und Briefen aus der zweiten Hälfte des Jahres 1905 –
insoweit sie bis heute veröffentlicht worden sind – werden über dreißig
Sozialdemokraten genannt, die in Rußland tätig waren; davon gehören neunzehn
der Altersklasse Lenins an, zwölf der Stalins. Stalin figuriert in dieser
ganzen Korrespondenz weder als direkter Teilnehmer, noch
wird er in der dritten Person erwähnt. Wir können also nur noch entschiedener
an unserer bereits gezogenen Schlußfolgerung festhalten, daß Stalins Geschichte
von dem Brief, den er 1903 von Lenin bekommen haben will, einfach erfunden ist.
Nach seinem
Bruch mit der »Iskra«-Redaktion durchlebte Lenin, damals vierunddreißig Jahre
alt, eine mehrere Monate währende Periode des Schwankens und Zögerns – eine für
ihn um so schwierigere Situation, als sie mit seinem ganzen Charakter
unvereinbar war –, bis er sich davon überzeugen konnte, daß er über eine
verhältnismäßig große Zahl von Anhängern verfügte und daß seine junge Autorität
recht stark war. Die von Erfolg gekrönten Vorbereitungsarbeiten für den neuen
Parteitag bewiesen unzweifelhaft das organisatorische Übergewicht der
Bolschewiki. Das versöhnlerische Zentralkomitee, unter der Leitung von Krassin,
kapitulierte schließlich vor dem »illegalen« Büro der Komitees der Mehrheit und
nahm an dem Parteitag teil, den es sowieso nicht zu verhindern vermocht hatte.
So wurde der Dritte Parteitag im April 1905 in London – von dem die Menschewiki
abrückten, um sich mit einer Konferenz in Genf zu begnügen – zum
Gründungskongreß des Bolschewismus. Bei den vierundzwanzig voll
stimmberechtigten und den neunzehn Delegierten mit beratender Stimme handelte
es sich ausschließlich um jene Bolschewiki, die vom Augenblick der Spaltung auf
dem Zweiten Parteitag an mit Lenin gegangen waren und die es verstanden hatten,
die Parteikomitees für sich zu gewinnen, obwohl ihnen Autoritäten wie
Plechanow, Axelrod, Wera Sassulitsch, Martow und Potressow entgegenstanden. Der
Parteitag ratifizierte die Leninschen Ideen von den bewegenden Kräften der
Revolution, Ideen, die Lenin im Laufe der Polemik gegen seine früheren
Lehrmeister und nächsten Mitarbeiter in der »Iskra« entwickelt hatte und die
von nun an eine größere praktische Bedeutung gewinnen sollten, als das
Bolschewiki und Menschewiki gemeinsame offizielle Parteiprogramm.
Der
unheilvolle und ruhmlose Krieg mit Japan beschleunigte die Zersetzung des
zaristischen Regimes. Der Dritte Parteitag stand unter dem Eindruck der ihm
voraufgegangenen ersten großen Streik- und Demonstrationswelle und machte
spürbar, daß die Dinge bald in die Revolution einmünden sollten. »Die ganze
Geschichte des vergangenen Jahres hat gezeigt«, sagte Lenin in seinem Bericht
vor den versammelten Delegierten, »daß wir die Bedeutung und
die Unvermeidlichkeit des Aufstandes unterschätzt haben.« Der Parteitag machte
einen entschiedenen Schritt vorwärts in der Agrarfrage, indem er die
Notwendigkeit anerkannte, die im Gange befindliche Bauernbewegung zu
unterstützen, einschließlich der Beschlagnahme des Bodens der
Großgrundbesitzer. Der allgemeinen Perspektive des revolutionären Kampfes und
der Machteroberung wurde eine konkretere Fassung gegeben, besonders in der
Frage der provisorischen revolutionären Regierung als Organisatorin des
Bürgerkrieges. »Selbst wenn wir«, wie Lenin es ausdrückte, »Petersburg in
Besitz genommen haben und Nikolaus guillotinieren, werden wir uns noch einigen
Vendées gegenübersehen.« Mit größerer Energie als je zuvor befaßte sich der
Parteitag mit der technischen Vorbereitung des Aufstandes. »Was die Bildung
besonderer Kampfgruppen betrifft«, äußerte Lenin, »so muß ich sagen, daß ich
sie für unerläßlich halte.«
Je höher die
Bedeutung des Dritten Parteitages zu veranschlagen ist, um so merkwürdiger muß
es erscheinen, daß Koba an ihm nicht teilgenommen hat. Er konnte zu jenem Zeitpunkt
auf sieben Jahre revolutionärer Tätigkeit zurückblicken, auf Gefängnishaft,
Verbannung, Flucht aus der Verbannung. Nach all dem hätte er sicherlich
zumindest unter die Kandidaten für die Delegation zum Parteitag aufgenommen
werden müssen, wäre er unter den Bolschewiki auch nur eine einigermaßen
hervortretende Persönlichkeit gewesen. Das ganze Jahr 1905 hindurch befand er
sich auf freiem Fuße; nach Beria nahm er »einen äußerst aktiven Anteil an der
Organisierung des Dritten Parteitages«. Wäre dem so gewesen, hätte er sich an
der Spitze der kaukasischen bolschewistischen Delegation befinden müssen. Warum
war das nicht der Fall? Wäre er durch Krankheit oder sonst irgendeine höhere
Gewalt daran gehindert worden, ins Ausland zu gehen – die offizielle Geschichtsschreibung
würde nicht versäumt haben, uns davon zu unterrichten. Ihre mangelnde
Mitteilsamkeit erklärt sich nur durch das Fehlen jedes irgendwie glaubwürdigen
Grundes, die Abwesenheit des »Führers der kaukasischen Bolschewiki« auf dem
historisch bedeutsamen Kongreß plausibel zu machen. Berias Behauptung vom
»äußerst aktiven Anteil« Kobas an der Vorbereitung des Parteitags ist eine
jener nichtssagenden Phrasen, an denen die offizielle
Sowjetgeschichtsschreibung so überreich ist. In seinem dem dreißigsten
Jahrestag des Dritten Parteitags gewidmeten Artikel sagt der gut
unterrichtete Ossip Pjatnitzki nichts über eine Teilnahme Stalins an den
Vorbereitungen zum Kongreß, und Jaroslawski, Hoflieferant für Parteigeschichte,
beschränkt sich auf eine unbestimmte Bemerkung, derzufolge Stalins Tätigkeit im
Kaukasus »zweifellos eine gewaltige Bedeutung« für den Parteitag hatte, ohne zu
erläutern, worin diese Bedeutung bestanden hat. Aus allem Voraufgegangenen
ergibt sich völlig klar: nach langem Zuwarten hat sich Koba den Bolschewiki
erst kurze Zeit vor dem Parteitag angeschlossen; an der Novemberkonferenz im
Kaukasus hat er nicht teilgenommen; er ist niemals Mitglied des von dieser
Konferenz gebildeten Büros gewesen; er konnte, als neu Hinzugekommener, nicht
erwarten, ein Mandat für den Auslandskongreß zu erhalten. Die nach London
entsandte Delegation bestand aus Kamenew, Newsky, Zschachaja und Dschaparidse –
sie sind die damaligen Führer des kaukasischen Bolschewismus. Ihr weiteres
Schicksal steht mit unserem Thema im Zusammenhang: Dschaparidse wurde 1918 von
den Engländern erschossen; Kamenew wurde achtzehn Jahre später von Stalin
erschossen; Newsky wurde durch Stalins Machtspruch zum »Volksfeind« erklärt und
ist spurlos verschwunden; nur der alte Zschachaja lebt noch – er hat es
fertiggebracht, sich selbst zu überleben.
Die negative
Seite der zentralistischen Tendenz des Bolschewismus trat schon auf dem Dritten
Parteitag der russischen Sozialdemokratie in Erscheinung. Die den »Apparat«
kennzeichnenden Gewohnheiten hatten sich bereits in der illegalen Arbeit
herausgebildet. Der Typus des jungen revolutionären Bürokraten tauchte auf.
Ganz natürlicherweise zogen die Bedingungen der konspirativen Arbeit den
demokratischen Formalitäten wie Wählbarkeit, Rechenschaftslegung, Kontrolle
enge Grenzen. Doch schränkten die Komiteeleute die demokratischen Möglichkeiten
zweifellos noch mehr als notwendig ein; den revolutionären Arbeitern gegenüber
härter und strenger als gegen sich selbst, zogen sie es vor, auch da zu
kommandieren, wo es notwendig gewesen wäre, mit feinster Aufmerksamkeit der
Stimme der Massen zu lauschen. Arbeiter, vermerkt die Krupskaja, gab es in den
bolschewistischen Komitees ebensowenig wie auf dem Parteitag selbst. Die
Intellektuellen herrschten vor. »Der ›Komitee-Mann‹«, schreibt die Krupskaja,
»war für gewöhnlich eine reichlich selbstsichere Persönlichkeit; er war sich
des mächtigen Einflusses, den die Tätigkeit der Komitees auf die Massen
ausübte, sehr wohl bewußt. Innerparteiliche Demokratie kannte der
›Komiteetschik‹ zumeist überhaupt nicht; für die Leute von der
›Auslandszentrale‹ hatte der ›Komiteetschik‹ nur ein mitleidiges Lächeln übrig;
sie schreien, sie toben, sie zanken sich: ›In Rußland würden sie sich das bald
abgewöhnen!‹ ... Auch irgendwelche Neuerungen wünschte er nicht; sich rasch
wechselnden Verhältnissen anzupassen, war nicht nach dem Geschmack des
›Komiteetschik‹, und er war dazu auch nicht fähig.« Diese zurückhaltende, aber
treffende Charakterisierung trägt erheblich zum Verständnis der politischen
Psychologie Kobas bei, der ein »Komiteetschik« par excellence gewesen
ist. Schon 1901, in den frühesten Tagen seiner revolutionären Laufbahn, sahen
wir ihn in Tiflis im Komitee gegen die Zulassung von Arbeitern auftreten. Als
»Praktiker«, das heißt als politischer Empiriker, betrachtete er die
Emigranten, das »Auslandszentrum«, mit Gleichgültigkeit, später mit Verachtung.
Die persönlichen Eigenschaften für eine direkte Einflußnahme auf die Massen
gingen ihm ab, er hielt sich infolgedessen mit doppelter Hartnäckigkeit an den
Apparat. Die Achse seines Universums war sein jeweiliges Komitee – das
Tifliser, das Bakuer, das kaukasische, schließlich das Zentralkomitee. Diese
durch nichts zu erschütternde Bindung an die Parteimaschine sollte sich späterhin
außergewöhnlich festigen: der »Komiteetschik« wurde zum Ober-»Apparatschik«,
zum »Generalsekretär«, zur Personifikation der Parteibürokratie überhaupt, zu
ihrem Führer ohnegleichen.
Es ist recht
verlockend, hier den Schluß zu ziehen, daß der zukünftige Stalinismus in der
bolschewistischen Zentralisation seine Wurzeln hatte oder, allgemeiner gesagt,
in der unterirdischen Hierarchie der Berufsrevolutionäre. Bei genauer Analyse
legt eine solche Schlußfolgerung jedoch die erstaunlichste Armut an geschichtlichem
Inhalt bloß und fällt in Staub zusammen. Natürlich hat die ganze,
notwendigerweise eingeschränkte Art und Weise, in der Leute mit den
fortgeschrittensten Auffassungen auszuwählen und dann in straff zentralisierte
Organisationen überzuführen sind, ihre Gefahren, doch sind die tieferen
Ursachen dieser Gefahren nicht im »Prinzip« der Zentralisation zu suchen,
sondern in der Unterschiedlichkeit und Rückständigkeit der Denkweise der
Werktätigen, das heißt eben in den allgemeinen sozialen Verhältnissen, die eine
zentralisierte Leitung der Klasse durch ihren Vortrupp notwendig machen. Der
Schlüssel zu dem dynamischen Problem der Führung liegt im realen Inhalt der
Beziehungen zwischen dem politischen Apparat und der Partei,
zwischen der Vorhut und der Klasse, dem Zentralismus und der Demokratie. Diese
Beziehungen können weder a priori definiert werden noch unveränderlich
dieselben bleiben. Sie hängen von konkreten geschichtlichen Umständen ab, ihr
veränderliches Gleichgewicht wird durch den lebendigen Kampf der Tendenzen
reguliert, die zwischen dem Despotismus des Apparats und impotenter
Phrasendrescherei als ihren äußersten Polen hin- und herschwingen.
In meiner
1904 geschriebenen Broschüre »Unsere politischen Aufgaben«, die in bezug auf
meine Kritik an Lenin ziemlich viel Unreifes und Irrtümliches enthält, finden
sich immerhin einige Seiten, die eine ganz richtige Idee von der Mentalität der
»Komiteetschiks« jener Tage geben, die »aufhörten, sich auf die Arbeiter zu
stützen, seitdem sie eine Stütze in den ›Prinzipien‹ des Zentralismus gefunden
hatten«. Der Kampf, den Lenin ein Jahr später auf dem Parteitag gegen die
hochmütigen Komiteeleute auszufechten hatte, bestätigte vollauf, daß meine
Kritik gerechtfertigt gewesen war. So berichtet einer der Delegierten, namens
Ljadow, folgendes: »Die Debatte wurde leidenschaftlicher. Zwei getrennte
Gruppen begannen sich zu bilden, Theoretiker und Praktiker, Literaten, und
›Komiteetschiks‹. In der Diskussion trat besonders ein noch ziemlich junger
Arbeiter, Rykow mit Namen, hervor; er verstand es, den Großteil der
›Komiteetschiks‹ um sich zu sammeln.« Ljadows Sympathien gehören diesen
letzteren. »Ich konnte kaum mehr an mich halten«, rief Lenin in seinem
Schlußwort aus, »als ich hören mußte, daß es keine Arbeiter gäbe, die fähig
wären, Mitglieder des Komitees zu sein!« Erinnern wir uns, mit welcher
Hartnäckigkeit Koba die Arbeiter von Tiflis zu überzeugen versuchte – »Hand
aufs Herz !« –, daß es niemanden unter ihnen gäbe, der würdig sei, in die
hochheilige Ordenskaste aufgenommen zu werden. »Diese Frage«, darauf bestand
Lenin, »bleibt offen. Augenscheinlich ist da etwas krank an der Partei.« Die
Krankheit, das war die Willkür der Apparatleute, der Beginn der
Bürokratisierung.
Lenin
begriff besser als jeder andere die Notwendigkeit einer zentralisierten
Organisation, doch sah er darin vorwiegend einen Hebel, um die Aktivität der
fortschrittlichen Arbeiter zu steigern; aus dem Apparat einen Fetisch zu
machen, das war ihm nicht nur fremd, sondern tief zuwider. Auf dem Parteitag
spürte er alsbald den Kastengeist der Komiteeleute heraus und kämpfte
leidenschaftlich dagegen an. Die Krupskaja bestätigt das: »Wladimir Iljitsch ereiferte sich, und die ›Komiteetschiks‹ ereiferten
sich.« Den Sieg trugen für diesmal die Komiteeleute mit ihrem Wortführer Rykow
davon, dem späteren Nachfolger Lenins auf dem Posten des Vorsitzenden des Rats
der Volkskommissare. Lenin konnte seine Resolution, wonach sich jedes Komitee
in der Mehrheit aus Arbeitervertretern zusammensetzen sollte, nicht
durchbringen. Ebenfalls gegen den Willen Lenins beschlossen die
»Komiteetschiks«, daß die Redaktion des Auslandsorgans der Kontrolle des
Zentralkomitees zu unterstellen sei. Ein Jahr früher hätte es Lenin eher zum
Bruch kommen lassen, als zuzugeben, daß die politische Orientierung der Partei
von einem Zentralkomitee abhängig gemacht werde, das in Rußland residierte,
ständig von der Polizei bedroht war und dessen Zusammensetzung sich
infolgedessen dauernd änderte. Gegenwärtig aber rechnete er fest darauf, daß er
das letzte Wort haben würde. Sein Kampf gegen die maßgebende alte Führerschaft
der russischen Sozialdemokratie hatte ihn stärker gemacht, er hatte weitaus
mehr Selbstvertrauen als auf dem Zweiten Parteitag und war deshalb auch
ruhiger. Wenn er sich während der Debatte, wie die Krupskaja sagt, »ereiferte«,
oder besser, sich zu ereifern schien, so war er desto umsichtiger bei allen zu
ergreifenden organisatorischen Maßnahmen. Er steckte nicht nur schweigend die
Niederlage in zwei besonders wichtigen Fragen ein, sondern befürwortete sogar
die Aufnahme Rykows ins Zentralkomitee. Er zweifelte keinen Augenblick daran,
daß die Revolution, diese große Lehrmeisterin der Massen auf dem Felde des
Unternehmungsgeistes und der Kühnheit, den noch jungen und nicht eingewurzelten
Konservativismus des Parteiapparats vernichten würde.
Außer Lenin
wurden ins Zentralkomitee gewählt: der Ingenieur Leonid Krassin; der
Naturwissenschaftler, Arzt und Philosoph Bogdanow (beide Altersgenossen
Lenins); ferner Postalowski, der bald darauf die Partei verließ, und Rykow.
Ersatzmänner wurden der »Literat« Rumjantzew und zwei »Praktiker«, Gussew und
Bur. Überflüssig zu sagen, daß niemand daran dachte, Koba für das erste
Bolschewistische Zentralkomitee vorzuschlagen.
Im Jahre
1934 verkündete der Kongreß der Kommunistischen Partei Georgiens – nach einer
Rede von Beria –, daß »alles, was bisher geschrieben worden ist, nicht die
wirkliche und authentische Rolle des Genossen Stalin widerspiegelt, der in Wirklichkeit während einer langen Reihe von Jahren den Kampf
der Bolschewiki im Kaukasus geleitet hat«. Wie das vor sich gegangen ist, das
erklärte der Kongreß nicht. Aber alle, die bis zu diesem Zeitpunkt historische
Arbeiten und Memoiren verfaßt hatten, sahen sich damit verurteilt; einige von
ihnen sind wahrscheinlich erschossen worden. Um alles Unrecht der Vergangenheit
wieder gutzumachen, wurde beschlossen, ein »Stalin-Institut« zu gründen. Damit
beginnt jene allgemeine »Säuberung« aller alten Urkunden, auf denen von nun an
neue Texte zum Vorschein kommen. Nie zuvor unter dem Himmelsgewölbe ist die
Fabrikation von Lügen in solchem Ausmaße vorgenommen worden! Und dennoch ist
die Lage für den Biographen nicht ganz hoffnungslos. Kann man doch die Wahrheit
nicht nur in der Diskussion entdecken, wie die Franzosen sagen, sondern auch in
den inneren Widersprüchen, aus denen sich die Lüge selbst zusammensetzt.
»Zwischen
1904 und 1907«, schreibt Beria, »stand Stalin am Steuerruder der
transkaukasischen bolschewistischen Partei und führte eine gewaltige
organisatorische und theoretische Arbeit durch.« Leider ist es nicht einfach zu
erklären, worin diese Arbeit bestanden hat und wo und wie sie vonstatten ging.
Hören wir vorerst Stalin selbst darüber. »Ich entsinne mich dann der Jahre 1905
bis 1907«, sagt er in seiner bereits zitierten autobiographischen Rede in
Tiflis im Jahre 1926, »damals habe ich nach dem Willen der Partei in Baku
gearbeitet. Zwei Jahre revolutionärer Tätigkeit unter den Arbeitern der
Petroleumindustrie hatten mich für den praktischen Kampf und die Führung
gestählt ... Dort, in Baku, erhielt ich also meine zweite revolutionäre
Feuertaufe. Es waren Gesellenjahre der Revolution ...« Die »erste« Taufe hatte
unser »Lehrling«, wie wir wissen, in Tiflis erhalten. »Meister« der Revolution
sollte Stalin erst 1917 in Petersburg werden.
Wie so oft
bei Stalin stimmen die Zeitangaben nicht. Aus dem angeführten Zitat scheint
hervorzugehen, daß Koba die Jahre der ersten Revolution in Baku, der
proletarischen Festung des Kaukasus, verbracht hat. Dem war aber nicht so. Koba
wurde in Baku im März 1908 verhaftet, und wenn man ihm aufs Wort glauben
wollte, hätte er in Baku nicht zwei, sondern über drei Jahre verbracht. In der
von seinem Sekretariat verfaßten Biographie heißt es nun aber: »Mit dem Jahre
1907 beginnt die revolutionäre Tätigkeit des Genossen Stalin in Baku. Vom
Londoner Parteitag zurückgekehrt, verläßt Stalin Tiflis und
nimmt in Baku seinen Wohnsitz.« Dieser Londoner Kongreß hat im Juni 1907
stattgefunden, Stalin hat also nicht vor Juli oder August nach Baku kommen
können; aller Wahrscheinlichkeit nach ist er im Anschluß an die berühmt
gewordene »Expropriations«-Affäre von Tiflis nach Baku gekommen; mit der
»Expropriation« werden wir uns noch zu beschäftigen haben. Folgen wir dieser
hochoffiziellen Biographie, dann zeigt sich, daß die »Bakuer Periode«, die den
»Lehrling« in den Gesellenstand erhob, nicht drei, nicht einmal zwei Jahre
gedauert hat, sondern höchstens sechs bis sieben Monate. Diesmal ist der
Widerspruch zu groß. Versuchen wir festzustellen, welche der zwei Lesarten –
die beide aus der gleichen Quelle stammen – der Wahrheit am nächsten kommt.
»Die
Tifliser bolschewistischen Zeitungen«, sagt Jenukidse über die Zeit der ersten
Revolution, »waren damals hauptsächlich von Stalin beeinflußt.« Koba muß also
in Tiflis gelebt haben. Am 12. Juni 1905 nimmt er in dem Städtchen Choni am
Begräbnis des schon erwähnten Revolutionärs Tsulukidse teil, der im Alter von
neunundzwanzig Jahren an Tuberkulose gestorben war. Beria teilt uns darüber
mit, daß »über zehntausend Personen« dem Begräbnis beigewohnt hätten und daß
»der Genosse Stalin eine brillante Rede gehalten« habe. Die Zahl der Teilnehmer
an der Trauerkundgebung dürfte fühlbar kleiner gewesen sein, Choni hatte
nämlich nicht mehr als dreieinhalb tausend Einwohner. Man sieht auch Stalin
kaum eine »brillante« Rede halten. Auf jeden Fall befand er sich Mitte 1905
nicht in Baku, sondern im Innern Georgiens. Der Bolschewik Golubow erwähnt
allerdings in seinen Lebenserinnerungen, »daß Genosse Koba, Mitglied des
Zentralkomitees, im Jahre 1905 nach Baku kam«. Nur wurde Koba erst sieben Jahre
später Mitglied des Zentralkomitees. Stimmt dieser Hinweis auf eine episodische
Reise mit den Tatsachen überein, so beweist das nur einmal mehr, daß Koba
damals nicht in Baku lebte. In der offiziellen Biographie wird ohne weiteres
behauptet, daß sich Stalin »zur Zeit des Zarenerlasses vom Oktober 1905 in
Tiflis befand«. Beria selbst gibt an, daß Koba im November und Dezember 1905 in
Tiflis das »Kaukasische Arbeiterblatt« redigierte. Gegen Ende 1905 schrieb er
Flugblätter für das Tifliser Komitee. Nach der Niederlage im Dezember blieb er
in Tiflis. Im April 1906 vertrat er die Tifliser Bolschewiki auf der
Stockholmer Konferenz. Im Juni und Juli 1906 erscheint in Tiflis wieder eine
legale Zeitung in georgischer Sprache und »unter der Leitung
des Genossen Stalin«. Ordschonikidse, der spätere Leiter der Schwerindustrie,
begegnet Stalin zum erstenmal im Jahre 1906 in Tiflis, auf der Redaktion der
bolschewistischen Zeitung »Dro« (»Die Zeit«). Da besteht gar kein Zweifel: Koba
verbrachte die Jahre der ersten Revolution nicht in Baku, wo die
Arbeiterbewegung nach einem Gemetzel zwischen Armeniern und Tataren eine
schwere Krise durchmachte, sondern in Tiflis, das er später einmal »einen
menschewistischen Sumpf« genannt hat.
Wie sah die
Tifliser Organisation, der Koba angehörte, im Revolutionsjahr aus? Über diesen
Punkt besitzen wir ein unwiderlegbares Zeugnis, das mit einem Schlage mit allen
Legenden aufräumt. Die von Lenin redigierte Zeitschrift »Proletarier«
veröffentlichte im August einen parteioffiziellen Rechenschaftsbericht über
»die Tätigkeit der Tifliser Bolschewiki im Jahre 1905«. Wir zitieren wörtlich:
»Tiflis, den 1. Juli. Noch vor fünf Wochen existierte hier keine Organisation
der Mehrheit (Bolschewiki), es gab nur Einzelpersonen und Grüppchen, mehr
nicht. Anfang Juni fand endlich eine allgemeine Versammlung aller verstreuten
Elemente statt ... Es begann eine Periode der Sammlung, in der wir uns jetzt
noch befinden. Die Haltung der Massen uns gegenüber hat sich geändert. Die
bisherige scharfe Feindschaft hat sich in Unentschlossenheit verwandelt ... Das
Komitee plant, einmal wöchentlich ein Propagandaflugblatt herauszubringen.« So
sieht das niederdrückende Bild aus, das die Tifliser Bolschewiki selbst,
wahrscheinlich unter Mitwirkung Kobas, vom Zustand ihrer Organisation zeichnen;
daß Koba im Juli 1905 am Aufbau einer bolschewistischen Organisation in Tiflis
mitbeteiligt war, muß vorausgesetzt werden.
Koba kommt
im Februar 1904 aus der Verbannung nach Tiflis zurück, um, unerschütterlich und
triumphal, »die Tätigkeit der Bolschewiki zu leiten«. Von kurzen
Unterbrechungen abgesehen, verbringt er den größten Teil der Jahre 1904 und
1905 in Tiflis. Den jüngsten Gedenkschriften nach ging unter den Arbeitern die
Redensart um: »Koba zieht den Menschewiki das Fell ab!« Es scheint indes, als
hätten die georgischen Menschewiki unter diesem chirurgischen Eingriff nicht
sehr gelitten. Erst in der zweiten Hälfte von 1905 konnten die bis dahin nur
»verstreut« vorhanden gewesenen Bolschewiki in Tiflis in die »Periode der
Sammlung« eintreten und »planen«, Flugblätter herauszugeben. Welcher
Organisation hat denn nun Koba eigentlich 1904 und in der
ersten Hälfte von 1905 angehört? Wenn er nicht überhaupt außerhalb der
Arbeiterbewegung gestanden hat, was unwahrscheinlich ist, dann muß er – was
Beria auch immer sagen mag – der menschewistischen Organisation angehört haben.
Anfang 1906 war die Zahl der Anhänger Lenins in Tiflis auf dreihundert
gestiegen. Menschewiki aber gab es über dreitausend. Dieses Kräfteverhältnis
verdammte Koba dazu, sich während des Höhepunktes der Revolution auf
publizistische Opposition zu beschränken.
»Zwei Jahre
(1905-1907) revolutionärer Tätigkeit unter den Arbeitern der Petroleumindustrie
hatten mich ... gestählt«, versichert Stalin. Daß der Redner in der vor dem
Druck sorgfältig durchgesehenen Wiedergabe seiner Rede sich einfach darin
geirrt haben sollte, wo er das Jahr verbrachte, in dem das Volk seine
revolutionäre Feuertaufe erhielt, ist absolut unwahrscheinlich; das gleiche
gilt für das folgende Jahr, während dessen das ganze, von schmerzlichen
Zuckungen ergriffene Land mit Besorgnis dem Ausgang der Dinge entgegensah.
Solche Ereignisse vergißt man nicht! Man kann sich unmöglich des Eindrucks
erwehren, daß sich Stalin über die Erste Revolution nur deshalb ausschweigt,
weil er eben nichts darüber zu sagen hat. Baku hatte einen heroischeren
Hintergrund zu bieten als Tiflis, deshalb transportierte er sich nachträglich
zweieinhalb Jahre früher nach Baku, als ihn die Tatsachen dazu berechtigen.
Einwendungen der Sowjethistoriker hat er nicht zu befürchten. Doch die Frage
bleibt offen: was machte Koba wirklich im Jahre 1905?
Das erste
Revolutionsjahr begann mit dem Salvenfeuer auf die Petersburger Arbeiter, die
mit einer Bittschrift zum Zaren marschierten. Das Flugblatt, das Koba anläßlich
des 9. Januar schrieb, schließt mit folgendem Appell: »Reichen wir uns die
Hände und scharen wir uns um die Parteikomitees. Nicht eine Minute dürfen wir
vergessen, daß nur die Parteikomitees imstande sind, uns zu führen; sie allein
können unsern Weg ins Gelobte Land erleuchten ...«, und so weiter. Welche
Selbstsicherheit in der Stimme unseres »Komiteetschik«! Am gleichen Tage, zur
selben Stunde vielleicht, fügte im fernen Genf Lenin an den Artikel eines
seiner Mitarbeiter einen Aufruf an die aufständischen Massen: »Laßt dem Zorn
und dem Haß freien Lauf, der sich in Jahrhunderten der Ausbeutung, des Kummers
und der Leiden in euren Herzen aufgespeichert hat!« Der ganze Lenin ist in
diesem Satze. Er haßt zusammen mit den Massen und rebelliert
gemeinsam mit ihnen und denkt nicht daran, die Revoltierenden darauf
hinzuweisen, daß sie nur mit Erlaubnis des »Komitees« handeln dürften.
Treffender kann die gegensätzliche Haltung der beiden Männer in bezug auf das,
was sie politisch einte – die Revolution –, nicht zum Ausdruck gebracht werden.
Fünf Monate
nach dem Dritten Parteitag, auf dem Koba keinen Platz gefunden hatte, begannen
sich die ersten Sowjets zu bilden. Die Initiative dazu hatten die Menschewiki
ergriffen, die sich allerdings nicht träumen ließen, wohin führen sollte, was
sie mit eigenen Händen aufbauten. Die menschewistischen Fraktionen hatten in
den Sowjets das Übergewicht, die menschewistische Masse aber wurde von den
revolutionären Ereignissen mitgerissen; die Führer standen verdutzt vor der
plötzlichen Linksschwenkung ihrer eigenen Bewegung. Das Petersburger Komitee
der Bolschewiki war zuerst erschrocken über so eine Neuerung, wie es die
nichtparteigebundene Vertretung der kämpfenden Massen war, und wußte nichts
Besseres zu tun, als dem Sowjet ein Ultimatum zu stellen: entweder das
sozialdemokratische Programm sofort anzuerkennen oder sich aufzulösen! Eine
Forderung, über die sich der Petersburger Sowjet mit Einschluß seiner
bolschewistischen Mitglieder ohne ein Wimperzucken hinwegsetzte. Erst nach
Lenins Ankunft im November trat eine radikale Wendung in der Politik der
»Komiteetschiks« gegenüber den Sowjets ein. Indessen hatte das voraufgegangene
Ultimatum die bolschewistische Position entschieden geschwächt. Die Provinz
folgte in dieser wie in anderen Fragen der Hauptstadt nach. Die tiefen
Meinungsverschiedenheiten über die geschichtliche Bedeutung, die den Sowjets zuzumessen
war, traten schon zu diesem Zeitpunkt hervor. Die Menschewiki wollten in den
Sowjets nur eine vorübergehende Form der Arbeitervertretung sehen, ein
»proletarisches Parlament«, ein »Organ der revolutionären Selbstverwaltung« und
ähnliches. All das war äußerst mehrdeutig. Im Gegensatz dazu hatte Lenin ein
feines Ohr für die Stimmung der Petersburger Massen, die den Sowjet die
»proletarische Regierung« nannten, und er sah in der neuen Organisationsform
sogleich den Hebel für den Kampf um die Macht.
In den
Schriften Kobas aus dem Jahre 1905 – kümmerlich sowohl der Form wie dem Inhalt
nach – findet sich kein Wort über die Sowjets. Dies nicht nur, weil es in
Georgien keine Sowjets gegeben hat, sondern weil er der
Sache überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkte, ihre Bedeutung überhaupt nicht
begriff und sie einfach überging. Ist das nicht erstaunlich? Die Sowjets als
machtvoller politischer Apparat hätten doch dem künftigen Generalsekretär auf
den ersten Blick imponieren müssen! In seinen Augen jedoch handelte es sich bei
den Sowjets um einen die rätselhaften Massen direkt vertretenden und deshalb fremden
Apparat. Der Sowjet, der sich der Disziplin des Parteikomitees nicht unterwarf,
verlangte geschmeidigere und kompliziertere Führungsmethoden. In gewisser Hinsicht
trat der Sowjet als mächtiger Konkurrent des Komitees auf. So drehte Koba
während der Revolution von 1905 den Sowjets den Rücken zu. Im Grunde genommen
kehrte er damit der Revolution als solcher den Rücken – als ob sie eine
persönliche Beleidigung für ihn wäre.
Die Ursache
für diese Verstimmung lag in seiner Unfähigkeit, ein eigenes Verhältnis zur
Revolution zu finden. Die Moskowiter Biographen und Künstler machen dauernd
Anstrengungen, uns Koba an der Spitze dieser oder jener Demonstration
vorzuführen, als »Zielscheibe«, als entflammenden Redner, als Volkstribun. Das
alles ist Lüge. Selbst in späteren Jahren ist Stalin nicht zum Redner geworden;
»flammende« Reden hat ihn nie jemand halten hören. Im Jahre 1917, als alle
Agitatoren der Partei, mit Lenin angefangen, mit heiseren Stimmen herumliefen,
ist Stalin kein einziges Mal in öffentlichen Versammlungen als Redner
aufgetreten. Im Jahre 1905 hat es nicht anders sein können; Koba war nicht
einmal in dem bescheidenen Maße ein Redner wie die anderen jungen kaukasischen
Revolutionäre, die Knunjanz, Subarow, Kamenew, Tseretelli. Auf einer
geschlossenen Parteisitzung konnte er recht gut Gedanken vortragen, die er sich
fest zu eigen gemacht hatte, aber von einem Agitator hatte er nichts an sich.
Mühsam formte er seine Sätze und brachte keine Betonung auf, keine Wärme, keine
Farbe. Die organische Schwäche seiner Natur, Kehrseite ihrer Stärke, ist seine
völlige Unfähigkeit, Feuer zu fangen, sich über langweilige Trivialitäten zu
erheben, zwischen sich und den Zuhörern ein lebendiges Band zu schaffen, in dem
Zuhörer das bessere Selbst zu wecken. Selbst ohne Feuer, ist er nicht imstande,
in anderen eine Flamme anzufachen. Kalte Bosheit genügt nicht, um die Seele der
Massen zu erobern.
Allen hatte
das Jahr 1905 die Zunge gelöst; das Land, das tausend Jahre lang geschwiegen
hatte, sprach jetzt zum erstenmal. Wer auch nur
einigermaßen imstande war, dem Haß gegen die Bürokratie und den Zaren Ausdruck
zu geben, fand unermüdliche und dankbare Zuhörer. Auch Koba hat sich wahrscheinlich
im Reden versucht. Doch muß der Vergleich mit anderen improvisierten Rednern
allzu ungünstig ausgefallen sein. Und das konnte er nicht vertragen. So grob er
anderen gegenüber sein kann, so leicht fühlt er sich selbst beleidigt und, so
überraschend das erscheinen mag, so launenhaft ist er. Seine Reaktionen sind
primitiv. Sobald er sich übergangen glaubt, neigt er dazu, Menschen sowohl als
Ereignissen den Rücken zu kehren, mürrisch seine Pfeife zu schmauchen und von
Rache zu träumen. So hat er sich denn auch 1905 voll verborgener Gekränktheit
in den Schatten zurückgezogen, um so etwas wie ein Zeitungsschreiber zu werden.
Doch war er
weit davon entfernt, ein geborener Journalist zu sein. Koba denkt zu langsam,
seine Ideenverbindungen sind zu monoton, sein Stil ist linkisch und ärmlich.
Will er einen kräftigen Effekt hervorrufen, so verfällt er in niedrige
Ausdrucksweise. Nicht einer seiner damaligen Artikel wäre von einer halbwegs
genauen und anspruchsvollen Redaktion angenommen worden. Freilich ist es wahr,
daß sich die Mehrzahl der illegalen Publikationen keinesfalls durch hohe
literarische Qualitäten auszeichnete, wurden sie doch von Leuten verfaßt, die
aus der dringenden Notwendigkeit heraus und nicht aus Berufung zur Feder
gegriffen hatten. Koba jedenfalls ist über dieses Niveau nicht hinausgekommen.
Seine Artikel bezeugen ein gewisses Streben nach systematischer Darstellung des
Themas, was sich jedoch vornehmlich in einer scholastischen Gliederung des
Stoffes äußert, in der numerierenden Aufzählung der Argumente, in rein
rhetorischen Fragen, in schwerfälligen Wiederholungen, wie Prediger sie
anzuwenden pflegen. Jede Zeile, die er schreibt, trägt den Stempel der
Banalität, weil ihm eigene Gedanken, eine originelle Form, lebendige Bilder
fehlen. Wir haben es mit einem Autor zu tun, der niemals freimütig seine
Gedanken äußert, sondern sich unsicher abmüht, fremde Gedanken wiederzugeben.
Unsicher – ein Wort, das überraschen mag, wenn es auf Stalin angewendet wird;
es charakterisiert indessen vollkommen die tastende Art, die Stalin als
Schriftsteller, von seiner kaukasischen Zeit bis auf' den heutigen Tag,
kennzeichnet.
Ein Irrtum
wäre es allerdings, anzunehmen, daß derartige Artikel keine Wirkung ausgeübt
hätten. Sie waren notwendig, sie entsprachen einem
dringenden Bedürfnis. Ihre Stärke lag darin, daß sie den Ideen und
Losungsworten der Revolution Ausdruck gaben; für den Leser aus der breiten
Masse, der in der bürgerlichen Presse nichts Entsprechendes fand, waren sie neu
und erfrischend. Aber ihre kurzbefristete Wirkung beschränkte sich auf den
Leserkreis, für den sie geschrieben wurden. Heute kann niemand mehr diese
trockenen, plumpen, grammatikalisch nicht immer einwandfreien,
überraschenderweise mit den Papierblumen der Rhetorik verzierten Sätze lesen,
ohne eine mit Ärger untermischte Verlegenheit oder manchmal unwiderstehliche
Lachlust über den unfreiwilligen Humor zu verspüren. Kein Wunder, selbst in
jener Zeit hat nie jemand in der Partei Koba für einen Journalisten gehalten.
Alle bolschewistischen Schriftsteller, die kleinen und die großen, die aus der
Hauptstadt wie die aus der Provinz, haben an der ersten bolschewistischen
Tageszeitung »Nowaja Schisn« (»Neues Leben«), die ab Oktober 1905 unter Lenins
Leitung in Petersburg erschien, mitgearbeitet – Stalins Name ist unter ihnen
nicht zu finden. Nicht er, sondern Kamenew wurde aus dem Kaukasus zur Mitarbeit
am »Neuen Leben« berufen. Koba war nicht zum Schriftsteller geboren und ist es
nie geworden. Daß er 1905 mit mehr Eifer als zu anderen Zeiten geschrieben hat,
unterstreicht nur noch die Tatsache, daß ihm eine andere Weise, den Massen
näher zu kommen, noch weniger lag.
Jene Zeit
der endlos dauernden Versammlungen, heftigen Streikkämpfe und
Straßenzusammenstöße überstieg von vornherein das Durchhaltevermögen so manchen
»Komiteetschiks«. Die Revolutionäre hielten ihre Ansprachen auf öffentlichen
Plätzen, schrieben ihre Aufrufe auf den Knien, faßten schwerwiegende
Entschlüsse in der Hast. Für all das fehlte Stalin jede Voraussetzung, seine
Stimme ist ebenso schwach wie seine Einbildungskraft, seiner vorsichtigen
Denkungsart fehlt die Fähigkeit zur Improvisation, er geht nur tastend voran.
Erscheinungen mit mehr Leuchtkraft verdrängen ihn, sogar vom kaukasischen
Firmament. Er beobachtet die Revolution mit eifersüchtiger Unruhe, mit
Abneigung fast: sie ist nicht sein Element. »Wenn er nicht in Versammlungen
oder auf dem Parteilokal zu tun hatte«, schreibt Jenukidse, »saß er in seinem
mit Büchern und Zeitschriften angefüllten Kämmerchen oder in dem ebenso ›geräumigen‹
Redaktionszimmer der bolschewistischen Zeitung.« Man vergegenwärtige sich einen
Augenblick lang den wilden Strom, in dem das »tolle Jahr«
dahinfloß, und die Größe seines Pathos, um ganz das Bild zu begreifen, das der
ehrgeizige junge Einzelgänger bietet, der, in seiner höchstwahrscheinlich nicht
übermäßig ordentlich gehaltenen Kammer vergraben, an der Feder kaut und
vergeblich nach der gehaltvollen Redewendung sucht, die wenigstens bis zu einem
gewissen Grade mit der Epoche in Einklang steht.
Die
Ereignisse überstürzten sich. Koba blieb abseits stehen, zerfallen mit sich
selbst und mit der ganzen Welt. Alle prominenten Bolschewiki, darunter
diejenigen, die damals die Parteiarbeit im Kaukasus unter sich hatten: Krassin,
Postalowski, Stopani, Lehmann, Halperin, Kamenew, Taratuta und andere,
übergingen Stalin; in ihren Memoiren haben sie ihn nicht erwähnt, und er
seinerseits sagt nichts über sie. Mehrere unter ihnen, wie Kurnatowski oder
Kamenew, sind zweifellos durch die Parteiarbeit mit ihm zusammengekommen, auch
andere mögen mit ihm zusammengetroffen sein, ohne daß er einem von ihnen in der
Reihe der übrigen durchschnittlichen »Komiteetschiks« aufgefallen wäre. Keiner
hat ihm ein Wort der Anerkennung oder der Sympathie gewidmet, keiner gab den
künftigen offiziellen Biographen den mindesten Hinweis, auf den sie einen
lobenden Artikel bauen könnten.
Eine
offizielle Kommission für Parteigeschichte hat 1926 eine umgearbeitete, das
heißt eine den Tendenzen der Nach-Leninschen Zeit angepaßte Version des Quellenmaterials
über das Jahr 1905 herausgegeben. Auf etwas über hundert Dokumente kommen an
die dreißig Artikel von Lenin, ebensoviele stammen von anderen Verfassern.
Obwohl sich der Kampf gegen den Trotzkismus damals seinem Höhepunkt näherte,
konnte die rechtgläubige Redaktion nicht umhin, vier Artikel von Trotzky in das
Sammelwerk aufzunehmen. Von Stalin jedoch findet man in den
vierhundertfünfundfünfzig Seiten keine einzige Zeile. In der alphabetischen
Inhaltsangabe, die mehrere hundert Namen umfaßt, darunter jeden, der während
des Revolutionsjahrs einigermaßen bekannt geworden war, erscheint Stalins Name
nicht. Nur »Iwanowitsch« ist erwähnt, als Teilnehmer der Parteikonferenz von
Tammerfors im Dezember 1905. Wie aufschlußreich, daß die Herausgeber des Sammelbandes
noch 1926 nichts davon wußten, daß »Iwanowitsch« und Stalin einunddieselbe
Person sind! Solche unparteiischen Details wirken überzeugender als alle
späteren Verherrlichungen.
Stalin scheint außerhalb der Revolution von 1905
gestanden zu haben. Seine »Lehrzeit« fällt in die revolutionären Jahre, die er
in Tiflis, Batum, im Gefängnis, in der Verbannung verbrachte. Später wird er,
in Baku in der Zeit von 1907–1908, »Revolutionsgeselle«. Die erste Revolution
spielt in seiner Entwicklung zum künftigen »Meister« überhaupt keine Rolle.
Wann immer er über seine eigene Biographie spricht, gleitet er über das große
Jahr hinweg, das alle hervorragenden revolutionären Führer der älteren
Generation geformt und bekannt gemacht hat. Es ist gut, sich das fest einzuprägen,
denn es handelt sich dabei um keinen Zufall. Das nächste revolutionäre Jahr,
1917, wird in der Autobiographie auch nur wieder in so nebelhafter Form
auftauchen wie 1905, wieder werden wir den inzwischen zum Stalin gewordenen
Koba in einem bescheidenen Redaktionsraum finden, diesmal der Petersburger
»Prawda«, wo er wiederum, ohne sein Tempo zu steigern, einfältige Kommentare zu
hochbedeutenden Ereignissen niederschreibt. Wir haben es mit einem Revolutionär
zu tun, den eine wirkliche Revolution der Massen jedesmal aus seinem Geleise
hebt und beiseite stellt. Alle Revolutionen, später die in Deutschland, China,
Spanien, treffen ihn immer von neuem völlig unvorbereitet an. Er ist für den
Apparat geboren, nicht für die Führung in den schöpferischen Aktionen der
Massen. Nun pflegt aber die Revolution die herkömmlichen Parteiapparate zu
zerbrechen und sich neue, weniger fügsame zu schaffen. Sie gründet sich auf
Begeisterung, Improvisation, kühne Initiative und erwartet mit Recht von ihren
Führern die gleichen Eigenschaften. Diese Eigenschaften besaß Koba nicht. Weder
Tribun, noch Stratege, noch Führer im Aufstand, ist er immer nur der Bürokrat
der Revolution gewesen. Deshalb war er, um seine Talente von neuem spielen
lassen zu können, verurteilt, als halb passiver Zuschauer zu warten, bis die
ungestümen Fluten der Revolution wieder in ihre Ufer zurückgetreten waren.
Die Spaltung
in eine »Mehrheit« (Bolschewiki) und eine »Minderheit« (Menschewiki) war auf
dem Dritten Parteitag endgültig vollzogen worden, der die Menschewiki zum
»abgesplitterten Teil der Partei« erklärt hatte. Die revolutionären Ereignisse
des Herbstes 1905, die eine völlig veruneinigte Partei vorfanden, übten sofort
einen wohltuenden Druck aus und linderten die fraktionelle Feindschaft einigermaßen.
Im Oktober, am Vorabend seiner langersehnten Abreise aus dem Schweizer Exil ins
revolutionäre Rußland, schrieb Lenin einen in wärmsten Worten gehaltenen, versöhnlichen Brief an Plechanow, in dem er seinen alten
Lehrer und Gegner »die beste Kraft der russischen Sozialdemokratie« nannte, ihm
Zusammenarbeit vorschlug und erklärte: »Unsere taktischen
Meinungsverschiedenheiten werden mit verblüffender Schnelligkeit von der
Revolution selbst bereinigt.« Das war richtig. Doch sollte es nicht lange
richtig bleiben, da die Revolution selbst nicht lange dauerte.
Kein
Zweifel, daß zu Anfang die Menschewiki mehr Findigkeit in der Schaffung und
Ausnützung von Massenorganisationen bewiesen als die Bolschewiki. Als
politische Partei aber schwammen sie mit dem Strom und versanken prompt darin.
Im Gegensatz dazu kamen die Bolschewiki nur langsam in Schwung. Dafür
befruchteten sie die ganze Bewegung mit ihren präziseren Losungsworten,
Ergebnissen einer realistischen Bewertung der Kräfte der Revolution. Die
Menschewiki überwogen in den Sowjets, die große politische Linie der Sowjets
jedoch verlief in der Richtung der bolschewistischen Strategie. Opportunisten
bis aufs Mark, waren die Menschewiki zeitweise dazu fähig, sich der
revolutionären Erhebung anzupassen, doch waren sie unfähig, sie zu leiten, noch
ihren geschichtlichen Aufgaben treu zu bleiben, als der Rückschlag eingesetzt
hatte.
Nach dem
Generalstreik vom Oktober 1905, der dem Zaren das Verfassungsversprechen
abgetrotzt hatte, das in den Arbeitervierteln eine Atmosphäre von Wagemut und
Optimismus schuf, gewannen die Vereinigungstendenzen in beiden Fraktionen eine
unwiderstehliche Kraft. Vereinigte oder föderative Komitees von Bolschewiki und
Menschewiki bildeten sich allerorten. Die Führer folgten dieser Tendenz. Beide
Fraktionen hielten Konferenzen ab, die einen völligen Zusammenschluß
vorbereiten sollten. Die Menschewiki konferierten Ende November in Petersburg,
wo noch die neuerworbene »Freiheit« herrschte. Die Bolschewiki versammelten
sich erst im Dezember, als die Reaktion schon in vollem Gange war; ihre
Konferenz mußte deshalb auf finnischem Boden, in Tammerfors, stattfinden.
Die
bolschewistische Konferenz war ursprünglich als Sondertagung der Partei
gedacht. Doch der Eisenbahnerstreik, der Aufstand in Moskau und eine Reihe
anderer unvorhergesehener Ereignisse verhinderten zahlreiche Delegierte am
Kommen, so daß die Vertretung der verschiedenen Parteiorganisationen sehr
unvollständig war. Von sechsundzwanzig Organisationen trafen einundvierzig
Delegierte ein, die etwa viertausend Mitglieder vertraten.
Diese Zahl erscheint verschwindend gering für eine revolutionäre Partei, die
sich anschickte, den Zarismus zu stürzen und ihren Platz in der
Revolutionsregierung einzunehmen. Doch brachten diese Viertausend bereits den
Willen von hunderttausend anderen zum Ausdruck. Mit Rücksicht auf die schwache
Teilnahme wurde beschlossen, den Kongreß lediglich als eine Konferenz zu
betrachten. Koba, unter dem Namen Iwanowitsch, und ein Arbeiter namens Tlejiga
waren als Vertreter der transkaukasischen bolschewistischen Organisation
anwesend. Die aufregenden Ereignisse, die sich damals gerade in Tiflis
abspielten, hatten Koba nicht hindern können, seinen Redaktionsschreibtisch zu
verlassen.
Die
Protokolle der Diskussionen von Tammerfors, die vor sich gingen, während in
Moskau die Kanonen donnerten, sind bis heute noch nicht wieder aufgefunden
worden. In dem von den grandiosen Geschehnissen jener Tage überwältigten
Gedächtnis der Teilnehmer hat die Konferenz nur geringe Spuren hinterlassen.
»Welch ein Unglück«, schrieb die Krupskaja dreißig Jahre später, »daß diese
Protokolle nicht aufbewahrt worden sind! Welcher Enthusiasmus hat dort
geherrscht! Die Revolution war auf ihrem Höhepunkt angekommen, die Genossen
brannten darauf zu kämpfen. In den Sitzungspausen bildeten sie sich im Schießen
aus ... Keiner von denen, die an dieser Konferenz teilgenommen haben, wird sie
je vergessen. Losowski, Baranski, Jaroslawski, viele andere waren dabei. Die
Namen dieser Genossen sind mir im Gedächtnis haften geblieben, weil ihre
Berichte über ihre Heimatgebiete besonders interessant waren.« Iwanowitsch wird
nicht genannt, an diesen Namen erinnert sich die Krupskaja nicht. In den
Memoiren Gorews, der Mitglied des Präsidiums der Konferenz war, lesen wir unter
anderem: »Unter den Delegierten waren Swerdlow, Losowski, Stalin, Newski und
andere.« Die Reihenfolge der Namen ist nicht ohne Bedeutung. Bekannt ist ferner
noch geworden, daß Iwanowitsch, der sich für den Boykott der Dumawahlen
aussprach, in die Kommission gewählt wurde, die sich mit dieser Frage zu
befassen hatte.
Die Wogen
der revolutionären Brandung gingen noch so hoch, daß selbst die Menschewiki,
noch erschrocken über ihre eigenen, soeben begangenen opportunistischen Fehler,
es nicht wagen durften, gleich mit beiden Füßen auf den schwankenden Steg des
Parlamentarismus hinüberzuspringen. Sie schlugen vor, sich aus Gründen der
Agitation am ersten Wahlgang zu beteiligen, aber keinen
Sitz in der Duma einzunehmen. Die bei den Bolschewiki vorherrschende Stimmung
war für einen »aktiven Boykott«. Auf seine Weise beschreibt Stalin Lenins
Haltung in jenen Tagen, gelegentlich einer bescheidenen Feier des fünfzigsten
Geburtstags Lenins im Jahre 1920, folgendermaßen:
»Ich
entsinne mich, wie Lenin, dieser Riese, zweimal Fehler zugab, die ihm
unterlaufen waren. Die erste Episode hat sich in Finnland zugetragen, im Jahre
1905, im Dezember, auf der Allrussischen bolschewistischen Konferenz. Es ging
um den Boykott der von Witte geplanten Duma... Die Diskussion begann, die
Vertreter der Provinz, die Sibirier, die Kaukasier gingen in die Offensive, und
wie groß war nicht unser Erstaunen, als am Ende unserer Reden Lenin das Wort
ergriff und erklärte, er sei Anhänger der Wahlbeteiligung gewesen, er sehe
jedoch nunmehr ein, daß er sich geirrt habe und er werde nun unsere Fraktion
unterstützen. Wir waren betroffen. Es war wie ein elektrischer Schock. Wir
brachten ihm eine donnernde Ovation.«
Niemand
sonst erinnert sich an den »elektrischen Schock«, noch an die »donnernde Ovation«
von fünfzig Paar Händen. Stalins Schilderung kann dennoch der Sache nach
richtig sein. Die »bolschewistische Härte« war zu jener Zeit noch nicht mit
taktischer Geschmeidigkeit verbunden, zumal nicht bei den »Praktikern«, denen
dafür Erfahrung und Weitblick fehlten. Lenin selbst mag geschwankt haben. Der
Druck, den die Provinzler ausübten, mag ihm als der elementare Druck der
Revolution selbst erschienen sein. Ob dem nun so gewesen ist oder nicht, die
Konferenz beschloß jedenfalls »zu versuchen, die Bildung dieser Polizei-Duma zu
verhindern und jede Teilnahme an ihr abzulehnen«. Merkwürdig ist nur, daß
Stalin auch noch im Jahre 1920 überzeugt davon war, der »Fehler« Lenins müsse
in seiner ursprünglichen Bereitschaft, an den Dumawahlen teilzunehmen, gesehen
werden, während doch Lenin selbst inzwischen längst zugegeben hatte, daß sein
wirklicher Fehler seine Konzession an die Anhänger des Wahlboykotts gewesen
war.
Über die
Beteiligung »Iwanowitschs« selbst an den Diskussionen zur Duma-Frage existiert
der farbenfreudige, jedoch anscheinend völlig frei erfundene Artikel eines
gewissen Dimitrijewsky. »Anfänglich war Stalin aufgeregt«, schreibt er. »Zum
erstenmal sprach er vor den Führern der Partei. Zum erstenmal sprach er vor
Lenin. Doch Lenin hörte ihm voller Interesse zu und nickte zustimmend mit dem
Kopf. Stalins Stimme wurde sicherer. Er schloß unter
allgemeiner Zustimmung. Sein Standpunkt wurde angenommen.« Woher hat der Autor,
der nicht das geringste mit der Konferenz zu tun hatte, seine Informationen?
Dimitrijewsky ist ein ehemaliger Sowjetdiplomat, Chauvinist und Antisemit, der
sich während des Kampfes gegen den Trotzkismus der Stalinfraktion angeschlossen
hatte und der später im Ausland ins Lager des rechten Flügels der weißen
Emigration desertierte. Bezeichnend ist, daß er auch als offener Faschist nicht
aufhörte, Stalin sehr hoch zu stellen, Stalins Opponenten zu hassen und alle
Legenden des Kremls zu wiederholen. Hören wir ihm noch einen Augenblick zu.
Nach der Sitzung, auf der über den Boykott der Duma beraten worden war,
verließen Lenin und Stalin »gemeinsam das Volkshaus, wo die Konferenz
stattgefunden hatte. Es war kalt. Ein scharfer Wind wehte. Dennoch wanderten
die beiden lange durch die Straßen von Tammerfors. Lenin interessierte sich für
diesen Mann, von dem er bereits als von einem der härtesten und
entschlossensten Revolutionäre Transkaukasiens sprechen gehört hatte. Er wollte
ihn näher kennenlernen. Lange und eingehend fragte er ihn nach seiner Arbeit,
nach seinem Leben, nach den Personen, denen er begegnet war und nach den
Büchern, die er gelesen hatte. Von Zeit zu Zeit machte Lenin eine kurze
Bemerkung ... und ihr Tonfall ließ sein Einverständnis und seine Befriedigung
erkennen. Das war der Mann, den er brauchte.« Dimitrijewsky war nicht in Tammerfors
und hat das nächtliche Gespräch zwischen Lenin und Stalin nicht belauscht. Er
beruft sich auch nicht auf Stalin selbst, mit dem er, wie aus seinem Buch
hervorgeht, niemals gesprochen hat. Jedoch, etwas klingt in der ganzen
Erzählung lebendig und... vertraut. Ich habe erst mein Gedächtnis anstrengen
müssen, ehe mir meine eigene Schilderung meiner ersten Begegnung mit Lenin und
unseres gemeinsamen Spaziergangs durch die Straßen von London im Herbst 1902
einfiel, die Dimitrijewsky einfach ins finnische Klima versetzt hat. In der
Folklore kommen häufig derartige Übertragungen eindrucksvoller Szenen von einer
mythologischen Gestalt auf eine andere vor. Die Schöpfung bürokratischer Mythen
folgt denselben Regeln.
Koba war
genau sechsundzwanzig Jahre alt, als er schließlich die provinziellen
Eierschalen abstreifte und vor die Arena der ganzen Partei trat. Allerdings
wird sein Auftreten noch kaum zur Kenntnis genommen, und es sollten noch sieben
Jahre vergehen, bevor er ins Zentralkomitee aufgenommen wurde. Doch bedeutet die Tammerforser Konferenz einen Meilenstein in
seinem Leben. Er besucht Petersburg, lernt die Führer der Partei kennen,
beobachtet den Mechanismus der Partei einmal aus der Nähe, kann Vergleiche
zwischen sich selbst und den anderen Delegierten anstellen, nimmt an den
Debatten teil, wird in eine Kommission gewählt und, wie die offizielle
Biographie meint, »verbindet sich für immer mit Lenin«. Bedauerlicherweise
wissen wir über all das nur recht wenig.
Über seine
erste Begegnung mit Lenin hat Stalin selbst berichtet, allerdings erst acht
Tage nach dem Tode Lenins, nämlich am 28. Januar 1924 bei einer Trauerfeier der
Offiziersschüler der Roten Armee im Kreml. Ein vollkommen konventioneller und
kühler Bericht, aus dem so gut wie nichts zu entnehmen ist. Er ist aber derart
charakteristisch für seinen Verfasser, daß er hier vollständig wiedergegeben
werden soll. »Ich bin dem Genossen Lenin zum erstenmal in Finnland auf der
bolschewistischen Konferenz von Tammerfors im Dezember 1905 begegnet«, so beginnt
Stalin. »Ich hoffte, den Bergadler unserer Partei zu sehen, den großen Mann,
groß nicht nur in der Politik, sondern, wenn man will, groß auch seiner äußeren
Erscheinung nach, denn ich stellte mir den Genossen Lenin als Riesen und als
imponierende Erscheinung vor. Wie groß war nicht meine Enttäuschung, als ich
den unauffälligsten aller Menschen sah, kaum mittelgroß, der sich nicht im
geringsten von anderen Sterblichen unterschied.« Unterbrechen wir einen
Augenblick. Hinter der vorgespiegelten Naivität der Bilder vom »Riesen« und
»Bergadler« verbirgt sich schlaue Berechnung zu eigenen Gunsten. Stalin sagte
den angehenden Offizieren der Roten Armee etwa dies: Laßt euch nicht durch
meine eigene mittelmäßige Erscheinung täuschen, auch Lenin hat sich nicht durch
ansehnlichen Wuchs und Schönheit ausgezeichnet! Seine Vertrauensleute unter den
Kadetten haben dann später ihren Kameraden diese Andeutungen mit der nötigen
Offenheit erläutert.
»Von einem
›großen Mann nimmt man an«, fährt Stalin fort, »daß er gewöhnlich bei
Versammlungen zu spät kommt, damit die Versammelten mit Herzklopfen auf sein
Kommen warten, bis es dann heißt: Pscht! Ruhe! Er kommt! Ein solches Ritual
erschien mir damals nicht als überflüssig, denn es flößt Respekt ein und es
imponiert. Wie groß war nicht meine Enttäuschung, als ich erfuhr, daß Lenin
schon vor den anderen Delegierten erschienen war und in irgendeiner Ecke ganz
schlicht mit dem einen oder dem anderen plauderte. Ich will
nicht verschweigen, daß mir diese Art damals geradezu als Verletzung
notwendiger Regeln erschien. Erst später habe ich begriffen, daß diese
Schlichtheit und Bescheidenheit des Genossen Lenin, sein Bestreben, nicht
aufzufallen, seine hohe Stellung nicht zu unterstreichen, daß gerade das zum
Charakter Lenins gehörte, als dem Führer neuer Massen, gewöhnlicher und
einfacher Massen, Massen aus den tiefsten Tiefen der Menschheit.« Dieser
grobschlächtigen Gegenüberstellung liegt eine wohldurchdachte Lüge zugrunde.
Koba dürfte in Tiflis oder Batum vor 1905 kaum Gelegenheit gehabt haben, das
»Ritual« beim Empfang großer Persönlichkeiten aus der Nähe kennenzulernen. In
der Zeit der Illegalität gab es in der Partei überhaupt keine effektvollen
»Führerempfänge« mit ergriffenen Beifallskundgebungen und anderen Riten. Am
allerwenigsten konnte Stalin erwarten, daß sich etwas ähnliches im engen Rahmen
einer Parteileiterkonferenz abspielen würde. Wenn er sich mit geheuchelter
Gutmütigkeit dazu bekennt, daß ihm feierliche Regeln »nicht als überflüssig«
erschienen wären, so versucht er nur, durch gespielte Offenherzigkeit das
Vertrauen seiner Zuhörer zu gewinnen. Die eindeutige Fälschung besteht jedoch
darin, daß Stalin vorsätzlich in die Vergangenheit zurück verlegte, was eben
erst zur neuen sowjetischen Sitte gehörte, nämlich den populären Führern.
Ovationen, manchmal recht stürmische, darzubringen – übrigens ohne »Ritual« und
ohne jede Vorbereitung. Solchen Ovationen konnte auch Lenin nicht aus dem Wege
gehen, ja, Lenin, dem sie lästig waren, konnte ihnen noch weniger als ein
anderer entrinnen. Stalin selbst war damals noch nicht an Ovationen gewöhnt,
sein Erscheinen auf der Tribüne wurde von niemandem beachtet. Und das
keineswegs darum, weil Stalin sich bemühte, »nicht aufzufallen«. Im Gegenteil,
seine Rede über Lenin zeigt deutlich, wie sehr er sich dessen bewußt war,
keinen Kontakt mit den Massen zu besitzen. Gerade darum versuchte er ja, die
Popularität anderer Sowjetführer ins Lächerliche zu ziehen und, indem er Lenin
vorschiebt, den Mangel an eigener Popularität mit dem Mangel an Interesse daran
zu erklären. Berücksichtigt man, daß Stalin diese seine Rede vor den im Kreml
stationierten roten Kadetten hielt, so kann man leicht erraten, gegen wen sein
Phrasenmanöver gerichtet war.
Hören wir
weiter: »Zwei Reden des Genossen Lenin auf dieser Konferenz waren
bemerkenswert: eine über die allgemeine politische Lage und
eine andere über die Agrarfrage. Leider sind sie uns nicht erhalten geblieben.
Es waren schwungvolle Reden, die die ganze Zuhörerschaft in Begeisterung
versetzten. Eine außergewöhnliche Überzeugungskraft, die Einfachheit und
Klarheit in der Beweisführung, die kurzen, jedem verständlichen Sätze, ohne
jede Gespreiztheit, das Vermeiden von theatralischen Gesten und von nur auf
Eindruck berechneten Phrasen, das kennzeichnete in erfreulicher Weise diese
Reden Lenins, besonders wenn man sie mit denen der üblichen parlamentarischen'
Redner verglich. Mich fesselten jedoch damals nicht diese besonderen
Eigenschaften in diesen Reden des Genossen Lenin. Mich fesselte die
unüberwindliche Logik in diesen Ausführungen, eine etwas trockene Logik, die
aber die Zuhörer beherrscht, sie immer mehr elektrisiert und sie schließlich
restlos in ihren Bann zieht, wie man sagt. Ich entsinne mich, daß damals
mehrere Delegierte sagten: ›Die Logik des Genossen Lenin in seinen Reden kann
man mit mächtigen Fühlern vergleichen, die einen von allen Seiten her wie mit
Zangen umfassen und aus denen es kein Hinaus mehr gibt; ergib dich oder du bist
verloren!‹ Ich glaube, daß dieser Zug in den Reden des Genossen Lenin die
größte Stärke seiner Redekunst war.« Auch hier spricht Stalin weniger von
Lenin, als er versucht, seinen Zuhörern weiszumachen, daß er ein Redner sei. Er
müht sich ab, sein junges Auditorium davon zu überzeugen, daß der gute Redner
nur fürs bürgerliche Parlament taugt und daß mächtige Überzeugungskraft nur
denjenigen eigen ist, die nicht reden können. Besonders komisch klingt seine
Charakteristik der Leninschen Redekunst, die zugleich »schwungvoll« und von
»etwas trockener Logik« ist, die die Zuhörer »elektrisiert« und »mit Zangen
umfaßt«. Wenn diese wohldurchdachten Zeilen auch nur eine sehr entfernte Idee
vom Redner Lenin geben, so kennzeichnen sie, wie erwartet, um so treffender den
Redner und den Menschen Stalin.
Der
Einigungsparteitag konnte erst im April 1906 in Stockholm abgehalten werden.
Der Petersburger Sowjet war verhaftet, der Moskauer Aufstand niedergeschlagen,
die Dampfwalze der Repression rollte über das Land. Die Menschewiki flüchteten
sich nach rechts. Plechanow drückte ihre seelische Verfassung in dem berühmten
Satz aus: »Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen!« Die Bolschewiki
nahmen weiter Kurs auf den Aufstand. Auf dem zertrümmerten Gebein der
Revolution stehend, berief der Zar die erste Duma ein, in der vom Anfang der Wahlen an die Liberalen über die offene monarchistische
Reaktion den Sieg davontrugen. Die Menschewiki, die noch vor wenigen Wochen für
den teilweisen Boykott gewesen waren, setzten ihre Hoffnungen nunmehr auf die
konstitutionellen Eroberungen statt auf den revolutionären Kampf. Zur Zeit des
Stockholmer Parteitags erschien ihnen die Unterstützung der Liberalen als die
wichtigste Aufgabe der Sozialdemokratie. Die Bolschewiki blickten auf die
weitere Entwicklung der Bauernaufstände, die berufen schien, auch den proletarischen
Kampf wieder offensiv werden zu lassen und die Zaren-Duma hinwegzufegen. Im
Gegensatz zu den Menschewiki hielten sie weiterhin am Boykott fest. Wie immer
nach einer Niederlage, wurden die Meinungsverschiedenheiten äußerst heftig.
Unter so bösen Vorzeichen begann der Einigungsparteitag seine Arbeit.
An der
Tagung nahmen 113 Delegierte teil, davon 62 Menschewiki und 46 Bolschewiki. Da
theoretisch jeder Delegierte 300 organisierte Sozialdemokraten vertrat, darf
man schließen, daß die Partei 34 000 Mitglieder hatte, wovon 19&nb000
Menschewiki und 14 000 Bolschewiki waren. In der heftigen
Wahlkonkurrenz sind diese Ziffern wohl übertrieben worden. Auf alle Fälle nahm
die Partei zur Zeit des Kongresses nicht zu, sondern verlor Mitglieder. Elf der
113 Delegierten vertraten Tiflis, zehn davon waren Menschewiki, einer
Bolschewik. Dieser einzige Bolschewik war Koba, unter seinem Pseudonym
Iwanowitsch. Das Kräfteverhältnis drückt sich hier in der präzisen Terminologie
der Arithmetik aus. Beria hat den Mut zu behaupten, »unter der Führung Stalins«
hätten die Bolschewiki im Kaukasus die Menschewiki von den Massen
abgeschnitten. Die Zahlen geben ihm unrecht. Darüber hinaus spielte der eng
zusammengeschweißte Block der kaukasischen Menschewiki innerhalb ihrer eigenen
Fraktion auf dem Kongreß eine hervorragende Rolle.
Die
Protokolle weisen aus, daß Iwanowitschens Teilnahme an den Arbeiten der Tagung
ziemlich rege war. Wüßte man jedoch beim Durchlesen der Protokolle nicht, daß
Iwanowitsch Stalin ist, würde man seine Reden und Bemerkungen nicht sonderlich
beachten. Noch bis vor zehn Jahren sind sie von niemand zitiert worden, und die
Parteihistoriker wußten nicht einmal, daß Iwanowitsch und der Generalsekretär
der Partei identisch sind. Iwanowitsch war Mitglied einer technischen
Kommission, die beauftragt war, die Wahlmandate der Delegierten zu überprüfen.
In ihrer Unbedeutendheit ist die Aufgabe, für die Koba ausgewählt wurde, für ihn bezeichnend: die Beschäftigung mit dem
Mechanismus des Apparats stellte ihn an seinen rechten Platz. Nebenbei bemerkt
warfen ihm die Menschewiki bei dieser Gelegenheit zweimal vor, gefälschte
Berichte abgegeben zu haben. Niemand kann sich für die Objektivität der
Ankläger verbürgen. Doch kann man nicht umhin festzustellen, daß sich solche
Vorkommnisse immer wieder um Koba herum zutragen.
Die
Agrarfrage stand auf der Tagung im Mittelpunkt des Interesses. Die
Aufstandsbewegung auf dem flachen Lande war für die Partei ganz unversehens
gekommen. Das alte sozialdemokratische Agrarprogramm, das den Großgrundbesitz
unangetastet gelassen hatte, war mit einem Schlage überholt. Die Enteignung der
großen Güter stand auf der Tagesordnung. Die Menschewiki vertraten ein Programm
der »Kommunalisierung«, die den Grund und Boden in die Hände der demokratischen
Gemeindeverwaltungen überführen sollte. Lenin war für die Verstaatlichung, und
zwar unter der Bedingung, daß alle Macht auf das Volk überginge. Plechanow, erster
Theoretiker der Menschewiki, warnte davor, der zukünftigen zentralen
Regierungsgewalt blind zu vertrauen und ihr die Waffe, die der Boden des Landes
ist, in die Hand zu geben. »Die Republik, von der Lenin träumt, einmal
errichtet«, sagte er, »wird nicht ewigen Bestand haben. Wir können nicht damit
rechnen, daß sich in Rußland in naher Zukunft ein demokratisches Regime ähnlich
dem der Schweiz, Englands oder der Vereinigten Staaten herausbildet. Da die
Möglichkeit einer Restauration besteht, ist die Verstaatlichung gefährlich ...«
So vorsichtig und bescheiden schaute der Begründer des russischen Marxismus in
die Zukunft! Seiner Überzeugung nach konnte man dem Übergang des Grundeigentums
an den Staat nur dann zustimmen, wenn der Staat den Arbeitern gehört. »Die
Machtergreifung«, sagte Plechanow weiter, »ist unumgänglich, wenn wir eine
proletarische Revolution machen. Da aber die kommende Revolution nur eine
kleinbürgerliche Revolution sein kann, so müssen wir auf die Machtübernahme
verzichten.« Plechanow ordnete den Kampf um die Macht einer a priori
aufgestellten soziologischen Definition unter, genauer, einer bloßen
Nomenklatur der Revolution, nicht aber dem wirklichen Verhältnis ihrer inneren
Kräfte - er zeigt hier die Achillesferse seiner ganzen doktrinären Strategie.
Lenin
verfocht die Beschlagnahme des Großgrundbesitzes durch die revolutionären
Bauernkomitees, wobei die Enteignung durch ein von der
verfassunggebenden Versammlung zu erlassendes Verstaatlichungsgesetz
rechtskräftig gemacht werden sollte. »Mein Agrarprogramm«,sagte und schrieb er,
»stützt sich auf das Programm eines Bauernaufstandes und einer vollendeten
bürgerlichen demokratischen Revolution.« In einem entscheidenden Punkte ging er
mit Plechanow einig: die Revolution würde nicht nur in ihrem Anfang, sondern
auch auf ihrem Höhepunkt eine bürgerliche sein. Der Führer des Bolschewismus
hielt nicht nur Rußland für nicht fähig, aus eigenen Kräften den Sozialismus
aufzubauen (niemand dachte vor 1924 daran, diese Frage überhaupt zu stellen!),
sondern glaubte auch nicht, daß Rußland seine künftigen demokratischen
Errungenschaften ohne eine sozialistische Revolution im Westen aufrechterhalten
können würde. Eben gerade auf dem Stockholmer Parteitag formulierte er diesen
Gesichtspunkt mit der schärfsten Präzision. »Die russische
(bürgerlich-demokratische) Revolution kann aus eigenen Kräften siegen«, sagte
er, »aber unter keinen Umständen wird sie ihre Eroberungen aus eigenen Kräften
aufrechterhalten und ausbauen können. Das kann sie nur mit Hilfe eines sozialistischen
Umschwungs im Westen.« Es wäre falsch zu glauben – wie es Stalin späterhin
glauben machen wollte –, daß Lenin damals nur eine äußere militärische
Intervention im Auge hatte. Nein, er sprach von der Unvermeidlichkeit einer
inneren Restauration, weil sich der Bauer, nach der Umschichtung des
Landbesitzes Kleinbürger geworden, gegen die Revolution wenden würde. »Die
Wiederherstellung der alten Verhältnisse ist unvermeidlich, sowohl auf der
Basis des Gemeindeeigentums wie bei der Verstaatlichung oder der Aufteilung,
weil der Kleineigentümer, welches auch immer die Besitzform ist, eine Stütze
der Restauration sein wird. Nach dem vollständigen Siege der demokratischen
Revolution«, betonte Lenin, »wird sich der Kleinbesitzer gegen das Proletariat
wenden, und zwar um so schneller, je rascher die gemeinsamen Feinde des
Kleinbürgertums und des Proletariats gestürzt worden sind ... Unsere
demokratische Revolution verfügt über keine andere Reserve als das
sozialistische Proletariat des Westens.«
Doch für
Lenin, der so das Schicksal der russischen Demokratie direkt mit dem des
europäischen Sozialismus verband, war das sogenannte »Endziel« nicht durch eine
unabsehbare Geschichtsperiode von der demokratischen Revolution getrennt. Schon
im Augenblick des Kampfes um die Demokratie suchte er die
Grundlagen für einen raschen Vormarsch auf das sozialistische Ziel zu schaffen.
Der Sinn der Verstaatlichung des Bodens lag darin, daß sie ein Fenster für den
Blick in die Zukunft öffnete: »Im Stadium der demokratischen Revolution und der
Bauernerhebung kann man sich nicht damit begnügen, den Großgrundbesitz zu
enteignen. Man muß weitergehen und den entscheidenden Schlag gegen das
Privateigentum an Grund und Boden führen, um so den Weg für den Endkampf um den
Sozialismus freizulegen.«
In dieser
Grundfrage der Revolution war Iwanowitsch mit Lenin nicht einverstanden. Er
sprach sich auf der Tagung entschieden gegen die Verstaatlichung des Bodens und
für die Aufteilung des enteigneten Grundbesitzes aus. Dieser Gegensatz in den
Auffassungen, den die Seiten der Kongreßprotokolle festhalten, ist in Rußland
nur sehr wenigen Leuten bekannt; es ist niemandem gestattet, Iwanowitschs Reden
in der Agrardebatte des Stockholmer Kongresses wiederzugeben oder zu
kommentieren. Sie sind natürlich von höchstem Interesse. Hören wir Stalin: »Da
wir ein zeitweises revolutionäres Bündnis mit der kämpfenden Bauernschaft
eingehen, müssen wir auch mit den Forderungen dieser Bauernschaft rechnen und
müssen diese Forderungen unterstützen, sofern sie nicht zur Gesamtheit der
ökonomischen Entwicklungstendenzen im Widerspruch stehen und den Fortschritt
der Revolution nicht aufhalten. Die Bauern verlangen die Aufteilung, die
Aufteilung steht zu den oben erwähnten Erscheinungen (?) nicht im Widerspruch.
Wir müssen also für die völlige Enteignung und Aufteilung eintreten. Von diesem
Gesichtspunkt aus sind sowohl Nationalisierung wie Kommunalisierung in gleicher
Weise unannehmbar.« Den Offiziersanwärtern im Kreml hatte Stalin erzählt, daß
Lenins Agrarrede in Tammerfors unvergeßlich wäre und die Begeisterung aller
hervorgerufen hätte. Nun stellt sich heraus, daß Iwanowitsch in Stockholm
keineswegs von Lenins Rede in die »Zange« genommen worden war. Nicht nur tritt
er gegen Lenins Agrarprogramm auf, sondern bezeichnet es auch noch als ebenso
unannehmbar wie das von Plechanow.
Die
Tatsache, daß ein junger Kaukasier, der nichts von Rußland weiß, sich dazu
entschließt, gegen seinen Fraktionsführer in der Agrarfrage Stellung zu nehmen,
in der Lenins Autorität ganz besonders unbestritten war, macht staunen. Liegt
es doch sonst nicht in der vorsichtigen Art Kobas, sich aufs Glatteis zu wagen und sich in die Minderheit zu begeben. Gewöhnlich griff
er in die Diskussion nur ein, wenn er eine Mehrheit hinter sich wußte, oder
wenn er später davon überzeugt sein konnte, daß ihm ein Apparat, unabhängig von
Majoritätsfragen, den Sieg sicherte. Um so zwingender müssen die Gründe gewesen
sein, die ihn damals dazu bewogen haben, für die nicht dermaßen populäre These
der Landaufteilung Stellung zu beziehen. Mag es auch nicht leicht sein, sie
über dreißig Jahre später herauszufinden, so sind doch zumindest zwei
Beweggründe für sein Verhalten erkennbar; beide sind charakteristisch für
Stalin.
Koba war in
die revolutionäre Bewegung als plebejischer Demokrat, als Provinzler und
Empiriker hineingekommen. Lenins Erwägungen über den internationalen Charakter
der Revolution waren ihm fremd und unverständlich. Er hielt nach näher
liegenden »Garantien« Ausschau. Unter den georgischen Bauern, die
Gemeindeeigentum nicht kannten, war die individualistische Einstellung in bezug
auf den Landbesitz viel ausgeprägter und verbreiteter als unter den russischen
Bauern. Deswegen sah der Sohn des Bauern aus Didi-Lilo in der Zuteilung von
Landparzellen an die Kleineigentümer die beste Garantie gegen die
Konterrevolution. Die »Aufteilungs«-Theorie war also bei ihm nicht das Ergebnis
theoretischer Schlußfolgerungen – über solche Auffassungen, die sich aus der
Doktrin ergeben, kann er mit spielender Leichtigkeit hinweggehen –, sie war
vielmehr das ihm organisch eigene Programm, in vollkommener Übereinstimmung mit
den Grundeigenschaften seines Charakters, seiner Erziehung, seiner sozialen
Umwelt. Zwanzig Jahre später werden wir ihn in der Tat abermals auf die
»Aufteilung« zurückkommen sehen.
Kobas
zweites Motiv läßt sich mit der annähernd gleichen Sicherheit begründen. Die
Dezember-Niederlage konnte in seinen Augen die Autorität Lenins nur schwächen;
er maß den Tatsachen immer größere Bedeutung bei als den Ideen. Lenin war auf
dem Kongreß in der Minderheit. Mit Lenin siegen konnte Koba nicht. Das allein
minderte sein Interesse am Nationalisierungsprogramm. Sowohl Bolschewiki als
Menschewiki betrachteten die »Aufteilung« als das kleinere Übel im Vergleich
zur These der entgegengesetzten Fraktion. Koba konnte hoffen, daß sich in
letzter Rechnung eine Kongreßmehrheit auf dem Boden des kleineren Übels
zusammenfinden würde. So fiel die organische Tendenz des radikalen Demokraten
mit den taktischen Berechnungen des Pläneschmieds zusammen.
Doch Koba täuschte sich: die Menschewiki verfügten über eine genügende
Majorität und brauchten das kleinere Übel nicht zu wählen, sie entschieden sich
für das größere.
Wichtig in
bezug auf spätere Ereignisse ist, zu vermerken, daß Stalin ebenso wie Lenin das
Bündnis des Proletariats und der Bauernschaft als »zeitweilig« ansah, das heißt
als auf die Lösung gemeinsamer demokratischer Aufgaben beschränkt. Es fiel ihm
keineswegs ein, zu behaupten, daß die Bauernschaft als solche zur Verbündeten
des Proletariats in der sozialistischen Revolution werden könnte. Zwanzig Jahre
später sollte das »Mißtrauen« gegenüber der Bauernschaft zur schlimmsten aller
Ketzereien des »Trotzkismus« erklärt werden. So manches sollte zwanzig Jahre
später in einem ganz anderen Lichte erscheinen. Als er 1906 das Agrarprogramm
der Bolschewiki sowohl als das der Menschewiki für »in gleicher Weise
unannehmbar« hielt, war Stalin der Ansicht, daß die Landaufteilung »nicht im
Widerspruch mit den ökonomischen Entwicklungstendenzen« stehe. Was er
tatsächlich damit meinte, war die kapitalistische Entwicklung. Was die
zukünftige sozialistische Revolution anbelangt, an die er damals noch keinen
Augenblick ernsthaft gedacht hatte, so war er sicher, daß erst noch Jahrzehnte
vergehen müßten, in deren Verlauf die kapitalistischen Entwicklungsgesetze ihre
Aufgabe zu Ende zu führen hätten: die Konzentration und Proletarisierung
innerhalb der wirtschaftlichen Struktur des Dorfes. Nicht ohne Grund hatte
Stalin in einem seiner Flugblätter das sozialistische Ziel mit dem biblischen
Ausdruck vom »Gelobten Land« bezeichnet.
Das
Hauptreferat für die »Aufteilungs«-These wurde natürlich nicht von dem faktisch
unbekannten Iwanowitsch gehalten, sondern von Suworow, einem Bolschewiken mit
größerer Autorität, der den Standpunkt seiner Gruppe mit hinreichender
Vollständigkeit klar machte. »Man sagt, daß es sich hierbei um eine bürgerliche
Maßnahme handelt«, argumentierte Suworow, »aber die Bauernbewegung ist an sich
kleinbürgerlich, und wenn wir die Bauernschaft unterstützen können, dann nur in
dieser Richtung. Im Vergleich zur Leibeigenschaft ist die
Individualbewirtschaftung ein Schritt nach vorwärts, später wird sie dann durch
eine neue Entwicklung überholt werden.« Die sozialistische Umformung der
Gesellschaft wird erst auf der Tagesordnung stehen, wenn die kapitalistische
Entwicklung »überholt« worden sein wird, das heißt, wenn
sie den von der bürgerlichen Revolution geschaffenen unabhängigen Kleinbesitzer
ruiniert und enteignet haben wird.
Der eigentliche
Schöpfer der Aufteilungstheorie ist nicht Suworow, sondern der fortschrittliche
Historiker Rojkow, der erst kurz vor der Revolution von 1905 zu den Bolschewiki
gekommen war. Er ist nur deswegen auf der Tagung nicht als Redner aufgetreten,
weil er gerade im Gefängnis saß. Rojkows Gedankengang, den er in einer Polemik
gegen den Verfasser dieses Buches entwickelte, war, daß nicht nur Rußland,
sondern selbst die fortgeschrittenen Länder noch weit entfernt davon wären, für
eine sozialistische Revolution reif zu sein. In der ganzen Welt hätte der
Kapitalismus noch eine lange Epoche des Fortschritts vor sich, ihr Ende verlöre
sich in nebelhafter Ferne. Um die Widerstände zu beseitigen, die einem
schöpferischen Fortschreiten des russischen Kapitalismus, dieses am meisten
zurückgebliebenen Kapitalismus, im Wege standen, müsse das Proletariat den
Preis für das Bündnis der Bauernschaft mit ihm zahlen und für die
Landaufteilung eintreten. Der Kapitalismus würde dann mit den
Gleichheitsillusionen kurzen Prozeß machen und nach und nach den Landbesitz in
den Händen der mächtigsten und fortgeschrittensten Landeigentümer
konzentrieren. Lenin nannte die Anhänger dieses Programms, das direkt darauf
hinauslief, den kapitalistischen Grundeigentümer zu unterstützen, »Rojkowisten«,
nach dem Namen ihres Führers. Rojkow, der theoretische Fragen sehr ernst nahm,
ist in den Jahren der Reaktion zu den Menschewiki übergegangen.
Bei der
ersten Abstimmung stimmte Lenin mit den Anhängern der Aufteilung, um, wie er
sagte, »nicht die Stimmen gegen die Kommunalisierung zu zersplittern«. Er hielt
die Aufteilung für das kleinere Übel, jedoch mit der Einschränkung, daß sie
leicht zur sozialen Basis für eine bonapartistische Diktatur werden könnte,
wenn sie auch gegen die Wiederherstellung von Großgrundbesitz und
Zarenherrschaft einen gewissen Schutz bot. Er warf den »Aufteilern« vor, die
Bauernbewegung nur vom Standpunkt der Vergangenheit und der Gegenwart aus zu
sehen, ohne den Blick auf die Zukunft zu richten, das heißt auf den Sozialismus.
Wenn der Bauer meine, das Land gehöre »niemand« oder sei »Gottes Eigentum«,
dann läge darin sehr viel Konfusion und nicht wenig mystisch verschleierter
Individualismus. Man müsse nichtsdestoweniger an das anknüpfen, was in diesen
Auffassungen an fortschrittlichen Tendenzen enthalten sei
und es zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ausnützen. Gerade dazu
wären die »Aufteiler« nicht imstande. »Die Praktiker ... werden das
gegenwärtige Programm vulgarisieren ... und aus einem kleinen Fehler einen
großen machen ... Sie werden mit der Bauernschaft ausrufen, daß das Land
niemandem, Gott, der Regierung gehört, sie werden auf die Vorteile der
Aufteilung hinweisen und so den Marxismus vulgarisieren und entstellen.« Lenin
bezeichnet als »Praktiker« einen Revolutionär mit beschränktem Horizont, einen
Propagandisten, der mit den primitivsten Formeln arbeitet. Das trifft den Nagel
auf den Kopf, noch dazu wenn wir in Betracht ziehen, daß sich Stalin im
kommenden Vierteljahrhundert stolz nie anders denn als einen »Praktiker« zu
bezeichnen pflegt, zum Unterschied von den »Literaten« und den »Emigranten«.
Zum Theoretiker ernannte er sich erst, nachdem ihm der politische Apparat den
Sieg gesichert hatte und ihn gegen jede Kritik schützte.
Plechanow
hatte natürlich recht gehabt, als er die Agrarfrage mit dem Problem der
Machtübernahme verband. Aber Lenin hatte die Natur dieses Zusammenhanges
ebenfalls erfaßt, und noch tiefer als Plechanow. Um die Verstaatlichung möglich
zu machen, hatte die Revolution die, wie er es formulierte, »demokratische
Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«, zu errichten, die er scharf
von der sozialistischen Diktatur des Proletariats unterschied. Im Gegensatz zu
Plechanow glaubte Lenin, daß die Agrarrevolution nicht von den Liberalen,
sondern von plebejischen Fäusten durchgeführt werden würde, oder sie würde
überhaupt nicht durchgeführt werden. Immerhin blieb die Natur der
»demokratischen Diktatur«, für die er eintrat, verschwommen und
widerspruchsvoll. Erlangten die Kleineigentümer eine vorherrschende Stellung in
der Revolutionsregierung – was an sich in einer bürgerlichen Revolution des
zwanzigsten Jahrhunderts unwahrscheinlich ist – dann würde diese Regierung
Gefahr laufen, zum Werkzeug der Reaktion zu werden. Nimmt man aber an, daß die
Regierungsgewalt im Verlauf der Agrarrevolution an das Proletariat fällt, dann
wird die Grenze zwischen demokratischer und sozialistischer Revolution
verwischt, die eine geht dann ganz natürlicherweise in die andere über: die
Revolution wird »permanent«. Für dieses Argument hatte Lenin noch keine Antwort
bereit. Unnötig zu sagen, daß Koba in seiner Eigenschaft als »Praktiker« und
»Aufteiler« auf die Perspektive der permanenten Revolution
mit souveräner Verachtung herabsah.
Die
bäuerlichen Revolutionskomitees waren die Instrumente, mit deren Hilfe der
Grund und Boden in Besitz genommen wurde; Iwanowitsch verteidigte sie gegen die
Menschewiki: »Wenn die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der
Arbeiterklasse selbst sein kann, dann kann die Befreiung der Bauernschaft nur
das Werk der Bauernschaft selbst sein!« Eine symmetrische Formel, die eine
Parodie auf den Marxismus ist. Die historische Mission des Proletariats rührt
ja gerade in hohem Maße aus der Unfähigkeit des Kleinbürgertums her, sich selbst
zu befreien. Eine bäuerliche Revolution ist sicherlich unmöglich ohne die
aktive Teilnahme der Bauern selbst in Form von bewaffneten Haufen, Ortskomitees
und so weiter. Doch das Schicksal der bäuerlichen Revolution entscheidet sich
in der Stadt und nicht auf dem Lande. Amorphes Überbleibsel des Mittelalters,
ist die Bauernschaft nicht zu einer selbständigen Politik fähig und bedarf
eines außenstehenden Führers. Zwei neue Klassen erheben diesen
Führungsanspruch. Folgt die Bauernschaft der liberalen Bourgeoisie, so wird die
Revolution auf halbem Wege steckenbleiben, um dann später wieder
zurückzurollen. Findet sie ihren Führer im Proletariat, dann muß die Revolution
ganz unvermeidlich den bürgerlichen Rahmen sprengen. Gerade auf diesem
besonderen Verhältnis zwischen den Klassen in einer historisch verspäteten
bürgerlichen Gesellschaft beruhte die Perspektive der permanenten Revolution.
Diese
Perspektive, um deren theoretische Fundierung ich mich zu jener Zeit in einer
Zelle des Petersburger Gefängnisses abermals bemühte, wurde auf der Stockholmer
Tagung von niemandem vertreten. Der Aufstand war niedergeschlagen, die
Revolution auf dem Rückzuge. Die Menschewiki schielten nach einem Block mit den
Liberalen. Die Bolschewiki waren in der Minderheit und überdies gespalten. Die
Perspektive der permanenten Revolution schien in Mißkredit geraten zu sein. Elf
Jahre lang sollte sie auf ihre Revanche warten müssen. Mit zweiundsechzig gegen
zweiundvierzig Stimmen und sieben Stimmenthaltungen nahm der Kongreß das
menschewistische Kommunalisierungsprogramm an, was im weiteren Verlauf der
Ereignisse aber keine Rolle spielen sollte: bei den Bauern stieß es auf taube
Ohren, die Liberalen lehnten es ab. 1917 stimmten die Bauern der
Verstaatlichung des Bodens ebenso zu, wie sie die Sowjetregierung und die
bolschewistische Führung akzeptierten.
Zwei weitere Diskussionsreden Iwanowitschs auf dem
Kongreß waren lediglich verkürzte Wiederholungen von Reden und Artikeln Lenins.
In bezug auf die allgemeine politische Situation warf Iwanowitsch den
Menschewiki mit Recht vor, die Bewegung der Massen zu hemmen, indem sie diese
dem politischen Kurs der liberalen Bourgeoisie anzupassen suchten. »Entweder
die Hegemonie des Proletariats« – er wiederholte die allgemein übliche Formel
–, »oder die Hegemonie der demokratischen Bourgeoisie: so stellt sich die Frage
vor der Partei. Und darin bestehen unsere Meinungsverschiedenheiten.« Doch war
der Redner weit entfernt davon, alle historischen Konsequenzen aus dieser
Alternative zu erfassen. Die »Hegemonie des Proletariats« bedeutet die
politische Vorherrschaft des Proletariats über alle revolutionären Kräfte im
Lande, vor allem über die Bauernschaft. Im Falle eines vollständigen Sieges der
Revolution muß die »Hegemonie« natürlicherweise zur Diktatur des Proletariats
führen, mit allen darin liegenden Konsequenzen. Iwanowitsch aber hielt noch
eisern daran fest, daß die russische Revolution nur den Weg für ein
bürgerliches Regime freilegen könne. In einigermaßen unverständlicher Weise
verband er die Idee der proletarischen Hegemonie mit der Vorstellung einer
unabhängigen Politik der Bauernschaft, die sich durch Aufteilung des Bodens in
kleine Parzellen selber befreien würde.
Dieser
sogenannte »Einigungsparteitag« brachte in der Tat die Vereinigung nicht nur der
beiden Hauptfraktionen der Partei, sondern auch den Anschluß der national
organisierten polnischen und lettischen Sozialdemokratie und des jüdischen
»Bund«. Doch lag seine wahre Bedeutung eher darin, daß er, wie Lenin es
ausdrückte, »dazu beitrug, die Scheidung der Sozialdemokratie in einen rechten
und einen linken Flügel klarer zu machen«. Wenn die Spaltung auf dem Zweiten
Parteitag nur erst eine »Vorwegnahme« bedeutet hatte und sie in der Folge noch
einmal überwunden werden sollte, so wurde die »Vereinigung« auf dem Stockholmer
Kongreß ein Markstein auf dem Wege zum endgültigen und definitiven Bruch, der
sechs Jahre später erfolgte. Auf dem Kongreß selbst war Lenin allerdings noch
weit davon entfernt, die Spaltung für unvermeidlich zu halten. Die Erinnerung
an die turbulenten Monate des Jahres 1905, in denen die Menschewiki eine
scharfe Linkswendung gemacht hatten, war noch gar zu frisch. Trotzdem sie bald,
wie die Krupskaja schreibt, »ihr wahres Gesicht zeigten«, hoffte Lenin weiter, sagt sie, »daß ein neuer Aufschwung der Revolution, an dem er
nicht zweifelte, die Menschewiki mitreißen und sie wieder auf die
bolschewistische Linie führen würde«. Doch blieb der neue Aufschwung aus.
Unmittelbar
nach dem Kongreß richtete Lenin einen Aufruf an die Partei, in dem er eine
zurückhaltende, aber unzweideutige Kritik an den auf dem Kongreß angenommenen
Resolutionen übte. Der Aufruf war von Delegierten »der ehemaligen Fraktion der
Bolschewiki« unterzeichnet – auf dem Papier galten die Fraktionen als
aufgelöst. Beachtenswert ist, daß von zweiundvierzig auf dem Kongreß anwesenden
Delegierten nur sechsundzwanzig dieses Dokument unterzeichneten. Weder
Iwanowitsch noch Suworow, der Führer seiner Gruppe, haben es unterschrieben.
Die Anhänger der Bodenaufteilung hielten die Meinungsverschiedenheit
offensichtlich für so bedeutend, daß sie vermieden, zusammen mit der Leninschen
Gruppe vor die Partei zu treten, obgleich der Abschnitt über die Agrarfrage in
dem Aufruf sehr vorsichtig formuliert war. In den heutigen parteioffiziellen
Veröffentlichungen sucht man vergeblich nach Kommentaren über diese
Angelegenheit. Lenin jedenfalls erwähnt in einem Bericht über den Stockholmer
Kongreß, der gedruckt erschienen ist, in dem die Diskussionen im einzelnen
wiedergegeben und die hauptsächlichsten Redner, Bolschewiki sowohl wie
Menschewiki, aufgeführt werden, nicht ein einziges Mal die Debattenreden von
Iwanowitsch: offensichtlich erscheinen sie ihm als für die Diskussion nicht so
wesentlich, wie man sie dreißig Jahre später hinzustellen versucht hat. Die
Stellung Stalins innerhalb der Partei hatte sich, wenigstens nach außen hin,
nicht verändert. Niemand schlug ihn für das Zentralkomitee vor, das sich aus
sieben Menschewiki und drei Bolschewiki zusammensetzte: Krassin, Rykow und
Desnitzky. Nach Stockholm wie vor Stockholm blieb Koba ein Parteiarbeiter von
»kaukasischem« Kaliber.
In den
beiden letzten Monaten des Revolutionsjahres hatte der Kaukasus einem siedenden
Kessel geglichen. Im Dezember leitete das Streikkomitee, nachdem es die Verwaltung
der transkaukasischen Eisenbahn und des Telegraphennetzes in die Hand genommen
hatte, praktisch das ganze Transportwesen und Wirtschaftsleben von Tiflis. Die
Vororte der Stadt waren von bewaffneten Arbeitern besetzt. Nicht für lange
allerdings, die Militärbehörden gewannen rasch die Oberhand. Über das
Gouvernement Tiflis wurde der Belagerungszustand verhängt.
In Kutaïs, Zithory und anderwärts kam es zu Kämpfen. In Westgeorgien loderte
der Bauernaufstand auf. Am 10. Dezember schrieb Schirinkin, der Polizeichef des
Kaukasus, an seinen Petersburger Vorgesetzten: »Im Gouvernement von Kutaïs
herrscht eine besondere Lage ... die Ortspolizei ist entwaffnet worden, die
Aufständischen haben sich des westlichen Eisenbahnabschnitts bemächtigt, sie
verkaufen selber die Billetts und halten die öffentliche Ordnung aufrecht ...
Ich bekomme keine Rapporte aus Kutaïs; die Gendarmen sind von dieser Linie
zurückgezogen und in Tiflis konzentriert worden. Kuriere werden von den
Revolutionären angehalten, und die Rapporte, die sie bei sich tragen, werden
ihnen abgenommen; die Lage ist unmöglich ... Der Generalgouverneur ist krank
vor nervöser Erschöpfung ... Weitere Einzelheiten werde ich durch die Post
senden, oder, wenn das nicht möglich sein sollte, durch Kurier ...«
All diese
Ereignisse kamen nicht von ungefähr. Sie gingen vor allem aus der
gemeinschaftlichen Initiative der Massen hervor, sie bedurften ferner für jeden
neuen Schritt leitender und organisierender Individuen. Zu diesen letzteren
gehörte Koba nicht. Er nahm sich Zeit und widmete schon überholten Ereignissen
seine Kommentare. Das allein hatte ihm erlaubt, in den Tagen der hitzigsten
Auseinandersetzungen nach Tammerfors zu gehen. Niemand bemerkte seine
Abwesenheit, niemand nahm von seiner Rückkunft Notiz.
Mit der
Niederschlagung des Moskauer Aufstandes setzte eine Wendung ein. Die
Petersburger Arbeiter, durch voraufgegangene Kämpfe und Aussperrungen
erschöpft, blieben während dieser Zeit passiv. Es folgte die Unterdrückung der
Rebellion in Transkaukasien, in den baltischen Ländern und in Sibirien. Die
Reaktion kam wieder zu sich. Das zuzugeben waren die Bolschewiki um so weniger
geneigt, als noch immer verspätete Flutwellen gegen die allumfassende Ebbe
anrannten. Alle revolutionären Parteien glaubten felsenfest, daß die große Woge
kommen würde. Als einige der skeptischeren Anhänger Lenins ihn darauf
aufmerksam machten, daß der Rückzug vielleicht schon in vollem Gange sei,
antwortete er: »Ich werde der Letzte sein, der das zugibt!« Am deutlichsten
konnte man den Pulsschlag der russischen Revolution an den Streiks, dieser
Grundvoraussetzung für die Mobilisierung der Massen, ablesen. Das Jahr 1905 sah
zweieinhalb Millionen Streikende, 1906 nahezu eine Million; an und
für sich gewaltig, drücken diese Zahlen doch ein brüskes Nachlassen aus.
Kobas
Erklärung nach hatte das Proletariat eine vorübergehende Niederlage erlitten,
»hauptsächlich, weil es keine oder nicht genügend Waffen hatte; wie
klassenbewußt man auch ist, man kann nicht mit bloßen Händen gegen Kugeln
ankämpfen«. Das heißt das Problem gar sehr versimpeln. Sicherlich ist es kaum
möglich, mit leeren Händen gegen Kugeln »anzukämpfen«, aber es gab tiefere
Gründe für die Niederlage. Die bäuerlichen Massen hatten sich nicht in ihrer
Gesamtheit erhoben, und im Zentrum des Landes weniger als in den Randgebieten.
Die Armee war nur teilweise von der Rebellion erfaßt worden. Das Proletariat
war sich seiner eigenen Kraft noch ebensowenig bewußt wie der Stärke seines
Gegners. Das Jahr 1905 – hier liegt seine überragende Bedeutung – ging als die
»Generalprobe« in die Geschichte ein. Diese Charakterisierung konnte Lenin aber
erst nach vollendeter Tatsache geben. 1906 rechnete er mit einer raschen
Entscheidung. Im Januar 1906 schrieb Koba, wie immer Lenin wiederholend und wie
üblich in allzu vereinfachender Weise: »Wir müssen ein für allemal alles Zögern
sein lassen, alle Unentschlossenheit beiseite lassen, wir müssen unwiderruflich
wieder zur Offensive übergehen. Eine geeinte Partei, ein von der Partei
organisierter bewaffneter Aufstand und eine Politik des Angriffs, das ist es,
was von uns für den Sieg des Aufstandes verlangt wird.« Selbst die Menschewiki
wagten noch nicht laut auszusprechen, daß die Revolution zu Ende sei. Ohne
Widerspruch fürchten zu müssen, konnte Iwanowitsch auf dem Stockholmer
Parteitag erklären: »Und so stehen wir also an der Schwelle eines neuen
Ausbruchs ... darüber sind wir uns alle einig.« In Wirklichkeit gehörte der
»Ausbruch« zu dieser Zeit schon der Vergangenheit an. Die »Politik des
Angriffs« äußerte sich allmählich nur noch in Überfällen und Einzelaktionen.
Eine Welle der »Expropriationen« schwemmte über das Land, der bewaffneten
Überfälle auf Banken, Sparkassen und andere Gelddepots.
Mit dem
Abbröckeln der Revolution ging die Initiative für den Angriff wieder auf die
Regierung über, deren Nerven sich wieder beruhigten. Im Herbst und im Winter
waren die revolutionären Parteien aus der Illegalität herausgetreten, und das
Turnier war mit offenem Visier weiter ausgefochten worden. Auf diese Weise hatte
die zaristische Polizei den Gegner kennengelernt, den
ganzen und vor allem auch den einzelnen. Mit der Verhaftung der Petersburger
Sowjets am 3. Dezember 1905 setzte der Terror ein. Alle, die irgendwie
hervorgetreten waren, wurden, soweit sie sich nicht verbergen konnten, einer
nach dem anderen verhaftet. Mit dem Siege Admiral Dubassows über die Moskauer
Arbeitermiliz nahm die mit der üblichen Grausamkeit vor sich gehende
Unterdrückung einen besonders schändlichen Charakter an. In der Zeit zwischen
Januar 1905 und der Einberufung der ersten Duma am 27. April (10. Mai nach der
neuen Zeitrechnung) 1906 hat die zaristische Regierung nach vorsichtigen
Schätzungen über vierzehntausend Menschen töten lassen. Hingerichtet wurden
über tausend Menschen, zwanzigtausend wurden verwundet und über siebzigtausend
wurden verhaftet, gefangengehalten und verbannt. Die meisten Opfer fielen im
Dezember 1905 und in den ersten Monaten von 1906. Koba bot sich nicht als
»Zielscheibe« dar. Er wurde weder verwundet, noch verbannt, noch verhaftet. Er
brauchte sich nicht einmal zu verstecken, sondern konnte nach wie vor in Tiflis
bleiben. So etwas kann nicht durch persönliche Geschicklichkeit oder einen
glücklichen Zufall erklärt werden. Die Reise nach Tammerfors konnte man im
geheimen bewerkstelligen, die Massenbewegung von 1905 konnte man nicht heimlich
leiten. Einen aktiven Revolutionär konnte in dem kleinen Tiflis auch ein
»glücklicher Zufall« nicht schützen. Tatsache ist, daß Koba derart fern von den
großen Ereignissen geblieben war, daß die Polizei sich nicht mit ihm zu
beschäftigen brauchte. Mitte 1906 vegetierte er immer noch auf der Redaktion
der legalen bolschewistischen Zeitung dahin.
Lenin hielt
sich damals in Kuokalla in Finnland verborgen und war in ständiger Verbindung
mit Petersburg und dem ganzen Land. Auch die übrigen Mitglieder des
bolschewistischen Zentralkomitees befanden sich am gleichen Ort, um von dort
aus die zerrissenen Fäden der illegalen Organisation wieder anzuknüpfen. »Aus
allen Ecken und Enden Rußlands«, schreibt die Krupskaja, »kamen die Genossen,
mit denen die Arbeit besprochen wurde.« Sie führt eine Reihe von Namen auf,
darunter den Swerdlows, der im Ural »außerordentlichen Einfluß besaß«, sie
erwähnt Woroschilow und andere. Dem ominösen Drängen der offiziellen Kritik zum
Trotz, dem sie ausgesetzt war, als sie ihr Buch schrieb, sagt sie über Stalin
in dieser Periode nichts. Und dies durchaus nicht etwa, weil sie seinen Namen
absichtlich vermeiden will. Im Gegenteil, wo immer es die
Tatsachen erlauben, bemüht sie sich, ihn in den Vordergrund zu stellen. Sie
konnte ganz einfach in ihrer Erinnerung an jene Zeit keine Spur von ihm finden.
Die erste
Duma wurde am 8. Juli 1906 aufgelöst. Der Proteststreik, zu dem die Parteien
der Linken aufgerufen hatten, kam nicht zustande: die Arbeiter hatten zu
verstehen gelernt, daß der Streik allein nicht genügte und daß sie zu schwach
waren, um mehr zu tun. Der Versuch der Revolutionäre, die Aushebung der
Rekruten zu verhindern, schlug kläglich fehl. Die Meuterei auf der Festung
Sveaborg, an der die Bolschewiki teilnahmen, erwies sich als ein isoliertes
Aufflackern und wurde bald niedergeschlagen. Die Reaktion gewann an Kraft. Die
Partei ging tiefer und tiefer in den Untergrund. »Faktisch leitete Iljitsch von
Kuokalla aus die ganze Tätigkeit der Bolschewiki«, schreibt die Krupskaja.
Wieder folgen eine Anzahl Namen und Einzelheiten, wieder wird Stalin nicht
genannt. Er wird ferner nicht erwähnt anläßlich der Novembertagung der Partei
in Terioki, auf der über die Frage der Wahlbeteiligung an der zweiten Duma
entschieden wurde. Koba kommt nicht nach Kuokalla. Von der angeblichen
Korrespondenz zwischen ihm und Lenin im Jahre 1906 ist keine Spur zu entdecken.
Obwohl sich beide in Tammerfors kennengelernt hatten, war eine persönliche Beziehung
nicht zustande gekommen, noch hatte sie die zweite Begegnung in Stockholm
einander näher gebracht. Die Krupskaja spricht von einem Spaziergang in der
schwedischen Hauptstadt, an dem Lenin, Rykow, Strojew, Alexinsky und andere
teilnahmen, Stalin nennt sie nicht. Es kann auch sein, daß die erst kürzlich
zustande gekommene Bekanntschaft durch die Meinungsverschiedenheit in der
Agrarfrage getrübt worden ist: Iwanowitsch hatte den Aufruf an die Partei nicht
unterzeichnet, also erwähnte Lenin Iwanowitsch in seinem Kongreßbericht nicht.
Entsprechend
den Beschlüssen von Tammerfors und Stockholm schlossen sich die kaukasischen
Bolschewiki den Menschewiki an. Koba wurde nicht Mitglied des Vereinigten
Bezirkskomitees. Er wurde jedoch, wenn man Beria glauben kann, Mitglied des
bolschewistischen kaukasischen Büros, das 1906 neben dem offiziellen
Parteikomitee insgeheim weiter existierte. Tatsachen über die Arbeit dieses
Komitees und die Rolle, die Koba darin gespielt hat, liegen aber nicht vor.
Eins ist sicher: die Ansichten des »Komiteetschiks« über Organisationsfragen hatten sich seit der Tiflis-Batumer Periode wenn auch nicht in
ihrem Wesen, so doch ihrer Ausdrucksform nach geändert; die Arbeiter
aufzufordern, sie müßten anerkennen, daß sie zum Eintritt in das Komitee nicht
geeignet seien, das hätte Koba nun nicht länger gewagt. Sowjets und
Gewerkschaften stellten nun revolutionäre Arbeiter in den Vordergrund, die sich
gewöhnlich besser zur Führung der Massen geeignet zeigten als die Mehrzahl der
illegalen Intellektuellen. Wie Lenin vorausgesagt hatte, sahen sich die
»Komiteetschiks« gezwungen, ihre Ansichten oder jedenfalls ihre Argumente
schnellstens zu revidieren. Koba verteidigte jetzt in den Zeitungen die
Notwendigkeit der inneren Parteidemokratie, mehr noch, einer Demokratie, in der
»die Masse selbst über die Fragen entscheidet und selbst handelt«. Bloße
Wahldemokratie genügt jedoch nicht: »Napoleon der Dritte wurde mit dem
allgemeinen Stimmrecht gewählt. Doch wer wüßte nicht, daß er später einer der
größten Volksbedrücker geworden ist?« Hätte Besoschwili (Kobas damaliges
Pseudonym) in seine eigene Zukunft blicken können, würde er sich wohl gehütet
haben, auf die bonapartistischen Plebiszite anzuspielen. Doch hat er manches
nicht vorausgesehen. Er besaß die Gabe der Vorausschau nur auf kurze Distanz.
Das aber war nicht nur seine Schwäche, sondern, wie wir sehen werden, auch
seine Stärke, zumindest für eine gewisse Zeit.
Die
Niederlagen des Proletariats zwangen den Marxismus auf die
Verteidigungsstellung zurück. Gegner und Feinde, die in den stürmischen Monaten
geschwiegen hatten, hoben jetzt das Haupt. Materialismus und Dialektik wurden
von der Linken wie von der Rechten für die Sünden der Reaktion verantwortlich
gemacht. Auf der Rechten von Liberalen, Demokraten, Volkstümlern, auf der
Linken von den Anarchisten. Der Anarchismus hatte in der Bewegung von 1905
keine Rolle gespielt. Im Petersburger Sowjet hatte es nur drei Fraktionen
gegeben: Menschewiki, Bolschewiki, Sozialrevolutionäre. In der allgemeinen Enttäuschung
nach der Auflösung der Sowjets fanden die Anarchisten größere Resonanz. Die
Ebbe-Stimmung erfaßte auch den Kaukasus, wo der Anarchismus auf bessere
Vorbedingungen stieß als irgendwo sonst im Lande. Kobas Anteil an der
Verteidigung der angegriffenen marxistischen Positionen besteht in einer in
seiner georgischen Muttersprache geschriebenen Artikelserie über das Thema
»Anarchismus und Sozialismus«. Diese Artikel, die des Verfassers guten Willen
bezeugen, lassen sich schlecht zusammenfassen, weil sie selbst
schon eine Zusammenfassung der Arbeiten anderer sind. Es ist auch schwierig,
etwas daraus zu zitieren; sie sind alle von derselben grauen Farbe, was die
Auswahl einer persönlicher gehaltenen Formulierung unmöglich macht. Es genügt
zu wissen, daß dieses Werk nie wieder herausgegeben worden ist.
Rechts von
denjenigen georgischen Menschewiki, die sich weiterhin als Marxisten
betrachteten, kam die Föderalistische Partei auf, eine georgische Parodie teils
auf die Sozialrevolutionäre, teils auf die »Kadetten«. Besoschwili warf dieser
Partei mit Recht ihre furchtsamen Manöver und Kompromisse vor, doch bediente er
sich dabei recht gewagter Redewendungen. »Wie bekannt«, so schreibt er, »hat
jedes Tier seine eigene Farbe. Nur das Chamäleon ist damit nicht zufrieden. Vor
dem Löwen nimmt es die Farbe des Löwen an, vor dem Wolf die des Wolfs, vor der
Kröte die der Kröte; es nimmt die Farbe an, die ihm am vorteilhaftesten
erscheint ...« Der Zoologe wird gegen diese Verleumdung des Chamäleons
protestieren. Doch da unser bolschewistischer Kritiker im Grunde recht hat,
wollen wir für diesen Stil eines Menschen, der eigentlich Dorfpope werden
sollte, Nachsicht üben.
Das ist
alles, was über die Tätigkeit Koba-Iwanowitsch-Besoschwilis während der ersten
Revolution zu sagen ist. Es ist nicht viel, selbst rein der Quantität nach.
Indessen hat der Verfasser größte Mühe aufgewendet, nichts zu vergessen, was
der Erwähnung wert gewesen wäre. Der wunde Punkt ist eben, daß Kobas Intellekt
der Einbildungskraft ermangelt und nicht sehr schöpferisch ist. Außerdem, trotz
der später geschaffenen Legende, verhält es sich so, daß dieser starrköpfige,
gallige und anmaßende Charakter alles andere als arbeitsam ist. Geistige Arbeit
als Gewohnheit ist ihm fremd. Alle, die ihn später aus der Nähe kennenlernten,
wußten, daß er die Arbeit scheute. »Koba ist ein Faultier«, haben, mit halb
verächtlichem Lächeln, Bucharin, Krestinsky, Serebriakow und andere später oft
gesagt. Auch Lenin hat auf diesen ganz persönlichen Zug manchmal vorsichtige
Anspielungen gemacht. Diese Neigung zu brütendem Nichtstun ließ einerseits
seine orientalische Abstammung erkennen, andererseits seinen unbefriedigten
Ehrgeiz. Es bedurfte jedesmal eines zwingenden und direkten Anstoßes, um Koba
zu veranlassen, eine längere systematische Arbeit aufzunehmen. Die Revolution,
die ihn links liegen ließ, war ein solches Stimulans nicht. Daher erscheint das, was er zur Revolution beigetragen hat, als so
lächerlich geringfügig im Vergleich zu dem, was die Revolution für sein
persönliches Glück bedeutet hat.