Leo Trotzki: Stalin. Viertes Kapitel - Die Periode der Reaktion
Portraits
						Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
  Viertes Kapitel. 
Die Periode der Reaktion
Das
						Privatleben der Revolutionäre in der Illegalität war auf ein Minimum
						zurückgeschraubt und verdrängt; dennoch hatten auch die Revolutionäre ein
						Privatleben. Gleiche Ideen, gemeinsamer Kampf, gemeinsame Gefahren, die gleiche
						Abgeschnittenheit von der übrigen Welt – das schuf ein starkes Band. Paare
						fanden sich in der Illegalität, wurden durch das Gefängnis getrennt, suchten
						einander wieder in der Verbannung. Vom Privatleben des jungen Stalin wissen wir
						wenig; dies wenige ist für die Beurteilung des Menschen Stalin um so
						wertvoller.
						
						»Er
						heiratete im Jahre 1903«, berichtet Iremaschwili, »seinen eigenen Auslassungen
						nach war die Ehe glücklich. Gewiß, von der Gleichberechtigung der Geschlechter,
						die er als die Grundform der Ehe im neuen Staat propagierte, war in seinem
						eigenen Heim nichts zu spüren. Entsprach es doch seinem Charakter überhaupt
						nicht, irgendeine andere Person als gleichberechtigt anzusehen. Die Ehe war
						glücklich, weil seine Frau, deren Intelligenz an die seine nicht heranreichte,
						ihn als eine Art Halbgott betrachtete, und weil sie als Georgierin in der
						geheiligten Tradition aufgewachsen war, die das Weib zum Dienen verpflichtet.«
						Iremaschwili selbst, obwohl er sich für einen Sozialdemokraten hält, bekennt
						sich mit fast religiöser Ehrfurcht zu dieser Tradition, die aus der georgischen
						Frau im Grunde eine Familiensklavin macht. Er verleiht der Frau Kobas dieselben
						Züge, die er seinerzeit der Mutter Keke zugeschrieben hatte: »Diese echt georgische
						Frau ... wachte mit dem ganzen Herzen über ihres Gatten Wohlergehen. Zahllose
						Nächte verbringt sie inbrünstig betend, auf ihren Sosso wartend, der an
						geheimen Zusammenkünften teilnimmt. Sie betete dafür, daß
						er ablassen möge von den Ideen, die Gott mißfallen, und daß er sich bekehren
						möge zum mühseligen, aber friedlichen und selbstgenügsamen Familienleben.«
						
						Nicht ohne
						Erstaunen vernehmen wir hier, daß Koba, der sich im Alter von dreizehn Jahren
						von der Religion abgewandt hatte, eine naiv und fest gläubige Frau heiratete.
						Das würde zu einem gut bürgerlichen Milieu passen, wo sich der Ehegatte als
						einen Freigeist betrachtet oder sich mit dem freimaurerischen Ritual die Zeit
						vertreibt, während die Frau Gemahlin nach dem letzten Ehebruch zum Priester beichten
						geht. Für russische Revolutionäre aber hatten diese Dinge weitaus größere
						Bedeutung. Das innerste Element ihrer revolutionären Weltanschauung war nicht
						Freigeisterei, sondern kämpferischer Atheismus. Wo hätten sie persönliche
						Toleranz einer Religion gegenüber hergenommen, die unauflöslich mit all dem
						verbunden war, gegen das sie unter ständiger persönlicher Gefahr kämpften?
						Unter den Arbeitern, die frühzeitig heirateten, fand man nicht wenig Fälle, in
						denen der Mann nach der Heirat Revolutionär geworden war und die Frau
						hartnäckig am alten Glauben festhielt. Doch führte das auch oft genug zu
						dramatischen Konflikten. Der Mann wollte vor der Frau sein neues Leben
						verborgen halten und entfernte sich mehr und mehr von ihr. In anderen Fällen
						gelang es dem Mann, die Frau für die eigenen Auffassungen zu gewinnen, und er
						brachte sie auf diese Weise mit ihren Eltern auseinander. Die jugendlichen
						Arbeiter beklagten sich oft darüber, daß es schwer sei, junge Mädchen zu
						finden, die sich vom alten Aberglauben losgelöst hatten. Unter der
						studentischen Jugend war es leichter, eine Lebensgefährtin zu finden. Es gibt
						kaum ein Beispiel dafür, daß ein revolutionärer Intellektueller eine
						kirchengläubige Frau geheiratet hätte. Nicht, daß es in diesem Punkte
						irgendeine Regel gegeben hätte. So etwas wäre einfach mit den Sitten, den
						Ansichten und Gefühlen dieses Milieus unvereinbar gewesen. Koba stellt
						zweifellos eine seltene Ausnahme dar.
						
						Hier hat
						sich aus der Gegensätzlichkeit der Ansichten heraus kein Drama entwickelt.
						»Dieser innerlich so unruhige Mensch, der sich auf Schritt und Tritt von der
						zaristischen Polizei beobachtet fühlte, konnte nur in seinem ärmlichen Heim
						Liebe finden. Nur seine Frau, sein Kind und seine Mutter nahm er von der
						Geringschätzung aus, die er allen andern gegenüber zur Schau trug.« Das
						Familienidyll, das Iremaschwili zeichnet, könnte zu der
						Schlußfolgerung verführen, daß Koba von lauer Toleranz gegen die gewesen wäre,
						die ihm am nächsten standen. Das paßt aber wenig zur tyrannischen Natur dieses
						Mannes; was als Toleranz erscheint, ist in Wirklichkeit moralische
						Gleichgültigkeit gewesen. Koba suchte in seiner Frau nicht die Kameradin, die
						fähig wäre, seine Ideen oder zumindest seinen Ehrgeiz mit ihm zu teilen; eine
						ergebene und unterwürfige Ehegattin genügte ihm. Seinen Ansichten nach Marxist,
						war er seinem Gefühlsleben und seinen geistigen Bedürfnissen nach der Sohn des
						Osseten Beso aus Didi-Lilo. Er verlangte von seiner Frau nicht mehr als das,
						was sein Vater bei der stumm duldenden Keke gefunden hatte.
						
						Iremaschwilis
						Zeitangaben sind im allgemeinen nicht ganz einwandfrei, aber sie sind dort, wo
						es sich ums private Leben handelt, zuverlässiger als auf politischem Gebiet.
						Immerhin ruft das für die Eheschließung angegebene Datum, 1903, Zweifel hervor.
						Denn Koba wurde im April 1902 verhaftet und kam im Februar 1904 aus der
						Verbannung zurück. Möglich ist, daß die Heirat im Gefängnis stattgefunden hat;
						das kam nicht selten vor. Möglich ist aber auch, daß sie erst nach seiner
						Rückkehr aus der Verbannung vollzogen wurde, Anfang 1904. In diesem Falle bot
						die Eheschließung in der Kirche für den »Illegalen« sicherlich gewisse
						Schwierigkeiten, doch waren bei den primitiven Sitten jener Epoche besonders im
						Kaukasus die polizeilichen Hindernisse, die etwa auftauchen konnten, nicht
						unüberwindlich. Wenn Kobas Hochzeit nach der Rückkehr aus der Verbannung
						stattgefunden hat, dann wäre seine politische Passivität im Jahre 1904
						teilweise erklärt.
						
						Kobas Frau –
						von der wir nicht einmal den Namen wissen – starb, gewissen Informationen nach,
						im Jahre 1907 an Lungenentzündung. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Sossos
						schon keine Freunde mehr. »Seine heftigsten Angriffe richteten sich nunmehr
						gegen uns, seine ehemaligen Freunde«, klagt Iremaschwili. »Er griff uns auf
						jeder Versammlung, bei jeder Diskussion in der wüstesten und skrupellosesten
						Weise an und suchte überall Gift und Haß unter uns auszustreuen. Wenn er die
						Möglichkeit dazu gehabt hätte, hätte er uns mit Feuer und Schwert ausgerottet
						... Aber die überwältigende Mehrheit der georgischen Marxisten blieb mit uns.
						Das steigerte seine Wut nur noch mehr.« Die politische Entfremdung hinderte
						Iremaschwili nicht, Koba beim Tode seiner Frau einen Beileidsbesuch abzustatten
						– so stark war die georgische Tradition verwurzelt. »Er war
						sehr niedergeschlagen, doch empfing er mich in herzlicher Weise, wie in alten
						Tagen. Sein bleiches Gesicht spiegelte den Schmerz wider, den diesem harten
						Manne der Tod seiner treuen Lebensgefährtin verursacht hatte. Die Erschütterung
						seiner Gefühle... muß stark und anhaltend gewesen sein, denn er war unfähig,
						sie vor Außenstehenden zu verbergen.«
						
						Die
						Verstorbene wurde mit allen Gebräuchen des orthodoxen Ritus beigesetzt. Ihre
						Familie bestand darauf, und Koba widersetzte sich nicht. »Als der kleine
						Trauerzug am Friedhofseingang angelangt war«, erzählt Iremaschwili, »drückte
						mir Koba heftig die Hand, zeigte auf die Bahre und sagte: ›Sosso, dieses Wesen
						hat mein steinernes Herz weicher gemacht; sie ist tot, und mit ihr sind meine
						letzten warmen Gefühle gegenüber allen Menschenwesen gestorben.‹ Und, seine
						Rechte aufs Herz legend: ›Da drinnen ist es leer geworden, so unsagbar leer!‹«
						Solche Worte können theatralisch und unnatürlich scheinen, indes können sie
						durchaus wahrhaftig sein, nicht nur, weil es sich um einen noch jungen Mann
						handelt, der von tiefem Schmerz überwältigt ist – wir werden auch später noch
						bei Stalin diese Neigung zum übertriebenen Pathos finden, die bei verhärteten
						Naturen nicht gar so selten ist. Den unbeholfenen Stil, in dem er seine Gefühle
						ausdrückte, hatte er von den seminaristischen Übungen für Kanzelreden
						beibehalten.
						
						Seine
						verstorbene Frau hinterließ Koba einen zarten Jungen mit feinen Zügen. In den
						Jahren 1919 bis 1920 studierte er auf dem Tifliser Kollegium, an dem
						Iremaschwili damals Lehrer war. Bald darauf ließ ihn der Vater nach Moskau
						kommen. Im Kreml werden wir Jascha wiederfinden. Das ist alles, was wir von
						dieser Ehe wissen, die zeitlich (1903-1907) in die Periode der Ersten
						Revolution gehört. Dieses Zusammentreffen ist nicht zufällig; der Rhythmus des
						Privatlebens der Revolutionäre war eng verbunden mit dem Rhythmus der großen
						Ereignisse.
						
						»Von dem Tag
						an, an dem er sein Weib begrub«, betont Iremaschwili, »verlor er die letzte
						Spur menschlichen Fühlens. Sein Herz füllte sich mit jenem unsagbaren Haß, den
						schon der unerbittliche Vater in die Seele des Kindes gesenkt hatte. Mit Hilfe
						von Sarkasmen unterdrückte er jeden immer seltener auftretenden moralischen
						Impuls. Unnachgiebig gegen sich selbst, wurde er unnachgiebig allen anderen
						Menschen gegenüber.« So stand es um ihn, als die Periode der Reaktion im Lande
						einsetzte.
						
						Die ersten Massenstreiks in der zweiten Hälfte der
						neunziger Jahre hatten das Heraufkommen der Revolution angekündigt; doch hatte
						die Durchschnittszahl der Streikenden nicht einmal 50000 pro Jahr betragen.
						1905 stieg diese Zahl plötzlich auf zwei und dreiviertel Millionen an; 1906
						fiel sie auf eine Million; 1907 ging sie auf eine dreiviertel Million hinunter,
						diejenigen Streikenden inbegriffen, die an mehreren Streiks teilgenommen haben.
						Das ist das Zahlenbild, das die drei Revolutionsjahre bieten. Nie zuvor hatte
						die Welt solch eine Streikwelle gesehen! 1908 beginnen die Jahre der Reaktion,
						die Zahl der Streikenden fällt auf 174000, 1909 auf 64000, 1910 auf 50000. Aber
						während die Kampfkraft des Proletariats rapide sank, setzten die vom
						Proletariat erweckten Bauern ihre Offensive verstärkt fort. In den Monaten der
						ersten Duma nahm die Brandschatzung von Großgrundbesitzern besonders
						erheblichen Umfang an. Es folgte eine Welle von Soldatenunruhen. Nach der
						Niederschlagung der Meutereien von Sveaborg und Kronstadt im Juli 1906 faßte
						die Monarchie neuen Mut, führte die Ausnahmegerichte ein und fälschte mit Hilfe
						des Senats die Wahlgesetze. Das gewünschte Ergebnis erzielte sie dennoch nicht;
						die zweite Duma stellte sich als noch radikaler heraus als die erste.
						
						Im Februar
						1907 charakterisierte Lenin die politische Situation des Landes mit folgenden
						Worten: »Hemmungsloseste, schamloseste Willkür ... Die reaktionärsten Wahlgesetze
						Europas. Die revolutionärste Volksvertretungs-Körperschaft im rückständigsten
						aller Länder!« Und hier seine Schlußfolgerung: »Wir stehen vor einer neuen,
						noch viel gewaltigeren revolutionären Krise.« Diese Schlußfolgerung stellte
						sich als irrtümlich heraus. Die Revolution war noch stark genug, um sich
						innerhalb der Arena des zaristischen Pseudo-Parlamentarismus bemerkbar zu
						machen, aber sie war bereits gebrochen; ihre Zuckungen wurden schwach und
						schwächer.
						
						Die
						sozialdemokratische Partei machte einen ähnlichen Prozeß durch. Ihrer
						Mitgliederzahl nach wuchs sie ständig, aber ihr Einfluß auf die Massen ging
						zurück. Hundert Sozialdemokraten brachten nicht mehr so viel Arbeiter auf die
						Straße wie zehn Sozialdemokraten ein Jahr zuvor. Die verschiedenen Seiten der
						revolutionären Bewegung als eines einheitlichen historischen Prozesses und ganz
						allgemein als eines lebendigen Entwicklungsvorgangs sind ihrem Inhalt und ihrem
						Rhythmus nach weder einförmig noch harmonisch. Nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Kleinbürger wollten sich, indem sie links
						wählten, für ihre Niederlage am Zarismus rächen, aber zu einer neuen Erhebung
						waren sie nicht länger imstande. Ohne den Apparat der Sowjets und vom direkten
						Kontakt mit den Massen abgeschnitten, die bald völlig in Apathie verfielen,
						spürten die aktivsten Arbeiter die Notwendigkeit einer revolutionären Partei.
						So waren also der linke Umschwung der Duma und das Anwachsen der
						Sozialdemokratie diesmal nicht Symptome des Aufstiegs der Revolution, sondern
						ihres Niedergangs.
						
						Kein
						Zweifel, daß Lenin dies damals schon zugab; solange es aber nicht durch die
						Erfahrung endgültig bestätigt war, gründete er seine Politik weiterhin auf die
						Perspektive der Revolution. Das war die Grundregel dieses Strategen. »Die
						revolutionäre Sozialdemokratie«, schrieb er im Oktober 1906, »muß als erste den
						Weg des entschlossensten und direktesten Kampfes betreten und als letzte
						indirekte Kampfmittel anwenden.« Unter direkten Kampfmitteln verstand er
						Streiks, Kundgebungen, den Generalstreik, Zusammenstöße mit der Polizei, den
						Aufstand. Der indirekte Weg bedeutete die Ausnützung der legalen Möglichkeiten,
						mit Einschluß des Parlamentarismus, zur Sammlung der Kräfte. Diese Strategie
						barg unvermeidlicherweise die Gefahr in sich, daß Methoden des bewaffneten Kampfes
						noch in einem Augenblick angewendet wurden, wo die objektiven Bedingungen dafür
						nicht mehr vorhanden waren. Doch wog diese taktische Gefahr auf der Waage der
						revolutionären Partei unendlich leichter als die strategische Gefahr, außerhalb
						der Ereignisse zu bleiben und eine revolutionäre Situation ungenützt
						vorübergehen zu lassen.
						
						Der Fünfte
						Parteitag vom Mai 1907 in London ist wegen der außerordentlich hohen Zahl der
						Teilnehmer bemerkenswert; in der Halle einer »sozialistischen« Kirche waren 302
						Delegierte (ein Delegierter für 500 Parteimitglieder) mit vollem Stimmrecht
						versammelt, ungefähr 50 Delegierte mit beratender Stimme und eine große Anzahl
						Gäste. Unter den Delegierten waren 90 Bolschewiki und 85 Menschewiki. Die
						Delegation der Nationalitäten bildeten das »Zentrum« zwischen diesen beiden
						Flügeln. Auf dem vorhergehenden Parteitag waren Vertreter für insgesamt 13 000
						Bolschewiki und 18 000 Menschewiki (je ein Delegierter für 300
						Parteimitglieder) erschienen. In den zwölf Monaten zwischen dem Stockholmer
						Parteitag und dem von London war die russische Sektion der Partei von 31 000
						auf 77 000 Mitglieder angewachsen, das heißt, ihre
						Mitgliederzahl war um das Zweieinhalbfache gestiegen. Je schärfer der
						Fraktionskampf, um so höher wurden natürlich die Ziffern. Doch waren zweifellos
						während des ganzen verflossenen Jahres ständig fortgeschrittene Arbeiter der
						Partei beigetreten. Zugleich wuchs der linke Flügel verhältnismäßig schneller
						als die gegnerische Fraktion. In den Sowjets des Jahres 1905 hatten die Menschewiki
						die Oberhand gehabt, die Bolschewiki waren eine bescheidene Minderheit gewesen.
						Anfang 1908 waren beide Richtungen in Petersburg ungefähr gleich stark. In der
						Zeit während der ersten und der zweiten Duma bekamen die Bolschewiki immer mehr
						das Übergewicht; im Augenblick der zweiten Duma hatten sie schon die absolute
						Führung über die fortschrittlichen Arbeiter. Den angenommenen Resolutionen nach
						zu urteilen, war Stockholm ein menschewistischer Kongreß gewesen, London war
						ein bolschewistischer.
						
						Diese
						Verschiebung nach links innerhalb der Partei wurde von den Behörden aufmerksam
						verfolgt. Kurz vor dem Parteitag erklärte das Polizeiministerium den örtlichen
						Dienststellen: »Ihrer gegenwärtigen Haltung nach stellen die menschewistischen
						Gruppen keine so ernste Gefahr dar wie die bolschewistischen.« In einem der
						laufenden Berichte über die Vorgänge auf dem Parteitag, die dem Polizeiminister
						von einem seiner Auslandsagenten zugingen, heißt es: »Unter den Rednern, die in
						den Diskussionen einen extremistischen revolutionären Standpunkt vertreten,
						sind Stanislaw (Bolschewik), Trotzky, Pokrowski (Bolschewik), Tyszko (Polnische
						Sozialdemokratie); den opportunistischen Gesichtspunkt vertreten Martow und
						Plechanow (Führer der Menschewiki).« »Man kann deutlich beobachten«, fährt der
						Ochrana-Agent, nachdem er diese Einschätzung gegeben hat, fort, »daß die
						Sozialdemokratie eine Schwenkung zu revolutionären Kampfmethoden vornimmt ...
						Der Einfluß der Menschewiki war infolge der Duma gestiegen, er ging zurück, als
						sich die Machtlosigkeit der Duma herausstellte, und überließ das Feld von neuem
						den Bolschewiki, oder genauer gesagt den extremen revolutionären Strömungen.«
						In Wirklichkeit waren, wie schon gesagt, die inneren Verschiebungen im
						Proletariat viel komplizierter und auch viel widerspruchsvoller. Die
						fortgeschrittenste Schicht wanderte unter dem Einfluß der Erfahrungen nach
						links ab, die Massen, unter dem Einfluß der Niederlage, nach rechts; die
						Stickluft der Reaktion lagerte schon über dem Parteitag.
						»Unsere Revolution macht eine schwierige Zeit durch«, sagte Lenin auf der
						Sitzung vom 12. Mai. »Es bedarf all unserer Willenskraft, der ganzen Härte und
						Festigkeit einer im Kampf gestählten revolutionären Partei, um Zweifel nicht
						aufkommen zu lassen und um der Schwäche, der Gleichgültigkeit, der Neigung zur
						Fahnenflucht zu widerstehen.«
						
						»In London«,
						schreibt Stalins französischer Biograph, »hat Stalin zum erstenmal Trotzky
						gesehen. Aber letzterer hat wahrscheinlich keine Notiz von ihm genommen. Der
						Vorsitzende des Petersburger Sowjets ist nicht der Mann, der schnell
						Verbindungen anknüpft und sich mit jemandem einläßt, mit dem er keine echten
						geistigen Berührungspunkte besitzt.« Ob das nun richtig ist oder nicht,
						Tatsache ist, daß ich erst aus dem Buch Souvarines von der Anwesenheit Kobas
						auf dem Londoner Parteitag erfahren habe; später habe ich die Bestätigung dafür
						in den Tagungsprotokollen gefunden. Wie schon in Stockholm, hat Iwanowitsch
						auch am Londoner Parteitag nicht als einer der 302 Delegierten mit voll
						gültiger Stimme teilgenommen, sondern gehörte zu den 42 Delegierten mit
						beratender Stimme. Der Bolschewismus war in Georgien so schwach geblieben, daß
						Koba in Tiflis nicht die notwendigen 500 Stimmen zu mustern vermochte! »Selbst
						in Kobas und meiner Vaterstadt«, schreibt Iremaschwili, »gab es nicht einen
						einzigen Bolschewiken.« Das eindeutige Übergewicht des Menschewismus im
						Kaukasus wurde auf dem Parteitag von Kobas Rivalen Schaomyan, führendem
						kaukasischen Bolschewik und späterem Mitglied des Zentralkomitees, zugegeben.
						»Die kaukasischen Menschewiki«, klagte er, »benutzen ihre zahlenmäßige
						Überlegenheit und ihr offizielles Übergewicht im Kaukasus dazu, um mit allen
						Mitteln zu verhindern, daß Bolschewiki gewählt werden.« In einer vom selben
						Schaomyan und von Iwanowitsch unterzeichneten Erklärung lesen wir: »Die
						kaukasische menschewistische Organisation setzt sich fast ausschließlich aus
						dem Kleinbürgertum der Städte und Dörfer zusammen.« Von den 18 000
						Parteimitgliedern im Kaukasus waren nicht mehr als 6000 Arbeiter, auch von
						diesen waren die meisten Menschewiki.
						
						Die
						Zuerteilung einer beratenden Stimme an Iwanowitsch war von einem pikanten
						Zwischenfall begleitet. Als die Reihe an Lenin gekommen war, das Präsidium des
						Parteitags einzunehmen, schlug dieser vor, die Resolution der
						Mandatskommission, die empfahl, vier Delegierten, darunter Iwanowitsch, die
						beratende Stimme zuzuerkennen, ohne Diskussion anzunehmen.
						Der unermüdliche Martow schoß von seinem Sitz auf: »Ich verlange, daß man uns
						erklärt, an wen diese beratenden Stimmen gegeben werden. Wer sind diese Leute
						da, woher kommen sie?« Lenins Antwort: »Ich weiß es wirklich nicht, aber der
						Parteitag sollte der einstimmigen Meinung der Mandatsprüfungskommission
						Vertrauen schenken!« Höchstwahrscheinlich besaß Martow schon einige
						Informationen über den besonderen Charakter von Iwanowitschs Tätigkeit – wir
						werden gleich noch darauf kommen – und Lenin beeilte sich aus diesem Grunde,
						die drohende Gefahr abzuwenden, indem er die Einstimmigkeit der
						Mandatsprüfungskommission vorschützte. Jedenfalls konnte Martow sich erlauben,
						von »diesen Leuten da« als von Unbekannten zu sprechen – »wer sind sie, woher
						kommen sie« – und Lenin seinerseits beanstandete die Charakterisierung nicht,
						sondern bestätigte sie. Stalin war 1907 noch eine unbekannte Größe, nicht nur
						in der Partei überhaupt, sondern selbst unter den dreihundert
						Parteitagsdelegierten. Der Vorschlag der Mandatsprüfungskommission wurde mit
						einer erheblichen Zahl von Stimmenthaltungen angenommen.
						
						Wichtiger
						ist, daß Iwanowitsch nicht ein einziges Mal von der Möglichkeit Gebrauch
						machte, die ihm seine beratende Stimme bot. Der Parteitag dauerte fast drei
						Wochen; die Debatten waren umfassend und ausgedehnt. Aber Iwanowitsch figuriert
						nicht unter den zahlreichen Rednern. Nur seine Unterschrift erscheint unter
						zwei kurzen schriftlichen Erklärungen, die von den kaukasischen Bolschewiki zum
						Thema ihrer lokalen Konflikte mit den Menschewiki abgegeben werden, und auch
						nur an dritter Stelle. Sonst hinterließ Iwanowitschs Anwesenheit auf dem Kongreß
						keine Spuren. Um diese Tatsache in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, muß man
						die verborgenen Hintergründe des Mechanismus dieses Parteitags kennen. Jede der
						einzelnen Fraktionen und der nationalen Organisationen tagte in den Pausen
						zwischen den offiziellen Sitzungen getrennt voneinander, um die eigene Linie
						festzulegen und die eigenen Redner zu bestimmen. Die bolschewistische Fraktion
						hielt es also im Verlauf dreier Wochen voller Diskussionen, an denen alle
						einigermaßen bemerkenswerten Parteimitglieder teilnahmen, nicht für angebracht,
						Iwanowitsch mit einer einzigen Debattenrede zu beauftragen.
						
						Gegen Ende
						einer der letzten Sitzungen sprach ein junger Delegierter aus Petersburg. Alle
						Welt beeilte sich, den Saal zu verlassen, und niemand hörte
						zu. Der Redner sah sich gezwungen, auf einen Stuhl zu steigen, um die
						Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Trotz der mißgünstigen Umstände brachte er
						es fertig, eine immer größere Anzahl von Delegierten um sich zu versammeln und
						schließlich die Ruhe im Saal wiederherzustellen. Diese Ansprache machte aus dem
						Neuling ein Mitglied des Zentralkomitees. Iwanowitsch, zum Schweigen
						verurteilt, hat diesen Erfolg des jungen Unbekannten – Sinowjew war damals
						fünfundzwanzig Jahre alt – wahrscheinlich ohne Sympathie, aber auch neidlos
						hingenommen. Keine Seele kümmerte sich um den ehrgeizigen Kaukasier mit der
						unausgenützten beratenden Stimme! Der Bolschewik Gandurin, der zu den einfachen
						Tagungsteilnehmern gehörte, erzählt in seinen Lebenserinnerungen folgendes: »In
						den Pausen bildeten wir gewöhnlich einen Kreis um diesen oder jenen bedeutenden
						Führer und bombardierten ihn mit Fragen.« Gandurin erwähnt unter den
						Delegierten Litwinow, Woroschilow, Tomski und andere damals noch
						verhältnismäßig unbekannte Bolschewiki. Stalin erwähnt er nicht ein einziges
						Mal. Und das, obwohl er seine Memoiren 1931 geschrieben hat, als es schon viel
						schwieriger war, Stalin zu vergessen, als sich seiner zu erinnern.
						
						Unter den in
						das neue Zentralkomitee gewählten Mitgliedern waren die Bolschewiki Mjeschkowsky,
						Rozkow, Theodorewitsch und Nogin. Ersatzleute wurden Lenin, Bogdanow, Krassin,
						Sinowjew, Rykow, Schanzer, Sammer, Leitheisen, Taratuta und A. Smirnow. Die
						bekanntesten Fraktionsführer wurden zu Ersatzleuten gewählt, damit diejenigen,
						die in Rußland selbst tätig sein konnten, in den Vordergrund traten.
						Iwanowitsch war weder unter den Mitgliedern noch unter den Ersatzmännern. Es
						wäre unrecht, den Grund dafür in irgendwelchen Manövern der Menschewiki zu
						suchen: in Wirklichkeit bestimmte jede Fraktion selbst ihre Kandidaten. Einige
						der bolschewistischen Mitglieder des Zentralkomitees, wie Sinowjew, Rykow,
						Taratuta, A. Smirnow, stammten aus derselben Generation wie Iwanowitsch und
						waren sogar jünger als er.
						
						Auf der
						letzten Sitzung der bolschewistischen Fraktion, schon nach Schluß des
						Parteitags, wurde eine geheime bolschewistische Zentrale gewählt, »B. Z.«
						genannt, die sich aus fünfzehn Mitgliedern zusammensetzte. Unter ihnen befinden
						sich die Theoretiker und »Literaten« von damals und von später, als da sind:
						Lenin, Bogdanow, Pokrowski, Rozkow, Sinowjew, Kamenew sowie
						die bedeutendsten Organisatoren: Krassin, Rykow, Dubrowski, Nogin und andere.
						Auch diesem Kollegium hat Iwanowitsch nicht angehört. Die Bedeutung dieser
						Tatsache springt in die Augen. Ins Zentralkomitee konnte Stalin nicht
						aufgenommen werden, weil er nicht der ganzen Partei bekannt war, oder
						weil – nehmen wir das für einen Augenblick an – die kaukasischen Menschewiki
						ihm gegenüber besonders feindselig eingestellt waren. Wenn er aber Gewicht und
						Einfluß innerhalb seiner eigenen Fraktion gehabt hätte, wäre er zwangsläufig
						Mitglied der Bolschewistischen Zentrale geworden, die im Kaukasus notwendig
						einen autorisierten Vertreter brauchte. Iwanowitsch selbst wird von einem Sitz
						in der »B.Z.« geträumt haben – auch dort war für ihn kein Platz.
						
						Warum ist
						denn Koba überhaupt nach London gegangen? Als Delegierter konnte er die Hand
						nicht heben. Als Redner war er überflüssig. In den geschlossenen Sitzungen der
						bolschewistischen Fraktion spielte er offensichtlich überhaupt keine Rolle. Daß
						er nur gekommen wäre, um zu hören und zu sehen, ist unwahrscheinlich. Er muß
						andere Dinge vorgehabt haben. Was für welche?
						
						Der
						Parteitag endete am 19. Mai. Schon am 1. Juni forderte der Ministerpräsident
						Stolypin von der Duma den Ausschluß der 55 sozialdemokratischen Abgeordneten
						und die Ermächtigung zur Verhaftung von 16 unter ihnen. Ohne die Zustimmung der
						Duma abzuwarten, nahm die Polizei schon in der Nacht zum 2. Juni Verhaftungen
						vor. Am 3. Juni wurde die Duma für aufgelöst erklärt und im Anschluß an diesen
						Staatsstreich der Regierung ein neues Wahlgesetz erlassen. Gleichzeitig fanden
						von langer Hand vorbereitete Massenverhaftungen im ganzen Lande statt; vor
						allem Eisenbahner wurden eingekerkert, um einem Generalstreik vorzubeugen.
						Aufstandsversuche in der Schwarzmeerflotte und in einem Kiewer Regiment endeten
						mit einer Niederlage. Die Monarchie triumphierte. Wenn sich Stolypin im Spiegel
						betrachtete, sah er das Bildnis des Heiligen Georg, des sieghaften
						Drachentöters.
						
						Der offenbar
						gewordene Niedergang der Revolution rief eine Reihe neuer Krisen in der Partei
						hervor und auch in der bolschewistischen Fraktion, die in ihrer Mehrheit für
						den Boykott der Duma war. Es war dies eine fast instinktive Reaktion gegen die
						Gewaltmaßnahmen der Regierung, aber es war auch gleichzeitig ein Versuch, die
						eigene Schwäche mit einer radikalen Geste zu verdecken.
						Lenin hielt sich nach dem Parteitag zur Erholung in Finnland auf; dort
						überlegte er sich die Dinge von allen Seiten und entschied sich energisch gegen
						den Boykott. Seine Stellung in der eigenen Fraktion war nicht gerade einfach.
						Es ist nicht so leicht, aus der revolutionären Hochspannung wieder in die
						nüchterne Alltagsarbeit zurückzufinden. »Mit Ausnahme von Lenin und Rozkow«,
						schrieb Martow, »haben sich alle prominenten Vertreter der bolschewistischen
						Fraktion (Bogdanow, Kamenew, Lunatscharsky, Wolsky usw.) für den Boykott
						ausgesprochen.« Das Zitat ist deshalb von Interesse, weil es unter den
						»prominenten Vertretern« nicht nur Lunatscharsky, sondern auch den längst
						vergessenen Wolsky aufzählt, ohne Stalin zu nennen. Als die offizielle Moskauer
						Historische Zeitschrift 1924 Martows Bezeugung veröffentlichte, kam es der
						Redaktion nicht in den Sinn, danach zu fragen, wofür Stalin in jener Zeit
						gestimmt haben mochte.
						
						Koba war
						Boykottist. Außer direkten Zeugnissen über diesen Punkt, die allerdings von
						Menschewiki stammen, gibt es einen indirekten, noch überzeugenderen Beweis:
						keiner der offiziellen Geschichtsschreiber läßt auch nur ein einziges Wort über
						Stalins Stellungnahme während der Wahlen zur dritten Reichsduma verlauten. In
						einer kurz nach dem Staatsstreich erschienenen Broschüre »Über den Boykott der
						dritten Duma«, in der Lenin für die Wahlbeteiligung eintrat, wird der
						Boykottstandpunkt von Kamenew verteidigt. Es fiel Koba um so leichter, im
						Schatten zu bleiben, als 1907 niemand auf die Idee kam, von ihm einen Artikel
						zu verlangen. Der alte Bolschewik Pirjeiko erinnert daran, daß die
						Boykottanhänger »dem Genossen Lenin seinen Menschewismus vorwarfen«. Kein
						Zweifel, daß Koba selbst in engem Kreise nicht mit heftigen georgischen und
						russischen Ausdrücken gespart haben wird. Was Lenin betrifft, so verlangte er
						von seiner Fraktion die Bereitschaft und die Fähigkeit, der Wirklichkeit ins
						Antlitz zu schauen. »Der Boykott ist die offene Kriegserklärung an das alte
						Regime, der offene Angriff. Ohne breiten revolutionären Aufschwung ... kann von
						einem Erfolg des Boykotts keine Rede sein.« Sehr viel später, 1920, schrieb
						Lenin: »Schon der Boykott der Duma durch die Bolschewiki im Jahre 1906 ... war
						ein Fehler.« Es war ein Fehler, weil man nach der Dezemberniederlage unmöglich
						in Kürze wieder einen revolutionären Aufschwung erwarten konnte und weil es
						infolgedessen sinnlos war, auf die Dumatribüne zu verzichten, statt
						sich ihrer dazu zu bedienen, die revolutionären Reihen wieder auszurichten.
						
						Auf der
						Parteikonferenz, die im Juli in Finnland stattfand, waren alle neun
						bolschewistischen Delegierten, mit Ausnahme von Lenin, für den Boykott.
						Iwanowitsch nahm an der Konferenz nicht teil. Die Boykottanhänger hatten
						Bogdanow zum Berichterstatter bestimmt. Die Frage der Wahlbeteiligung wurde
						positiv entschieden, mit den vereinigten Stimmen, schreibt Dan, »der
						Menschewiki, der Bundisten, der Polen, eines Letten und eines Bolschewiken«.
						Der »eine Bolschewik« war Lenin. »In einem kleinen Landhause«, schildert die
						Krupskaja, »verteidigte Iljitsch hitzig seine Stellungnahme. Krassin kam auf
						dem Fahrrad an, blieb am Fenster stehen und hörte Iljitsch aufmerksam zu. Dann,
						ohne erst noch ins Haus zu kommen, entfernte er sich, in Gedanken versunken
						...« Krassin entfernte sich für zehn Jahre vom Fenster. Er kehrte erst nach der
						Oktoberrevolution in die Partei zurück, und auch dann nicht im ersten Elan.
						Nach und nach, unter dem Einfluß neuer Erfahrungen, gingen die Bolschewiki zu
						Lenins Ansicht über, jedoch nicht alle, wie wir gleich sehen werden. Auch Koba
						verzichtete stillschweigend auf die Boykottparole. Seine kaukasischen Reden und
						Artikel für den Boykott hat man gnädigerweise in Vergessenheit geraten lassen.
						
						Am
						1. November nahm die dritte Reichsduma ihre wenig glorreiche Tätigkeit
						auf. Die Großbourgeoisie und der Landadel hatten sich im voraus die Majorität
						gesichert. Eins der bittersten Kapitel in der Geschichte des »wiedererstandenen
						Rußlands« begann. Die Arbeiterorganisationen wurden zerschlagen, die
						revolutionäre Presse wurde unterdrückt, Sondergerichte wurden eingesetzt,
						Strafexpeditionen ausgesandt. Schlimmer noch als die Schläge von außen war die
						Reaktion im Innern der Partei. Eine allgemeine Fahnenflucht setzte ein. Die
						Intellektuellen ließen die Politik fallen und wandten sich den Wissenschaften
						zu, der Kunst, der Religion, erotischem Mystizismus. Eine Epidemie von
						Selbstmorden gab dem Bild die düsterste Farbe. Die Umwertung aller Werte
						richtete sich vor allem gegen die revolutionären Parteien und ihre Führer. Der
						schroffe Wechsel in der Geisteshaltung fand ein klares Spiegelbild in den
						Archiven der Polizeiabteilungen, in denen verdächtige Briefe zensuriert wurden;
						die interessantesten sind auf diese Weise der Geschichte erhalten geblieben.
						
						Aus
						Petersburg wurde damals an Lenin in Genf geschrieben:
						
						»Alles ist
						ruhig oben und unten, aber unten ist die Atmosphäre giftgeschwängert.
						Unter dem Schein der Ruhe reift ein Haß heran, der all die aufheulen machen
						wird, die eines Tages wohl oder übel werden heulen müssen. Vorläufig allerdings
						haben wir selbst noch darunter zu leiden ...« Ein gewisser Sacharow schreibt an
						seinen Freund in Odessa: »Man hat vollständig das Vertrauen zu denen verloren,
						die man bisher so hoch gestellt hatte ... Erinnern Sie sich, wie Trotzky Ende
						1905 noch in allem Ernst erklärte, daß die politische Revolution mit einem
						vollen Erfolg geendet habe und daß ihr die soziale Revolution auf dem Fuße
						folgen werde... Und die wunderbare Taktik des bewaffneten Aufstandes, die uns
						die Bolschewiki angepriesen haben ... Wahrhaftig, ich habe alles Vertrauen in
						unsere Führer und überhaupt in die sogenannten revolutionären Intellektuellen
						verloren.« Die Presse der Liberalen und Fortschrittlichen ihrerseits sparte
						nicht mit Sarkasmen an die Adresse der Unterlegenen.
						
						Der
						Briefwechsel mit den Ortsorganisationen, der in dem von neuem ins Ausland
						verlegten Zentralorgan der Partei veröffentlicht wurde, brachte den
						Verfallsprozeß der Revolution nicht weniger klar zum Ausdruck. »Da es hier keine
						Intellektuellen gibt, liegt die Bezirksorganisation seit einiger Zeit brach«,
						wird aus einem Industriestädtchen in Zentralrußland berichtet. »Unsere
						intellektuelle Mitgliedschaft schmilzt zusammen wie Schnee in der Sonne«, heißt
						es in einem Bericht aus dem Ural, »viele Elemente, die im Augenblick des
						Erfolgs zur Partei gestoßen waren, haben die Organisation jetzt wieder
						verlassen.« In diesem Ton sind alle Briefe gehalten. Selbst in den Zuchthäusern
						wenden sich die Helden und Heldinnen der Aufstände und Terrorakte voller
						Feindschaft von ihrem eigenen Gestern ab und gebrauchen Ausdrücke wie »Partei«,
						»Genosse«, »Sozialismus« nur noch ironisch.
						
						Aber nicht
						nur Intellektuelle ließen die Fahne im Stich, nicht nur Konjunkturritter,
						sondern auch viele der fortgeschrittensten Arbeiter, die Jahre hindurch Fleisch
						vom Fleische der Partei gewesen waren. »In den Parteikomitees da herrscht
						Leere, da ist die Wüste ...« meldet Woitinsky, der später von den Bolschewiki
						zu den Menschewiki überging. In den rückständigeren Schichten der
						Arbeiterklasse wurde einerseits die Anziehungskraft der Religion wieder
						stärker, andererseits griffen Alkoholismus und Kartenspiel um sich. In den
						oberen Schichten der Arbeiterklasse gaben jetzt die Individualisten den Ton an,
						die danach strebten, ihre persönliche Kultur und ihre Lebenshaltung über die
						ihrer Klassengenossen zu erheben. Auf diese dünne Schicht von
						Arbeiteraristokraten, die sich hauptsächlich aus Druckern und Metallarbeitern
						zusammensetzte, stützten sich die Menschewiki. Die Arbeiter aus der mittleren
						Schicht, die die Revolution gelehrt hatte, Zeitungen zu lesen, bewiesen größere
						Festigkeit. Aber, unter der Leitung von Intellektuellen ins politische Leben
						eingeführt und plötzlich auf sich selbst gestellt, fühlten sie sich paralysiert
						und warteten ab.
						
						Nicht alle
						desertierten. Doch sahen sich jene Revolutionäre, die den Kampf nicht aufgeben
						wollten, unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber. Eine illegale Organisation
						bedarf einer Umwelt, die mit ihr sympathisiert, und muß ihre Reserven ständig
						erneuern können. In der Atmosphäre einer allgemeinen Niedergeschlagenheit war
						es schwer, ja fast unmöglich, die einfachsten konspirativen Regeln zu
						beobachten und die revolutionären Verbindungen aufrechtzuerhalten. »Die
						illegale Arbeit klappte schlecht. Im Jahre 1909 wurden die Parteidruckereien in
						Rostow am Don, Moskau, Djuman, Petersburg ausgehoben ...« und »in Petersburg,
						Bialystock, Moskau wurden ganze Lager von geheimen Schriften beschlagnahmt und
						ebenso die Archive des Petersburger Zentralkomitees. Bei all diesen
						Verhaftungen verlor die Partei ihre besten Arbeiter.« So spricht, fast mit
						einem Unterton von Mißvergnügen, der Polizeigeneral im Ruhestand Spiridowitsch.
						
						»Wir haben
						fast keine Leute mehr«, schreibt die Krupskaja mit unsichtbarer Tinte Anfang
						1909 nach Odessa, »alle sind im Gefängnis oder in der Verbannung.« Es gelang
						der Polizei, den Brieftext sichtbar zu machen – und die Ziffer der
						Gefängnisinsassen zu erhöhen. Je mehr sich die revolutionären Reihen lichteten,
						desto mehr ging auch das Niveau der Parteikomitees zurück. Mangelnde Auswahl
						machte es den Geheimagenten der Polizei möglich, alle Stufen der illegalen
						Hierarchie zu erklettern. Der Provokateur brauchte nur mit den Fingern zu
						schnipsen, und der Revolutionär, der ihm bei seinem Aufstieg im Wege stand,
						wurde verhaftet. Versuche, die Organisation von zweifelhaften Elementen zu
						säubern, führten unmittelbar zu Massenverhaftungen. Es herrschte eine
						Atmosphäre des Mißtrauens und der gegenseitigen Verdächtigungen, die jede
						Initiative lähmte. Nach einer Reihe wohlüberlegter Verhaftungen war es dem
						Spitzel Kukuschkin Anfang 1910 gelungen, an die Spitze der Moskauer
						Organisation zu kommen. »Das Ideal der Ochrana ist erreicht«, schrieb ein
						Mitglied der Bewegung, »alle Organisationen des Moskauer
						Bezirks werden von Geheimagenten geführt.« In Petersburg war die Lage nicht
						viel besser. »Die Führung ist vernichtet, es scheint keine Möglichkeit zu
						bestehen, sie zu ersetzen, die Provokateure sind allmächtig, die Organisationen
						fallen zusammen.« 1909 bestanden noch fünf oder sechs aktive Organisationen in
						Rußland, bald verschwanden auch sie. Die Mitgliederzahl der Moskauer
						Bezirksorganisation betrug Ende 1908 fünfhundert Mann, Mitte des
						darauffolgenden Jahres war sie auf dreihundertfünfzig zurückgegangen, sechs
						Monate später fiel sie auf einhundertfünfzig; 1910 hatte die Organisation
						aufgehört zu existieren.
						
						Der
						ehemalige Dumaabgeordnete Samoilow erzählt, wie Anfang 1910 die Organisation
						von Iwanowo-Wossnessensk zusammenbrach, die bis dahin sehr aktiv gewesen war
						und großen Einfluß besessen hatte. Mit ihr verschwanden auch die
						Gewerkschaften. Hingegen traten nunmehr die »Schwarze Hundert«-Banden auf den
						Plan. In den Textilfabriken wurde nach und nach das Arbeitssystem wieder
						eingeführt, das vor der Revolution geherrscht hatte: niedrige Löhne, strenge
						Bußstrafen, strafweise Entlassungen und ähnliche Dinge. »Die Arbeiter
						schluckten alles schweigend hinunter.« Trotz alledem, die alte Ordnung völlig
						wieder aufzurichten, war nicht möglich. Lenin veröffentlichte im Ausland Briefe
						von Arbeitern, die, nachdem sie die neuerlichen Unterdrückungs- und
						Verfolgungsmaßnahmen der Fabrikbesitzer geschildert hatten, hinzufügten:
						»Geduld, 1905 kommt wieder!«
						
						Außer dem
						von oben, gab es auch einen Terror von unten. Noch lange sollten die
						konvulsivischen Zuckungen andauern, in denen die niedergeschlagene
						Aufstandsbewegung lag, und die sich in Form von isolierten Ausbrüchen,
						Partisanenaufständen und individuellen Terrorakten äußerten. Die Statistik des
						Terrors zeichnet mit äußerster Klarheit die Kurve der Revolution: 1905 wurden
						233 Menschen umgebracht, 768 im Jahre 1906, 1231 im Jahre 1907. Die Zahl der
						Verletzten wuchs nicht in gleichem Maße – die Terroristen lernten, besser zu
						zielen. 1907 erreichte die terroristische Welle ihren Höhepunkt. »Es gab Tage«,
						schreibt ein liberaler Beobachter, »wo zu einigen großen Terrorakten noch ein
						gutes Dutzend Attentate und Morde von geringerer Tragweite unter den kleineren
						Verwaltungsbeamten hinzukam ... Bombenwerkstätten gab es in allen Städten, oft
						wurden die unvorsichtigen Bombenhersteller selbst in die Luft gesprengt.« –
						Krassins Alchimie hatte sich »demokratisiert«!
						
						Im ganzen genommen ist die dreijährige Periode von
						1905 bis 1907 durch die Terrorakte ebenso beachtenswert wie durch die Streiks.
						Was ins Auge springt, ist der Gegensatz zwischen den beiden Zahlenreihen:
						während die Zahl der Streikenden von Jahr zu Jahr abnimmt, steigt die Zahl der
						Terrorakte in gleichem Tempo an. Der individuelle Terror wuchs in dem Maße, wie
						die Massenbewegung zurückging, das ist klar. Der Terror jedoch konnte nicht
						unbegrenzt anwachsen; auch hier mußte sich der von der Revolution gegebene
						Anstoß erschöpfen. Hatte es 1907 1231 Tote gegeben, so waren es 1908 nur noch
						ungefähr 400 und 100 im Jahre 1909. Der wieder steigende Prozentsatz von
						Verwundeten läßt darauf schließen, daß nicht mehr Leute mit Methode zur Waffe
						griffen, sondern nur noch unerfahrene Jugendliche.
						
						Im Kaukasus,
						wo die romantischen Überlieferungen von Straßenraub und Blutrache noch sehr
						lebendig waren, fand der Guerillakrieg unerschrockene Kämpfer in unbegrenzter
						Zahl. Über tausend Terrorakte aller Art wurden während der Revolutionsjahre im
						Kaukasus allein verzeichnet. Auch im Ural hatte die Tätigkeit der bewaffneten
						Banden (»Bojewiki«) unter bolschewistischer Leitung großen Umfang angenommen,
						ebenso in Polen unter dem Banner der Polnischen Sozialistischen Partei. Am 2.
						August 1906 wurden in den Straßen Warschaus und anderer polnischer Städte
						Dutzende von Polizisten und Soldaten getötet. Den Erklärungen ihrer Führer nach
						war der Zweck dieser Attacken, »den revolutionären Geist des Proletariats zu
						wecken«. Führer dieser Führer war Josef Pilsudski, zukünftiger »Befreier« und
						späterer Unterdrücker Polens. Lenin kommentierte die Warschauer Ereignisse
						folgendermaßen: »Wir raten allen Bojewiki-Gruppen unserer Partei, mit ihrer
						Untätigkeit Schluß zu machen und Guerilla-Operationen zu unternehmen ...« »Und
						diese Appelle der bolschewistischen Führer«, kommentiert seinerseits General
						Spiridowitsch, »verhallten nicht ungehört, trotz des Widerstandes des
						(menschewistischen) Zentralkomitees.«
						
						Geld ist der
						Nerv des Krieges – und des Bürgerkrieges; die Geldfrage spielte in dem Kampf
						der Partisanen gegen die Polizei eine große Rolle. Vor dem Verfassungserlaß vom
						Jahre 1905 war die revolutionäre Bewegung hauptsächlich von der liberalen
						Bourgeoisie und der fortschrittlichen Intelligenz finanziert worden. Das galt
						auch für die Bolschewiki, in denen die liberale Opposition damals nur etwas
						hitzigere revolutionäre Demokraten sah. Nachdem aber die Bourgeoisie ihre
						Hoffnungen auf die zukünftige Duma gesetzt hatte, begann
						sie, die Revolutionäre als ein Hindernis auf dem Wege zu einem Übereinkommen
						mit der Krone zu betrachten. Für die Finanzen der Revolution war dieser Frontwechsel
						ein schwerer Schlag. Aussperrungen und Arbeitslosigkeit stoppten auch den
						Zufluß von jenen Geldern, die bisher von den Arbeitern gekommen waren.
						Inzwischen hatten die revolutionären Organisationen große politische Apparate
						aufgebaut, mit eigenen Druckereien, Verlagen, Stäben von Propagandisten und
						schließlich den »Bojewiki«-Gruppen, die ständig mehr Waffen verlangten. Sich
						mit Gewalt in den Besitz von Geld zu bringen, das war unter diesen Umständen
						die einzige Möglichkeit, der Revolution weitere materielle Mittel zuzuführen.
						Wie fast immer, kam auch hier der Anstoß dazu von unten. Die ersten
						Expropriationen gingen noch sehr friedlich vor sich, oft erfolgte die
						»Expropriation« mit dem schweigenden Einverständnis der Angestellten des
						expropriierten Unternehmens. Da hat es z. B. eine Expropriation im Büro
						der Versicherungsgesellschaft »Nadeschda« (»Hoffnung«) gegeben, wo die
						Angestellten den Bojewiki, denen vor Aufregung die Knie schlotterten, zuriefen:
						»Nur keine Angst, Genossen!« Diese idyllische Periode dauerte aber nicht lange.
						Der Bourgeoisie nachfolgend, trennte sich die Berufsintelligenz mit Einschluß
						der Bankangestellten von der Revolution. Die Maßnahmen der Polizei wurden
						verschärft; die Zahl der Opfer auf beiden Seiten wuchs. Der Hilfe und der Sympathie
						beraubt, lösten sich die Kampfgruppen auf und verflüchtigten sich.
						
						Ein
						typisches Bild von der Demoralisierung einer der diszipliniertesten
						Kampfgruppen entwirft der bereits zitierte Samoilow, der von den
						Textilarbeitern des Iwanowo-Wossnessensker Bezirks in die Duma geschickt worden
						war. Die Gruppe, von der er erzählt, hatte ursprünglich »unter Aufsicht der
						Parteileitung« gehandelt und begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 zu
						»schwanken«. Als sie der Partei nur einen Teil des Geldbetrages übergeben
						wollte, den sie in einer Fabrik geraubt hatte (wobei der Kassierer getötet
						worden war), verweigerte das Parteikomitee die Annahme und rief den Bojewiki
						energisch die Parteidisziplin in Erinnerung. Doch war das schon zu spät, die
						Bojewiki hatten allen Halt verloren und sanken rapide auf die Stufe des
						»Banditentums im üblichen kriminellen Sinne« hinab. Ständig über große
						Geldsummen verfügend, begannen die Bojewiki ein ausschweifendes Leben zu führen
						und fielen eben dadurch oft der Polizei in die Hände. So
						nahm denn bald die ganze Kampfgruppenbewegung ein ruhmloses Ende. »Trotzdem muß
						anerkannt werden«, schreibt Samoilow, »daß es in ihren Reihen nicht wenig ...
						ehrlich der Sache der Revolution ergebene Genossen gab, mit Herzen rein wie
						Kristall.«
						
						Der ursprüngliche
						Sinn der Kampforganisationen war gewesen, den aufständischen Massen eine
						Führung zu geben, sie im Gebrauch der Waffen zu unterrichten und ihnen zu
						zeigen, wie man den Feind an den empfindlichsten Stellen treffen konnte. Der
						bedeutendste, wenn nicht überhaupt der einzige Theoretiker auf diesem Gebiet
						war Lenin. Nach der Niederwerfung des Dezemberaufstandes hieß das Problem: was
						soll aus den Kampfgruppen werden? Lenin brachte auf dem Stockholmer Parteitag
						eine Resolution ein, in der die Tätigkeit der Kampfgruppen als eine
						zwangsläufige Fortsetzung des Dezemberaufstandes charakterisiert wurde, die der
						Vorbereitung eines neuen Großkampfes gegen den Zarismus dienen sollte; die
						Resolution billigte die sogenannten Expropriationen »unter der Kontrolle der
						Partei«. Da aber ein Teil ihrer eigenen Leute nicht mit ihr einverstanden war,
						zogen die Bolschewiki diese Resolution wieder zurück. Mit einer Mehrheit von 64
						gegen vier Stimmen und bei zwanzig Stimmenthaltungen wurde die menschewistische
						Resolution angenommen, die die »Expropriation« von Privatpersonen und
						Privatunternehmen absolut untersagte und die die Beschlagnahme öffentlicher
						Gelder nur in solchen Fällen guthieß, wo in der betreffenden Ortschaft
						revolutionäre Machtorgane entstanden waren, das heißt, nur in direkter
						Verbindung mit einem Volksaufstand. Die vierundzwanzig Delegierten, die gegen
						diese Resolution stimmten oder sich der Stimme enthielten, bildeten die
						unversöhnliche leninistische Hälfte der bolschewistischen Fraktion.
						
						In einem
						ausführlichen gedruckten Bericht über den Stockholmer Parteitag vermeidet
						Lenin, diese Entschließung über die bewaffneten Aktionen zu erwähnen, mit der
						Begründung, daß er bei der Diskussion dieser Frage nicht anwesend war.
						»Außerdem hat diese Frage keine prinzipielle Bedeutung.« Es ist kaum
						anzunehmen, das Lenins Abwesenheit ein Zufall war: er wollte sich nicht die
						Hände binden. Ein Jahr später spielte sich dasselbe ab; auf dem Londoner
						Parteitag war Lenin zwar in seiner Eigenschaft als Vorsitzender gezwungen, den
						Debatten über die Enteignungen beizuwohnen, stimmte aber nicht mit ab, trotz
						der wütenden Protestrufe, die von den menschewistischen
						Bänken kamen. Die Londoner Resolution verbot kategorisch die Expropriationen
						und ordnete die Auflösung der »Kampforganisationen« der Partei an.
						
						Natürlich
						ging es bei dieser Frage nicht um abstrakte Moral. Alle Klassen und alle
						Parteien gehen an das Problem des Mordes nicht vom Standpunkt der biblischen
						Gebote aus heran, sondern im Hinblick auf die historischen Interessen, die sie
						vertreten. Als der Papst und seine Kardinäle die Waffen Francos segneten, hat
						keiner der konservativen Staatsmänner vorgeschlagen, sie wegen Aufforderung zum
						Mord ins Gefängnis zu schicken. Die Hüter der offiziellen Moral verdammen die
						Gewalt, sobald es sich um revolutionäre Gewalt handelt. Im Gegensatz dazu kann
						derjenige, der gegen die Klassenunterdrückung kämpft, nicht anders, als die
						Revolution gutheißen. Wer die Revolution gutheißt, billigt auch den
						Bürgerkrieg. Schließlich ist »der Guerillakrieg eine unvermeidliche Form des
						Kampfes ... wenn zwischen den großen Schlachten eines Bürgerkriegs mehr oder
						weniger lange Pausen eintreten« (Lenin). Von den allgemeinen Prinzipien des
						Klassenkampfes aus gesehen, ist dies alles vollkommen selbstverständlich. Meinungsverschiedenheiten
						darüber entstanden erst, als es sich um die Einschätzung der konkreten
						historischen Umstände handelte. Sind zwei große Kampfhandlungen im Bürgerkrieg
						nur durch ein Intervall von zwei oder drei Monaten voneinander getrennt, so
						wird die Pause mit Handstreichen gegen den Feind ausgefüllt sein. Erstreckt
						sich die »Lücke« aber über mehrere Jahre, dann hört der Guerillakrieg auf, die
						Vorbereitung einer neuen Kampfperiode zu sein, und ist kaum mehr als ein die
						Niederlage überdauerndes krampfartiges Zucken. Es ist gewiß nicht leicht, mit
						Genauigkeit zu bestimmen, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
						
						Die Frage
						der Enteignungen war mit der des Wahlboykotts eng verbunden. Eine
						repräsentative Körperschaft kann man nur dann boykottieren, wenn die
						Massenbewegung schon stark genug ist, um sie hinwegzufegen oder einfach über
						sie hinauszugehen. Wenn die Massenbewegung aber im Rückzug begriffen ist,
						verliert die Boykott-Taktik allen revolutionären Sinn. Lenin hat das besser
						begriffen und erklärt als irgendein anderer. Schon 1906 war er gegen den
						Boykott der Duma. Nach dem Staatsstreich vom 3. Juni 1907 führte er einen
						entschiedenen Kampf gegen die Boykottisten, eben weil nach der Flut die Ebbe
						eingetreten war. Es war klar, daß nunmehr, wo es sich darum
						handelte, die Arena des zaristischen »Parlamentarismus« dazu zu benützen, den
						Boden für eine neue Mobilmachung der Massen vorzubereiten, der Guerillakrieg
						reiner Anarchismus geworden war. Im Feuer des Bürgerkrieges hatte die
						Guerillatätigkeit die Bewegung der Massen angefacht und erweitert, in der
						Periode der Reaktion versuchte sie, die Massenbewegung zu ersetzen, führte in
						der Tat aber nur dazu, die Partei bloßzustellen und ihren Verfall zu
						beschleunigen. Olminsky, einer der schätzenswertesten Kampfgefährten Lenins,
						schrieb, aus der Sowjetzeit heraus die damalige Periode der Reaktion kritisch
						beleuchtend: »Zahlreiche ausgezeichnete junge Genossen sind dem Galgen zum
						Opfer gefallen, andere sind völlig verkommen, viele haben den Glauben an die
						Revolution verloren. Und die Öffentlichkeit stellte schließlich die
						Revolutionäre mit gewöhnlichen Banditen auf die gleiche Stufe. Als später die
						revolutionäre Arbeiterbewegung von neuem zu erwachen begann, erfolgte das
						Wiederaufleben dort am langsamsten, wo die ›Ex‹ am zahlreichsten gewesen waren.
						(Ich denke beispielsweise an Baku und Saratow.)« Merken wir uns, daß Baku
						besonders erwähnt wird.
						
						Die
						Gesamtsumme der revolutionären Aktivität Kobas in den Jahren der ersten
						Revolution scheint so niedrig, daß man sich nolens volens fragt: war das alles?
						In dem Wirbel der Ereignisse, die an ihm vorüberfluteten, muß Koba
						unzweifelhaft nach Möglichkeiten gesucht haben, die ihm Gelegenheit boten zu
						zeigen, was er wert sei. Daß Koba an Terrorakten und Expropriationen beteiligt war,
						steht fest. Es ist aber nicht einfach, die Art dieser Beteiligung zu bestimmen.
						
						»Der
						Inspirator und oberste Leiter ... der Kampfgruppen«, schreibt Spiridowitsch,
						»war Lenin selbst; zuverlässige Freunde standen ihm dabei zur Seite.« Wer waren
						sie? Der ehemalige Bolschewik Alexinsky, der sich nach Kriegsausbruch in
						Enthüllungen über den Bolschewismus spezialisierte, schrieb in der
						Auslandspresse, im Schoße des Zentralkomitees bestände noch »ein Sonderkomitee,
						das nicht nur vor den Augen der Polizei, sondern auch vor denen der
						Parteimitglieder selbst verborgen gehalten wird. Dieses kleine Komitee setzt
						sich aus Lenin, Krassin und einer dritten Person zusammen ... und befaßt sich
						besonders mit den Parteifinanzen«. Was für Alexinsky die Organisierung von Expropriationen
						bedeutete. Die ungenannte dritte »Person« war der Naturwissenschaftler, Arzt,
						Theoretiker der politischen Ökonomie und Philosoph
						Bogdanow, den wir schon kennen. Alexinsky hätte keinen Grund gehabt, über eine
						Teilnahme Stalins an den Operationen der Kampfgruppen zu schweigen. Wenn er
						darüber nichts sagt, so heißt das, daß er darüber nichts weiß. Alexinsky hatte
						in jenen Jahren nicht nur dem bolschewistischen Zentralkomitee nahegestanden,
						sondern war auch mit Stalin zusammengetroffen. Im allgemeinen sagt der dunkle
						Ehrenmann mehr, als er weiß.
						
						Von Krassin
						heißt es in den Anmerkungen zu Lenins Gesammelten Werken: »(Er) leitete das
						Büro für die Kampforganisationen beim Zentralkomitee.« Die Krupskaja ihrerseits
						schreibt: »Die Parteimitglieder kennen jetzt die bedeutende Arbeit, die Krassin
						zur Zeit der Revolution von 1905 leistete, um die Bojewiki mit Waffen zu
						versorgen, die Herstellung von Sprengstoff zu überwachen und so weiter. Das
						alles wurde auf konspirative Weise getan und nicht an die große Glocke gehängt,
						aber ein gewaltiges Maß von Energie wurde darauf verwendet. Niemand kannte
						diese Arbeit Krassins besser als Wladimir Iljitsch, und er hat von da an
						Krassin immer sehr hoch geschätzt.« Woitinsky, ein während der ersten
						Revolution sehr bekannt gewordener Bolschewik, schreibt: »Ich habe den Eindruck
						gehabt, daß Nikitsch (Krassin) der einzige Mann in der bolschewistischen
						Fraktion war, dem Lenin mit echtem Respekt und vollem Vertrauen begegnete.«
						Zwar stimmt es, daß Krassin seine Tätigkeit vor allem auf Petersburg
						konzentrierte. Wenn Koba aber im Kaukasus mit Operationen der gleichen Art
						beschäftigt gewesen wäre, so müßten das Krassin, Lenin und die Krupskaja gewußt
						haben. Die Krupskaja, die, um ihre Loyalität zu beweisen, Stalins Namen so oft
						wie möglich zu nennen sucht, sagt kein Wort über seine Rolle in den
						Kampforganisationen der Partei.
						
						Am 3. Juli
						1938 berichtete die Moskauer »Prawda« recht unerwarteterweise, daß »der
						beispiellos mächtige revolutionäre Aufschwung im Kaukasus« im Jahre 1905 verbunden
						war mit »der Führung der kämpferischsten Organisationen der Partei, die dort
						zum erstenmal direkt vom Genossen Stalin geschaffen worden sind«. Doch bezieht
						sich diese völlig vereinzelt dastehende Erwähnung einer Teilnahme Stalins an
						den »kämpferischen Organisationen« auf Anfang 1905, auf eine Zeit also, wo die
						Frage der Expropriationen noch nicht aufgetaucht war; außerdem sagt sie nichts
						über Kobas tatsächliche Rolle. Schließlich ist sie überhaupt äußerst
						zweifelhaft, denn bolschewistische Organisationen entstanden
						in Tiflis erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1905.
						
						Sehen wir
						zu, was Iremaschwili darüber zu sagen hat. Mit tiefem Abscheu von den »Ex« und
						den Terrorakten überhaupt sprechend, erklärt er: »Koba war der Anstifter dieser
						Verbrechen, die von den Bolschewiki in Georgien begangen worden sind und die
						der Reaktion die Bälle zuspielten.« Nach dem Tode seiner Frau, als Koba seine
						»letzten warmen Gefühle allen Menschenwesen gegenüber« verloren hatte, wurde er
						»ein fanatischer Verteidiger und Organisator ... des verabscheuungswürdigen
						systematischen Mordes an Fürsten, Priestern und Bürgern«. Nun haben wir schon
						Gelegenheit gehabt zu bemerken, daß die Bekundungen Iremaschwilis um so
						unzuverlässiger werden, je weniger sie das private und je mehr sie das politische
						Gebiet betreffen und je mehr sie sich von der Zeit der Kindheit entfernen und
						sich dem reiferen Alter nähern. Das politische Band zwischen den beiden
						Jugendfreunden war mit dem Beginn der ersten Revolution zerrissen. Es war
						reiner Zufall, daß Iremaschwili am 17. Oktober, dem Tag, an dem das
						Verfassungsmanifest veröffentlicht wurde, Koba in Tiflis von einer gußeisernen
						Laterne aus eine Ansprache halten gesehen hatte, nur gesehen, nicht gehört – an
						diesem Tage erkletterte alle Welt die Laternenpfähle. Auch konnte Iremaschwili
						als Menschewik von Koba als Terroristen nur aus zweiter oder dritter Hand
						wissen. Seine Aussagen müssen also mit Vorsicht aufgenommen werden. Zwei
						Beispiele wollen wir anführen: die bekannte Expropriation von Tiflis im Jahre 1907,
						die wir später behandeln werden, und die Ermordung des georgischen
						Nationalschriftstellers, des Prinzen Tschawtschawadse. Über die Expropriation,
						die er irrtümlicherweise in das Jahr 1905 verlegt, bemerkt Iremaschwili: »Auch
						bei dieser Gelegenheit gelang es Koba wieder, die Polizei zu täuschen; sie
						hatte nicht einmal genügend Beweismaterial in der Hand, um darauf zu kommen,
						daß er der Anstifter dieses grausamen Attentats gewesen war. Doch aus der
						Sozialdemokratischen Partei Georgiens wurde Koba diesmal offiziell
						ausgeschlossen.« Für die Teilnahme Stalins an der Ermordung des Prinzen
						Tschawtschawadse bringt Iremaschwili seinerseits kein Beweismaterial, sondern
						beschränkt sich auf die nichtssagende Bemerkung: »Indirekt trat Koba auch für
						den Mord ein; dieser haßerfüllte Hetzer war der Anstifter zu allen Verbrechen.«
						Iremaschwilis Erinnerungen interessieren uns hier nur insoweit, als sie für den Ruf bezeichnend sind, den sich Koba inzwischen bei
						seinen politischen Gegnern erworben hatte.
						
						Der gut
						informierte Verfasser eines in einer deutschen Zeitung erschienenen Artikels
						(Mannheimer »Volksstimme« vom 2. September 1932), wahrscheinlich ein
						georgischer Menschewik, weist darauf hin, daß sowohl Freunde wie Feinde Kobas
						terroristische Abenteuer stark übertrieben haben. »Es ist richtig, daß Stalin
						in hohem Maße die Fähigkeit und auch die Neigung dazu besaß, Attentate dieser
						Art zu organisieren ... Jedoch beschränkte er sich meistens darauf, die Rolle
						der treibenden Kraft, des Organisators und Leiters, zu spielen, ohne direkt
						daran teilzunehmen.« Es entspricht also durchaus nicht den Tatsachen, wenn
						gewisse Biographen ihn als »mit Bomben und Revolvern herumlaufend und ständig
						in die gefährlichsten Abenteuergeschichten verwickelt« schildern. Auch die
						Darstellung, die von der direkten Teilnahme Kobas an der Ermordung des Generals
						Griatznow, des Militärdiktators von Tiflis, am 17. Januar 1906, gegeben worden
						ist, scheint reine Erfindung zu sein. »Diese Handlung wurde auf Grund eines
						Beschlusses der Sozialdemokratischen Partei Georgiens (Menschewiki) von einer
						für diesen Zweck besonders zusammengestellten Terrorgruppe ausgeführt. Stalin
						hatte wie alle anderen Bolschewiki in Georgien überhaupt keinen Einfluß und hat
						weder direkt noch indirekt mit dieser Angelegenheit etwas zu tun gehabt.« Die
						Aussage dieses anonymen Verfassers verdient alle Beachtung. Leider ist ihre
						positive Seite recht unbedeutend: nachdem er Stalin »die Fähigkeit und die
						Neigung« zu Expropriationen und Attentaten zugeschrieben hat, versäumt der
						Verfasser, diese Charakteristiken auf irgendwelche Daten zu stützen.
						
						Ein alter
						georgischer bolschewistischer Terrorist, Kote Tsindsadse, ein ernsthafter und
						zuverlässiger Zeuge, erzählt, daß Stalin, empört über die Langsamkeit, mit der
						die Menschewiki die Vollstreckung des Todesurteils an General Griatznow
						vorbereiteten, ihm vorschlug, für diese Sache eine Gruppe aus den eigenen
						Reihen zu bilden. Inzwischen war es den Menschewiki aber gelungen, diese
						Aufgabe selbst zu lösen. Weiter spricht Tsindsadse davon, wie ihm im Jahre 1906
						die Idee kam, eine Kampfgruppe aus Bolschewiki zu bilden, um die Staatsbanken
						auszuplündern. »Unsere führenden Genossen, besonders Koba-Stalin, befürworteten
						meine Initiative.« Das ist von doppeltem Interesse. Erstens einmal sagt
						Tsindsadse, daß er Koba für einen »führenden Genossen«
						hielt, das heißt für einen örtlichen Führer; zweitens erlaubt es die
						Schlußfolgerung, daß Koba auf dem Gebiete des Terrors nicht weiter ging, als
						die Anregungen, die von anderen kamen, gutzuheißen. (Vermerken wir, daß Kote
						Tsindsadse 1931 in der Verbannung umgekommen ist, in die er von dem »führenden
						Genossen Koba-Stalin« geschickt worden war.)
						
						Gegen den
						offenen Widerstand des menschewistischen Zentralkomitees, aber mit der aktiven
						Unterstützung Lenins, gelang es den Kampfgruppen der Partei, im November 1906
						in Tammerfors eine eigene Konferenz abzuhalten. Unter den führenden Teilnehmern
						an dieser Konferenz finden wir die Namen derjenigen Revolutionäre, die später
						in der Partei eine hervorragende oder bemerkenswerte Rolle spielten, wie
						Krassin, Jaroslawski, Semljatschka, Lelajanz, Trillisser und andere. Stalin ist
						nicht unter ihnen, obwohl er sich zu jener Zeit in Tiflis in Freiheit befand.
						Man kann ihm zugute halten, daß er sich aus konspirativen Erwägungen heraus nicht
						auf die Konferenz begeben hat. Immerhin, Krassin, der in der Tat an der Spitze
						der Kampforganisationen stand und der infolge seines Rufes als bedeutender
						Ingenieur ein weitaus größeres Risiko als sonst irgend jemand einging, spielte
						auf der Konferenz eine führende Rolle.
						
						Am 18. März
						1918, das heißt also einige Monate nach Errichtung der Sowjetmacht, schrieb der
						Führer der Menschewiki, Julius Martow, in einer Moskauer Zeitung: »Daß die
						kaukasischen Bolschewiki bei allen möglichen dreisten Unternehmungen in der Art
						Expropriationen ihre Hand im Spiel hatten, sollte doch gerade diesem Bürger
						Stalin sehr gut bekannt sein, der seinerzeit wegen einer Expropriationsaffäre
						aus der Partei ausgeschlossen wurde.« Stalin hielt es für notwendig, Martow vor
						ein Revolutionstribunal zu zitieren: »Ich habe niemals«, sagte er in dem mit
						Zuhörern angefüllten Saal, »vor einem Parteigericht gestanden und bin niemals
						ausgeschlossen worden. Das ist eine unverschämte Verleumdung.« Aber über die
						Expropriationen sagte Stalin nichts. »Anschuldigungen, wie sie hier von Martow
						vorgebracht werden, kann man nur erheben, wenn man Beweise in der Hand hat. Es
						ist unehrenhaft, jemand mit Schmutz zu bewerfen, sich dabei nur auf Gerüchte
						stützend und ohne Tatsachen zu bringen.« Was war der eigentliche politische
						Grund dafür, daß Stalin sich so aufregte? Daß die Bolschewiki als solche an
						Enteignungsaktionen teilgenommen hatten, war kein Geheimnis: Lenin hatte die
						Expropriationen öffentlich in der Presse verteidigt. Andererseits
						konnte der Ausschluß aus einer menschewistischen Organisation von einem
						Bolschewiken schwerlich als unehrenhaft angesehen werden, noch dazu zehn Jahre
						später. Stalin konnte also keinen Grund haben, Martows »Anschuldigungen« zu
						leugnen, wenn sie der Wirklichkeit entsprachen. Einen so klugen und gewandten
						Gegner vor die Schranken des Gerichts zu fordern, hätte obendrein heißen
						können, ihm einen Sieg zu sichern. Bedeutet das, daß Martows Anklagen falsch
						waren? Von seinem Publizistentemperament hingerissen und getrieben vom Haß
						gegen die Bolschewiki, hat Martow mehr als einmal die Grenzen überschritten, in
						denen ihn die unbestrittene Vornehmheit seines Charakters hätte halten müssen.
						Hier aber handelte es sich um ein Verfahren vor dem Revolutionstribunal. Martow
						hielt kategorisch an seinen Aussagen fest. Er verlangte die Einvernahme von
						Zeugen: »Da ist zuerst einmal Isidor Ramischwili, eine der Öffentlichkeit
						wohlbekannte georgische sozialdemokratische Gestalt, der Vorsitzender des
						revolutionären Tribunals war, das die Beteiligung Stalins an der Expropriation
						auf dem Dampfschiff ›Nikolaus der Erste‹ in Baku festgestellt hat; ferner Noah
						Jordania, der Bolschewik Schaomyan und andere Mitglieder des transkaukasischen
						Distriktkomitees in den Jahren 1907 und 1908. Zweitens ist da eine Gruppe von
						Zeugen mit Gukowsky an der Spitze, dem gegenwärtigen Volkskommissar für
						Finanzen, unter dessen Vorsitz der Mordversuch an dem Arbeiter Jarinow
						untersucht wurde; Jarinow hatte vor der Parteiorganisation das Komitee und
						dessen Leiter Stalin angeklagt, an Expropriationen teilgenommen zu haben.« In
						seiner Erwiderung ging Stalin mit keinem Wort weder auf die
						Dampferexpropriation noch auf den Anschlag gegen Jarinow ein, behauptete aber
						nach wie vor: »Ich bin nie vor das Parteigericht gestellt worden. Wenn Martow
						das sagt, ist er ein unverschämter Verleumder.«
						
						In strikt
						juristischem Sinne war ein Ausschluß von »Expropriateuren« gar nicht möglich,
						traten diese doch klugerweise stets vorher aus der Partei aus. Dagegen konnte
						entschieden werden, sie später nicht wieder in die Partei aufzunehmen. Ein
						tatsächlicher Ausschluß konnte nur denjenigen drohen, die eine Expropriation
						geleitet hatten, dabei aber Mitglieder der Partei geblieben waren. Direkte
						Beweise gab es gegen Koba offensichtlich nicht. Deshalb dürfte Martow wohl bis
						zu einem gewissen Grade im Recht gewesen sein, wenn er behauptete, es sei so gewesen, daß Stalin »im Prinzip« ausgeschlossen worden wäre.
						Aber Stalin hatte ebenfalls recht: persönlich war er nicht vor dem
						Parteigericht erschienen. Es war für das Gericht nicht leicht, sich in dieser
						ganzen Angelegenheit zurechtzufinden, besonders da keine Zeugen anwesend waren.
						Stalin widersetzte sich der Vorladung von Zeugen, indem er sich auf die
						Schwierigkeit und Unsicherheit der Verkehrs Verbindungen mit dem Kaukasus in
						jenen kritischen Tagen berief. Das Revolutionstribunal ging der Sache nicht auf
						den Grund, sondern erklärte, daß Pressevergehen nicht zu seinem Ressort
						gehörten, und erteilte Martow eine »öffentliche Rüge« wegen Beleidigung der
						Sowjetregierung (der »Regierung Lenin-Trotzky«, wie es in dem Bericht einer
						menschewistischen Zeitung über den Prozeß ironisch heißt). Beunruhigend bleibt
						die Erwähnung des Mordversuchs an dem Arbeiter Jarinow, der gegen die
						Expropriationen protestiert hatte. Näheres ist über diese Episode nicht
						bekannt, doch läßt sie für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
						
						Der
						Menschewik Dan schrieb 1925, daß solche »Expropriateure« wie Ordschonikidse und
						Stalin im Kaukasus die bolschewistische Fraktion mit Geldmitteln versehen
						hätten, doch handelt es sich hier nur um eine Wiederholung dessen, was schon
						Martow gesagt hatte, und stammt zweifellos aus derselben Quelle. Keiner hat
						sich bemüht, Tatsachen beizubringen. Indes hat es nicht an Versuchen gefehlt,
						den Schleier über dieser romantischen Periode im Leben Kobas zu lüften. Mit der
						ihm eigenen unterwürfigen Dreistigkeit hat Emil Ludwig im Kreml Stalin gebeten,
						ihm »irgend etwas« von seinen Jugendabenteuern zu erzählen, zum Beispiel einen
						Banküberfall. An Stelle einer Antwort überreichte Stalin seinem wißbegierigen
						Gesprächspartner eine kleine Broschüre mit seiner Biographie, in der »alles«
						gesagt sei – sie enthielt kein Wort über Banküberfälle.
						
						Stalin
						selbst hat nie und nirgendwo auch nur ein einziges Wort über seine Abenteuer in
						der Bojewikenzeit geäußert. Warum, ist schwer zu sagen. Durch autobiographische
						Bescheidenheit hat er sich bisher nicht ausgezeichnet. Will er etwas nicht
						selbst sagen, befiehlt er anderen, es zu sagen. Vom Augenblick seines
						schwindelerregenden Aufstiegs an mag er sich durch »Prestige«rücksichten haben
						leiten lassen. Doch in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution waren ihm
						solche Rücksichten noch gänzlich fremd. Von Seiten der alten Bojewiki ist
						nichts über diesen Punkt in die Presse gedrungen, obwohl doch Stalin in jenen Jahren die Veröffentlichung von Lebenserinnerungen
						weder kontrollieren noch sonst irgendwie beeinflussen konnte. Sein Ruf als
						Organisator von Terroraktionen wird von keinem Dokument bestätigt. Weder von
						den Suchlisten der Polizei noch von den Aussagen der Verräter und Überläufer.
						Sicher, Stalin hält seine Hand auf den Polizeiarchiven. Doch wenn diese Archive
						irgendwelche konkreten Angaben über Dschugaschwili als »Expropriateur«
						enthalten würden, so wären die Strafen, zu denen er später verurteilt worden
						ist, unvergleichlich strenger ausgefallen.
						
						Von allen
						Hypothesen besitzt nur eine Wahrscheinlichkeit. »Stalin erwähnt nicht und
						erlaubt anderen nicht, Terrorakte zu erwähnen, in deren Zusammenhang sein Name
						in dieser oder jener Art und Weise genannt worden ist«, schreibt Souvarine,
						»denn es würde sich zweifellos herausstellen, daß diese Handlungen von anderen
						ausgeführt worden sind und er sie nur aus der Ferne geleitet hat.« Gleichzeitig
						ist es durchaus möglich – und mit Kobas Charakter vereinbar – daß er sich
						überall, wo ihm das angebracht schien, hier etwas verschweigend, dort etwas
						übertreibend, in vorsichtiger Form Verdienste zuschrieb, die er gar nicht
						hatte. Irgend etwas nachzuprüfen war unter den konspirativen Bedingungen
						unmöglich. Daher später sein mangelndes Interesse, Einzelheiten aufzuhellen.
						Auf der anderen Seite erwähnen ihn die wirklichen Teilnehmer an den
						Expropriationen und die, die ihn nahe kannten, in ihren Erinnerungen lediglich
						deshalb nicht, weil sie nichts über ihn zu sagen haben. Geschlagen haben sich
						andere – Stalin hat aus sicherer Entfernung kontrolliert.
						
						Über den
						Londoner Parteitag hatte Iwanowitsch in seinem illegalen Bakuer Blatt
						geschrieben: »Von den menschewistischen Resolutionen wurde nur die Resolution
						über die Tätigkeit der Partisanen angenommen und auch das nur durch Zufall; die
						Bolschewiki wichen diesmal dem Kampf aus, oder besser, wollten ihn nicht auf
						die Spitze treiben, einfach deshalb, damit die Menschewiki wenigstens auch
						einmal einen Grund zur Freude hatten.«
						
						Eine
						reichlich alberne Erklärung: den Menschewiki »auch einmal einen Grund zur
						Freude« zu verschaffen, solche philanthropischen Bemühungen figurierten nicht
						unter Lenins politischen Gepflogenheiten. In Wirklichkeit waren die Bolschewiki
						»dem Kampf ausgewichen«, weil sie in dieser Frage nicht nur die Menschewiki
						gegen sich hatten, sondern auch die Bundisten und die
						Letten und vor allem die ihnen am nächsten stehenden Polen. Darüber hinaus gab
						es unter den Bolschewiki selbst heftige Meinungsverschiedenheiten über die
						Frage der Expropriationen. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß der Verfasser
						einfach seinen Mund zu voll genommen hätte, ohne dabei einen besonderen Zweck
						im Auge zu haben. Er hielt es vielmehr für notwendig, vor den »Bojewiki« diese
						Entscheidung des Parteitags, die ihrer Tätigkeit Grenzen zog, herabzusetzen.
						Das macht seine Erklärung natürlich nicht weniger sinnlos; aber so geht Stalin
						vor: immer, wenn er glaubt, sein Ziel verschleiern zu müssen, zögert er nicht,
						zu den unlautersten Tricks zu greifen. Und nicht selten erreichte er gerade
						durch die unverhüllte Oberflächlichkeit seiner Argumente den gestellten Zweck,
						von der Notwendigkeit, nach tiefer liegenden Motiven zu suchen, befreit zu
						sein. Ein ernsthaftes Parteimitglied konnte nur resigniert die Achseln zucken,
						wenn es vernahm, daß Lenin dem Kampf ausgewichen sei, um den Menschewiki auch
						einmal eine Freude zu machen. Der einfache Kampfgruppenmann hingegen mußte nur
						zu gern hören, daß die Entschließung gegen die Terroraktionen »nur durch Zufall«
						zustande gekommen sei und nicht ernst genommen werden brauchte. Für die nächste
						Aktion genügte das.
						
						Am 12. Juni
						1907, um 10 Uhr 45 morgens, fand auf dem Eriwan-Platz in Tiflis ein in seiner
						Kühnheit außergewöhnlicher bewaffneter Überfall auf eine Kosakenabteilung
						statt, die einen Geldtransport begleitete. Die Operation wickelte sich mit der
						Präzision eines Uhrwerks ab. In genau vorausberechneten Zeitabständen wurden
						mehrere Bomben von außerordentlicher Explosivkraft geworfen. Zahlreiche
						Revolverschüsse wurden abgegeben. Der Geldsack – 34 000 Rubel – verschwand
						mit den Revolutionären. Nicht ein einziger »Bojewik« wurde von der Polizei
						gefaßt. Drei Angehörige der Begleitmannschaft wurden getötet, über fünfzig
						Personen wurden verwundet, davon die meisten nur leicht. Der Leiter des
						Unternehmens, der Offiziersuniform trug, stand mitten auf dem Platze, behielt
						alle Bewegungen der Begleitmannschaft und der Bojewiki im Auge und war schon
						vor dem Angriff bemüht, mit geschickten Zurufen die Neugierigen fernzuhalten,
						um unnötige Opfer zu vermeiden. In einem kritischen Augenblick, als schon alles
						verloren schien, nahm der Pseudo-Offizier mit erstaunlicher Gelassenheit den
						Geldsack an sich; er versteckte ihn vorübergehend unter dem Sofa des Direktors
						vom Observatorium, dem gleichen Direktor, bei dem der junge
						Koba seinerzeit als Buchhalter gearbeitet hatte. Der Pseudo-Offizier war der
						armenische Bojewik Petrossjan, »Kamo« genannt.
						
						Er war Ende
						des vorigen Jahrhunderts nach Tiflis gekommen und revolutionären Propagandisten
						– unter ihnen Koba – in die Hände gefallen; Petrossjan verstand kaum Russisch.
						Eines Tages richtete er an Koba die Frage: »Kamo« – anstatt wie es in korrektem
						Russisch heißt, Komu, zu wem – »zu wem soll das gebracht werden?« Koba machte
						sich über ihn lustig: »Was heißt Kamo, Kamo!« Aus dem etwas geschmacklosen Witz
						entstand ein revolutionäres Pseudonym, das in die Geschichte eingehen sollte.
						So erzählt es die Medwedijewa, Kamos Witwe. Sie sagt sonst nichts über die
						Beziehungen zwischen den beiden Männern. Dagegen spricht sie von Kamos
						rührender Anhänglichkeit an Lenin, den er das erstemal 1906 in Finnland
						besuchte. »Dieser Kämpfer von grenzenloser Kühnheit und unerschütterlicher
						Willenskraft«, schreibt die Krupskaja, »war zugleich ein außerordentlich sensibler
						Mensch, ein sehr zartfühlender, ein wenig naiver Genosse. Er hing
						leidenschaftlich an Iljitsch, Krassin und Bogdanow ... Er befreundete sich mit
						meiner Mutter, erzählte ihr von seiner Tante und seinen Schwestern. Kamo ging
						oft von Finnland nach Petersburg; er trug immer seine Waffen bei sich, und
						Mutter schnallte ihm jedesmal mit besonderer Sorgfalt die Revolver auf dem
						Rücken fest.« Das ist um so erstaunlicher, als die Mutter der Krupskaja die
						Witwe eines zaristischen Beamten war, die erst in hohem Alter mit der Religion
						brach.
						
						Kurz vor der
						Tifliser Expropriation traf Kamo zu einem neuen Besuch beim Generalstab in
						Finnland ein. »Als Offizier verkleidet«, schreibt die Medwedijewa, »ging Kamo
						nach Finnland, besuchte Lenin und kam mit Waffen und Sprengstoff nach Tiflis
						zurück.« Diese Reise hat entweder unmittelbar vor Beginn des Londoner
						Parteitags oder kurz danach stattgefunden. Der Sprengstoff stammte aus Krassins
						Laboratorium. Chemiker von Beruf, hatte Leonid schon als Student von Bomben in
						der Größe einer Nuß geträumt. Das Jahr 1905 gab ihm die Möglichkeit, seine
						Experimente in dieser Richtung auszubauen. Die ideale Dimension einer Nuß haben
						seine Bomben zwar nie erreicht, aber in den Laboratorien, die unter seiner
						Leitung arbeiteten, wurden Bomben von größter Explosivkraft hergestellt. Auf
						dem Eriwan-Platz in Tiflis haben die Bojewiki diese Bomben nicht zum erstenmal
						ausprobiert.
						
						Nach der Expropriation tauchte Kamo in Berlin auf.
						Dort wurde er auf eine Denunziation des Spitzels Schitomirski hin, der eine
						hohe Stellung in der Auslandsorganisation der Bolschewiki einnahm, verhaftet.
						Bei der Verhaftung entdeckte die preußische Polizei einen Koffer, in dem sich
						offenbar Bomben und Revolver befanden. Den Berichten der Menschewiki nach (die
						Untersuchung führte der spätere Diplomat Tschitscherin), waren die Waffen für
						einen Überfall auf das Bankhaus Mendelssohn in Berlin bestimmt gewesen. »Das
						ist nicht richtig«, erklärt der gut informierte Bolschewik Pjatnitzki, »es hat
						sich um Dynamit gehandelt, das im Kaukasus verwendet werden sollte.« Lassen wir
						die Frage offen, wofür das Dynamit bestimmt war. Kamo blieb über anderthalb
						Jahre in einem deutschen Gefängnis, wo er, wie ihm Krassin geraten hatte, die
						ganze Zeit hindurch eine schwere Geisteskrankheit simulierte. Als »unheilbar«
						wurde er an Rußland ausgeliefert und brachte abermals anderthalb Jahre im
						Metechgefängnis in Tiflis zu, wo er den schwierigsten Prüfungen unterworfen
						wurde. Schließlich wurde er endgültig für unheilbar geisteskrank erklärt und in
						eine Irrenanstalt übergeführt, aus der er entwich. »Dann reist er, illegal, im
						Kielraum eines Schiffes versteckt, nach Paris, um Iljitsch zu besuchen.« Das
						war im Jahre 1911. Kamo litt sehr unter der Spaltung zwischen Lenin einerseits
						und Krassin und Bogdanow andererseits. »Er war ihnen allen dreien tief
						zugetan«, wiederholt die Krupskaja. Folgt eine Idylle: Kamo bittet, man möchte
						ihm Mandeln bringen; er setzt sich in die Küche, die als Salon diente, ißt
						seine Mandeln wie im heimatlichen Kaukasus und erzählt von den schrecklichen
						Jahren, von den Tobsuchtsanfällen, die er simulierte, von dem Sperling, den er
						im Gefängnis gezähmt hatte. »Iljitsch hörte zu, tiefes Mitleid ergriff ihn mit
						diesem Menschen von schrankenloser Kühnheit, der, heißen Herzens und naiv wie
						ein Kind, zu den schwierigsten Aufgaben bereit, nun nach seiner Flucht aber
						nicht wußte, was er anfangen sollte.«
						
						Kamo wurde
						später in Rußland von neuem verhaftet und zum Tode verurteilt. Der Zarenerlaß
						von 1913, anläßlich des dreihundertjährigen Bestehens der Dynastie Romanow,
						setzte unerwarteterweise lebenslängliche Zwangsarbeit an Stelle des Galgens.
						Vier Jahre später brachte die Februarrevolution, wieder unerwarteterweise, die
						Befreiung. Die Oktoberrevolution brachte die Bolschewiki an die Macht. Kamo stieß
						sie aus seinem Lebensgleise – einem mächtigen Fisch gleich, den man auf den
						Strand geworfen hat. Während des Bürgerkrieges habe ich
						versucht, ihn zum Partisanenkampf hinter den feindlichen Linien heranzuziehen,
						aber Betätigung auf dem Schlachtfeld lag ihm offenbar nicht. Die fürchterlichen
						Jahre, die er durchgemacht hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
						Die neuen Verhältnisse erstickten ihn. Er hatte nicht seines und seiner
						Kameraden Leben Dutzende von Malen aufs Spiel gesetzt, um wohlbestallter
						Beamter zu werden. Eine andere legendäre Figur, Kote Tsindsadse, ist, von
						Stalin in die Verbannung geschickt, an Tuberkulose zugrunde gegangen. Ein
						ähnliches Schicksal wäre auch Kamo beschieden gewesen, hätte ihn nicht im
						Sommer 1922 in einer Straße in Tiflis ein Automobil überfahren. Wahrscheinlich
						saß in diesem Automobil ein Mitglied der neuen Bürokratie. Es war zur
						Dämmerstunde, Kamo war auf dem Fahrrad unterwegs – er hatte keine Karriere
						gemacht. Er ist auf symbolische Weise umgekommen.
						
						Souvarine
						spricht im Zusammenhang mit Kamo geringschätzig von der »unzeitgemäßen Mystik«,
						die sich mit dem Rationalismus fortgeschrittener Länder nicht vertrage. In
						Wirklichkeit aber haben gewisse Züge des revolutionären Typus – der in den
						Ländern »westlicher Zivilisation« noch lange nicht verschwunden ist – in Kamo
						nur ihren besonders betonten Ausdruck gefunden. Der Mangel an revolutionärem
						Geist in der europäischen Arbeiterbewegung hat schon in einer Reihe von Ländern
						dem Faschismus zum Siege verholfen, in dem die »unzeitgemäße Mystik« – hier ist
						das Wort am Platze! – ihren abstoßendsten Ausdruck findet. Der Kampf gegen die
						faschistische Tyrannei wird unweigerlich den revolutionären Kämpfern im Westen
						jene Züge aufprägen, die den skeptischen Philister in der Figur Kamos so
						erstaunen machen. In seiner »Eisernen Ferse« prophezeit Jack London ein ganzes
						Zeitalter von amerikanischen Kamos im Dienste des Sozialismus. Der historische
						Prozeß ist sehr viel verwickelter, als ein oberflächlicher Rationalist glauben
						möchte.
						
						Die persönliche
						Teilnahme Kobas an der Tifliser Expropriation wurde in der Partei lange Zeit
						hindurch nicht in Zweifel gestellt. Der ehemalige Sowjetdiplomat Bessedowsky,
						der in zweit- und drittrangigen Bürokratensalons die verschiedensten
						Geschichten erzählen gehört hat, meint, daß Stalin, »in Übereinstimmung mit
						Lenins Instruktionen«, nicht direkt an der Expropriation beteiligt war, daß er
						sich aber »später gerühmt habe, er sei es gewesen, der den Aktionsplan bis in
						die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet habe, und er habe
						eigenhändig die erste Bombe vom Dach des Fürst-Sumbatowschen Hauses geworfen«.
						Es ist schwer zu entscheiden, ob es wirklich Stalin war, der sich gelegentlich
						solcher Dinge gerühmt hat, oder ob sich nur Bessedowsky seiner Informationen
						rühmen will. Auf alle Fälle hat in der Sowjetzeit Stalin solche Gerüchte nicht
						bestätigt, aber dementiert hat er sie ebenfalls nicht. Er hatte offenbar nichts
						dagegen, daß sich die tragische Romantik der Expropriationen im Bewußtsein der
						Jugend mit seinem Namen verband. Ich für meinen Teil zweifelte noch 1932 nicht
						daran, daß Stalin bei dem Überfall auf dem Eriwan-Platz eine führende Rolle
						gespielt habe, und habe das auch in einem meiner Artikel nebenbei erwähnt.
						Inzwischen veranlaßt mich aber ein genaueres Studium der ganzen
						Begleitumstände, die traditionelle Ansicht zu revidieren.
						
						In einer dem
						XII. Bande der Gesammelten Werke Lenins beigegebenen Zeittafel lesen wir unter
						dem Datum des 12. Juni 1907: »Expropriation von Tiflis (341 000 Rubel),
						organisiert von Kamo-Petrossjan.« Und das ist alles. In einem Krassin
						gewidmeten Sammelwerk, in dem viel von der berühmten Geheimdruckerei im
						Kaukasus und von den Kampfabteilungen der Partei die Rede ist, wird Stalin
						nicht einmal erwähnt. Ein ehemaliger Bojewik, der über die Vorgänge in dieser
						Zeit gut unterrichtet ist, schreibt: »Die Pläne für die Expropriationen in den
						Verwaltungsgebäuden von Kwirili und Douchet und die auf dem Eriwanplatz, die
						der letztere (Kamo) organisiert hatte, sind von ihm zusammen mit Nikititsch
						(Krassin) vorbereitet und ausgearbeitet worden.« Von Stalin kein Wort. Ein
						anderer früherer Bojewik schreibt: »Expropriationen wie die von Tiflis und
						anderswo wurden unter der direkten Leitung von Leonid Borissowitsch (Krassin)
						durchgeführt.« Wiederum nichts über Stalin. Noch ist Stalin in dem Buch von
						Bibineschwili erwähnt, in dem alle Einzelheiten über die Vorbereitung und
						Durchführung der Expropriationen zusammengetragen worden sind. Daraus folgt,
						daß Koba nicht in direkter Verbindung mit den Mitgliedern der Kampfgruppen
						gestanden hat, daß er ihnen keinerlei Anweisungen erteilt hat, daß er
						infolgedessen auch nicht der Organisator im eigentlichen Sinne des Wortes
						gewesen ist, geschweige denn an den Kampfhandlungen teilgenommen hat.
						
						Der Londoner
						Parteitag ging am 27. April zu Ende. Die Tifliser Expropriation fand am 12.
						Juni statt, einundeinenhalben Monat später. Zwischen seiner Rückkehr aus dem
						Ausland und dem Tage der Expropriation blieb Stalin viel zu
						wenig Zeit, um die Vorbereitung eines so schwierigen Unternehmens zu leiten.
						Sicherlich hatten die Bojewiki schon vorher Muße gehabt, unter sich die
						notwendige Auswahl zu treffen und sich gelegentlich anderer gefährlicher
						Unternehmungen aufeinander einzuspielen. Möglicherweise warteten sie die
						Entscheidung des Parteitags ab. Vielleicht waren einige im Zweifel darüber,
						welche Stellung Lenin in der Frage der Expropriationen einnehmen würde. Sie
						warteten auf das Signal. Vielleicht hat Stalin das Signal gegeben. Aber ging
						seine Teilnahme weiter?
						
						Von den
						Beziehungen zwischen Kamo und Koba wissen wir so gut wie nichts. Kamo schloß
						sich gern jemandem an. Doch spricht niemand von einer Freundschaft zwischen ihm
						und Koba. Das Stillschweigen, das über die Beziehungen zwischen beiden gewahrt
						wird, läßt eher darauf schließen, daß es Konflikte zwischen ihnen gab. Der
						Konfliktstoff mag darin gelegen haben, daß Koba versuchte, Befehle zu erteilen
						oder sich Dinge zuzuschreiben, mit denen er nichts zu tun gehabt hatte.
						Bibineschwili erzählt in seinem Buch über Kamo, daß später, als Georgien schon
						ein Sowjetland geworden war, ein »geheimnisvoller Unbekannter« auftauchte, der
						sich unter einem lügnerischen Vorwand Kamos Briefwechsel und andere wertvolle
						Dokumente aneignete. Wer brauchte diese Sachen und zu welchem Zweck? Die
						Dokumente sowohl wie der unbekannte Mann sind spurlos verschwunden. Ist es
						voreilig anzunehmen, daß Stalin mit Hilfe eines Agenten Kamos Dokumente in
						seinen Besitz gebracht hat, weil sie ihn aus dem einen oder anderen Grunde
						beunruhigten? Das würde natürlich nicht die Möglichkeit ausschließen, daß beide
						im Juni 1907 eng zusammengearbeitet haben. Noch hindert es uns anzunehmen, daß
						sich die Beziehungen zwischen beiden nach der Tifliser »Affäre« verschlechtert
						haben und daß Koba der Ratgeber Kamos bei der Ausarbeitung der letzten
						Einzelheiten gewesen ist. Der Berater kann im Auslande leicht eine übertriebene
						Vorstellung von seiner Rolle erweckt haben. Schließlich ist es nun einmal
						leichter, sich die Organisierung einer Expropriation zuzuschreiben, als die
						Führung der Oktoberrevolution. Allerdings ist Stalin später auch davor nicht
						zurückgeschreckt.
						
						Barbusse
						erzählt, daß Koba 1907 nach Berlin gegangen und einige Zeit dort geblieben sei,
						»um sich mit Lenin zu unterhalten«. Worüber sich die beiden unterhalten haben,
						weiß der Verfasser nicht. Der Text des Buches von Barbusse
						besteht fast nur aus Irrtümern. Doch zwingt uns diese Anspielung auf eine
						Berliner Reise um so mehr zur Aufmerksamkeit, als Stalin auch in seinem Dialog
						mit Ludwig von einem Aufenthalt in Berlin im Jahre 1907 gesprochen hat. Wenn
						Lenin für diese Zusammenkunft eine besondere Reise nach der deutschen
						Hauptstadt unternommen hat, dann ganz bestimmt nicht theoretischer
						»Unterhaltungen« wegen. Die Zusammenkunft kann nur entweder kurz vor, während,
						oder kurz nach dem Parteitag stattgefunden haben und betraf sicherlich die
						bevorstehende Expropriation, die Mittel und Wege, das Geld zu transportieren
						und ähnliche Dinge. Warum hat sie in Berlin und nicht in London stattgefunden?
						Wahrscheinlich hielt es Lenin für unklug, sich mit Iwanowitsch in London zu
						treffen, wo sie den Blicken der übrigen Delegierten und denen der zaristischen
						Spitzel, die der Parteitag in großer Zahl angezogen hatte, ausgesetzt gewesen
						wären. Möglich ist auch, daß andere, die am Kongreß nicht teilnahmen, bei den
						Besprechungen zugegen sein sollten.
						
						Von Berlin
						aus kehrte Koba nach Tiflis zurück, reiste aber kurz darauf nach Baku, von wo
						aus er, Barbusse nach, »wieder ins Ausland ging, um Lenin zu treffen«. Ein
						Kaukasier, der seine Sache gut gelernt hatte – Barbusse brachte einige Zeit im
						Kaukasus zu und schrieb dort eine Anzahl von Geschichten nieder, die ihm Beria
						servierte – erwähnte zwei Zusammenkünfte Stalins mit Lenin im Ausland, um zu
						zeigen, wie eng beide miteinander verbunden gewesen waren. Der Zeitpunkt dieser
						Zusammenkünfte sagt alles: sie fanden, die eine unmittelbar vor, die andere
						unmittelbar nach der Expropriation statt. Das erklärt ihren Zweck; aller
						Wahrscheinlichkeit nach wurde auf dem zweiten Zusammentreffen die Frage
						besprochen: weitermachen oder aufhören?
						
						»Damals«,
						schreibt Iremaschwili, »begann die Freundschaft zwischen Koba-Stalin und
						Lenin.« Das Wort »Freundschaft« ist hier aber ganz sicher nicht am Platze. Die
						Distanz, die diese beiden Männer trennte, schloß eine persönliche Freundschaft
						aus. Doch scheint, daß sie sich in jener Zeit näher gekommen sind. Wenn die
						Vermutung richtig ist, daß Lenin mit Koba die Pläne für die Tifliser
						Expropriation besprochen hat, dann war es natürlich, daß er für denjenigen
						Bewunderung empfand, in dem er den Organisator der Expropriation sehen mußte.
						Wahrscheinlich hat Lenin, als er das Telegramm mit der Mitteilung in der Hand hielt, daß die Beute eingebracht werden konnte, ohne ein
						Opfer auf Seiten der Revolutionäre zu fordern, vor sich selbst oder vor der
						Krupskaja ausgerufen: »Welch prächtiger Georgier!« Das sind die Worte, die sich
						später in einem seiner Briefe an Gorki finden. Enthusiasmus für Leute, die
						Proben ihrer Entschlußkraft abgelegt oder eine ihnen anvertraute Aufgabe gut
						durchgeführt hatten, war einer der hervorstechendsten Züge Lenins bis an sein
						Lebensende. Vor allen anderen schätzte er Männer der Tat. Indem er sein Urteil
						über Koba auf dessen Leistungen bei den kaukasischen Expropriationen basierte,
						kam er anscheinend dazu, in Koba einen Mann zu sehen, fähig, bis zum äußersten
						zu gehen oder imstande, andere so zu dirigieren, daß sie vor nichts
						zurückschreckten. Er kam zu dem Schlusse, daß der »prächtige Georgier« sehr
						nützlich sein würde.
						
						Glück
						brachte die Tifliser Beute nicht; die ganze Geldsumme bestand aus
						Fünfhundertrubel-Scheinen: unmöglich, so hohe Banknoten in Umlauf zu setzen.
						Die Öffentlichkeit nahm das Scharmützel auf dem Eriwan-Platz seines
						unglücklichen Ausgangs wegen unfreundlich auf, und es war nicht daran zu
						denken, die Geldscheine auf einer russischen Bank einzuwechseln. Das mußte im
						Ausland geschehen. Der Provokateur Schitomirsky, der an dieser Operation
						teilnahm, verriet sie beizeiten der Polizei. Der zukünftige Volkskommissar für
						auswärtige Angelegenheiten, Litwinow, wurde in Paris bei dem Versuch, die
						Banknoten zu wechseln, verhaftet. Olga Rawitsch, die später Sinowjews Frau
						wurde, fiel in Stockholm der Polizei in die Hände. Semaschko, zukünftiger
						Volkskommissar für das Gesundheitswesen, wurde in Genf verhaftet, scheinbar durch
						Zufall. »Ich war einer von den Bolschewiki«, schreibt er, »die damals
						grundsätzlich gegen die Expropriationen waren.« Die Zahl solcher Bolschewiki
						stieg beträchtlich nach den Geschichten, die bei den Wechseloperationen
						passierten. »Der Durchschnittsschweizer«, vermerkt die Krupskaja, »war zu Tode
						erschrocken. Man sprach nur noch von den russischen Expropriateuren. Auch in
						der Pension, wo Iljitsch und ich aßen, wurde mit Schrecken davon gesprochen.«
						Erwähnen wir noch, daß sowohl Olga Rawitsch wie Semaschko seit der letzten
						»Säuberung« verschwunden sind.
						
						Die Tifliser
						Expropriation kann in keiner Weise als eine Partisanentat zwischen zwei
						Schlachten im Bürgerkrieg angesehen werden. Lenin hatte einsehen müssen, daß
						der Aufstand auf eine unbestimmbare Zukunft zurückgeworfen worden war. Ihm stand diesmal einfach der Versuch vor Augen, der Partei
						auf Kosten des Feindes die finanziellen Mittel zu verschaffen, die ihr erlauben
						würden, über die bevorstehende ungewisse Periode hinwegzukommen. Lenin hat der
						Versuchung nicht widerstehen können; er ergriff die Gelegenheit, den günstigen
						»Ausnahmefall«, beim Schopfe. In diesem Sinne, und das muß offen ausgesprochen
						werden, enthielt die Idee von der Tifliser Expropriation ein gut Teil
						Abenteuertum, was im allgemeinen Lenins Politik fremd war. Im Falle Stalin
						liegt die Sache ganz anders. Weitschauende historische Erwägungen waren für ihn
						bedeutungslos. Die Londoner Resolution war für ihn nur ein Fetzen Papier, ein
						durchsichtiger Trick genügte, um sich ihren unangenehmen Konsequenzen zu
						entziehen. Der Erfolg würde das Risiko schon rechtfertigen. Souvarine hat bei
						dieser Gelegenheit eingewandt, daß es ungerecht sei, die Verantwortung vom
						Fraktionsführer auf eine zweitrangige Figur abzuschieben. Darum, die Frage der
						Verantwortlichkeit zu verschieben, handelt es sich aber nicht. Die Mehrheit der
						bolschewistischen Fraktion war zu jener Zeit in Sachen der Expropriationen
						gegen Lenin; die Bolschewiki, die mit den Kampfgruppen in nahe Berührung
						gekommen waren, hatten allzu überzeugungskräftige Beobachtungen gemacht, was
						Lenin, der von neuem Emigrant war, nicht tun konnte. Ohne Korrektur von unten
						muß auch der mit dem größten Genie begabte Führer Fehler machen. Tatsache
						bleibt, daß Stalin nicht zu denen gehörte, die rechtzeitig begriffen, daß
						Partisanenstreiche unter den Umständen, wie sie der revolutionäre Abstieg mit
						sich bringt, unzulässig sind. Und das war kein Zufall. Für ihn war die Partei
						vor allem ein Apparat. Der Apparat verlangte Mittel, um weiterexistieren zu
						können. Die Geldmittel mußten mit Hilfe eines anderen Apparates herbeigeschafft
						werden, ungeachtet des Lebens und Kampfes der Massen. Da war Stalin in seinem
						Element.
						
						Die Folgen
						dieses tragischen Abenteuers, mit denen eine ganze Phase im Leben der Partei zu
						Ende ging, waren schwerwiegend. Die Auseinandersetzungen über die Tifliser
						Expropriation vergifteten auf lange Zeit hinaus die Atmosphäre in der Partei
						und auch innerhalb der bolschewistischen Fraktion selbst. Lenin nahm von da an
						einen Frontwechsel vor und trat entschieden gegen die Taktik der
						Expropriationen auf, die noch während einer gewissen Periode hindurch zum
						Fundus des »linken« Flügels der Bolschewiki gehörte. Zum letztenmal wurde die
						Tifliser »Affäre« im Januar 1910 auf Drängen der
						Menschewiki parteioffiziell im Zentralkomitee zur Debatte gestellt. Eine
						Resolution wurde gefaßt, die die Expropriationen als völlig unzulässigen
						Verstoß gegen die Parteidisziplin scharf verurteilte, aber anerkannte, daß es
						nicht in der Absicht der Teilnehmer gelegen habe, die Arbeiterbewegung zu
						schädigen, daß sich die Teilnehmer vielmehr »allein von schlecht verstandenem
						Parteiinteresse« hätten leiten lassen. Niemand wurde ausgeschlossen. Niemand
						wurde namentlich genannt. Wie die anderen, so wurde auch Koba amnestiert als
						einer, der sich »von schlecht verstandenen Parteiinteressen« hatte leiten
						lassen.
						
						Inzwischen
						nahm der Auflösungsprozeß der revolutionären Organisationen seinen Fortgang.
						Schon im Oktober 1907 schrieb der menschewistische »Literat« Potressow an
						Axelrod: »Bei uns ist der Zusammenbruch vollständig und die Demoralisierung
						absolut ... Es gibt nicht nur keine Organisation mehr, sondern nicht einmal
						mehr die Elemente dafür ... Und diese Nicht-Existenz wird zum Prinzip erhoben
						...« Es sollte bald zum Vorrecht der meisten Führer des Menschewismus mit
						Einschluß Potressows selbst werden, das Nichtsein zum Prinzip zu erheben! Sie
						erklärten, daß die illegale Partei ein für allemal erledigt und daß der
						Versuch, sie wiederzubeleben – eine reaktionäre Utopie sei. Martow versicherte,
						es seien gerade »solch skandalöse Vorkommnisse wie die beim Umtausch der
						Tifliser Banknoten«, die es »den ergebensten und aktivsten Elementen der
						Arbeiterklasse« ratsam erscheinen ließen, alle Berührung mit dem illegalen
						politischen Apparat zu vermeiden. Ein anderes Argument für die »Notwendigkeit«,
						den verpesteten Untergrund zu meiden, sahen die Menschewiki, nunmehr
						»Liquidatoren« genannt, in dem erschreckenden Überhandnehmen der Provokation.
						Sich auf die Gewerkschaften, Erziehungsvereine und Solidaritätsverbände
						zurückziehend, leisteten sie keine revolutionäre Arbeit mehr, sondern wurden zu
						Kulturpropagandisten. Um ihre Posten in den legalen Organisationen zu behalten,
						begannen die aus der Arbeiterklasse stammenden Funktionäre, sich eine
						Schutzfarbe zuzulegen. Streikkämpfen gingen sie aus dem Wege, um ihre gerade
						eben geduldeten Gewerkschaften nicht zu kompromittieren. In der Praxis
						bedeutete die Legalität um jeden Preis die völlige Preisgabe der revolutionären
						Methoden.
						
						Die
						Liquidatoren standen in jenen düstersten Jahren im Vordergrund. »Sie hatten
						weniger unter polizeilichen Verfolgungen zu leiden«,
						schreibt Olminsky. »Sie hatten viele Schriftsteller auf ihrer Seite, zahlreiche
						Redner und fast alle Intellektuellen. Sie waren Hahn im Korb und krähten
						entsprechend.« Die Reihen der bolschewistischen Fraktion lichteten sich, und
						zwar von Stunde zu Stunde; die Versuche, den illegalen Apparat
						aufrechtzuerhalten, begegneten auf Schritt und Tritt feindlichem Widerstand;
						die Kraft des Bolschewismus schien endgültig gebrochen. »Die ganze gegenwärtige
						Entwicklung«, schrieb Martow, »macht die Bildung einer einigermaßen stabilen
						Parteisekte zu einer jämmerlichen reaktionären Utopie.« Diese grundlegende
						Prognose Martows und des russischen Menschewismus war ein schwerer Fehler. Was
						sich als reaktionäre Utopie herausstellte, das waren die Perspektiven und
						Losungsworte der Liquidatoren. Für eine legale Arbeiterpartei war im Regime des
						3. Juni kein Platz. Sogar der Partei der Liberalen wurde die legale Anerkennung
						verweigert. »Die Liquidatoren haben die illegale Partei beseitigt«, schrieb
						Lenin, »aber ihre Verpflichtung, eine legale Partei zu schaffen, haben sie
						nicht erfüllt.« Gerade dadurch, daß der Bolschewismus den Aufgaben der
						Revolution in der Periode ihrer Demütigung und ihres Niedergangs treu blieb,
						bereitete er den unerhörten Aufschwung vor, den er in den Jahren des
						Wiedererwachens der Revolution nehmen sollte.
						
						Innerhalb
						des linken Flügels der bolschewistischen Fraktion, auf dem den Liquidatoren
						entgegengesetzten Pole, hatte sich inzwischen eine extremistische Gruppe
						gebildet, die sich hartnäckig weigerte, die veränderten Verhältnisse
						anzuerkennen, und die fortfuhr, die Taktik der Direkten Aktion zu verteidigen.
						Nach den Dumawahlen führten die Meinungsverschiedenheiten, die seinerzeit über
						die Frage des Boykotts entstanden waren, zur Bildung einer neuen Fraktion, die
						für die Abberufung der sozialdemokratischen Abgeordneten aus der Duma eintrat,
						»Otsowisten« (»Zurückrufer«) genannt. Die Otsowisten waren zweifellos das genau
						symmetrische Gegenstück zu den Liquidatoren. So wie es die Menschewiki immer
						und bei jeder Gelegenheit, selbst im Augenblick des unwiderstehlichsten
						Vorwärtsdrängens der Revolution, für notwendig erachteten, in jedes »Parlament«
						zu gehen, auch wenn es sich nur um ein kurzlebiges Täuschungsexperiment des
						Zaren handelte, ebenso glaubten die Otsowisten, sie würden, wenn sie das nur
						dank einer Niederlage der Revolution zustande gekommene Parlament
						boykottierten, einen neuen Druck der Massen auslösen können. Wie elektrische
						Entladungen von Donnerschlägen begleitet sind, so
						versuchten diese »Unversöhnlichen«, elektrische Entladungen hervorzurufen
						mittels künstlichen Gedonners.
						
						Auf Krassin
						übte die Zeit der Dynamitlaboratorien noch immer eine große Anziehungskraft
						aus. Dieser scharfsinnige und einsichtige Mensch gesellte sich für eine
						Zeitlang zur Sekte der Otsowisten, um sich aber dann für eine ganze Reihe von
						Jahren von der Revolution überhaupt zu trennen. Der andere nächste Mitarbeiter
						Lenins in der geheimen bolschewistischen »Troika«, Bogdanow, ging auch nach
						links. Mit dem Ende des geheimen Triumvirats hatte auch die alte
						bolschewistische Leitung zu bestehen aufgehört. Aber Lenin wankte nicht. Im
						Sommer 1907 war die Mehrheit der bolschewistischen Fraktion für den Boykott. Im
						Frühjahr 1908 waren die Otsowisten in Petersburg und Moskau schon in der
						Minderheit. An Lenins Überlegenheit war nicht zu zweifeln. Was auch Koba
						rechtzeitig erkannte, denn die unglückliche Erfahrung, die er mit seiner
						Haltung in der Agrarfrage gemacht hatte, als er offen gegen Lenin aufgetreten
						war, hatte ihn vorsichtiger werden lassen. Stillschweigend und ohne viel
						Aufhebens löste er sich von seinen Boykottierern. Von nun an wurde es zur
						Grundregel seines Verhaltens, lautlos die Stellung zu wechseln und bei
						Wendungen im Schatten zu bleiben.
						
						Die
						fortlaufende Aufsplitterung der Partei in kleine Gruppen, die sich inmitten
						vollständiger Leere rücksichtslos untereinander befehdeten, ließ mancherorts
						die Neigung zur Versöhnung, zur Verständigung aufkommen, zur Einheit um jeden
						Preis. Eben in dieser Periode trat eine andere Seite des »Trotzkismus« in den
						Vordergrund, nicht die der Theorie der permanenten Revolution, sondern die der
						innerparteilichen »Versöhnung«. Für das Verständnis des späteren Kampfes
						zwischen Stalinismus und Trotzkismus ist es unerläßlich, hier darüber, wenn
						auch nur kurz, zu sprechen. Ich habe im Jahre 1904 – das heißt, seit dem
						Augenblick, wo die Meinungsverschiedenheiten über die Einschätzung der
						liberalen Bourgeoisie auftraten – mit der Minderheit auf dem Zweiten Parteitag
						(den Menschewiki) gebrochen und habe in den folgenden dreizehn Jahren keiner
						Fraktion angehört. Meine Einstellung im innerparteilichen Konflikt läßt sich
						folgendermaßen zusammenfassen: solange sowohl bei den Bolschewiki wie bei den
						Menschewiki die revolutionären Intellektuellen die Führung innehatten und
						solange weder die eine noch die andere Gruppierung über die
						bürgerlich-demokratische Revolution hinausgehen wollte, war
						für eine Spaltung keine Berechtigung vorhanden; bei einer neuen Revolution
						würden beide Fraktionen unter dem Druck der arbeitenden Massen auf alle Fälle
						gezwungen sein, wie im Jahre 1905, dieselbe revolutionäre Politik zu verfolgen.
						Manche Kritiker des Bolschewismus halten noch heutigentags mein früheres
						Versöhnlertum für die Stimme der Weisheit. Doch hat sowohl die Theorie wie die
						Praxis längst erwiesen, daß es ein tiefer Irrtum war. Einfache Versöhnung von
						Fraktionen ist nur möglich auf einer »mittleren« Linie. Wo aber läge die
						Garantie dafür, daß diese künstlich gezogene Diagonale mit den Notwendigkeiten
						der objektiven Entwicklung übereinstimmt? Die Aufgabe wissenschaftlicher
						Politik besteht darin, ein Programm und eine Taktik aus der Analyse des
						Klassenkampfes abzuleiten, nicht aber aus einem Parallelogramm so zweitrangiger
						und unbeständiger Kräfte, wie es die politischen Gruppierungen sind. Gewiß, die
						Stellung der Reaktion war so stark, daß sie der politischen Aktivität der
						ganzen Partei äußerst enge Grenzen zog. Es konnte damals scheinen, als seien
						die Meinungsverschiedenheiten unwesentlich und nur von den Führern in der
						Emigration künstlich aufgebläht. Aber gerade in der Periode der Reaktion wäre
						die revolutionäre Partei ohne eine große Perspektive unfähig gewesen, neue
						Kader heranzubilden. Den morgigen Tag vorzubereiten, das war die Aufgabe der
						Stunde. Die Politik der Versöhnung nährte sich von der Hoffnung, daß der
						Verlauf der Ereignisse selbst die notwendige Taktik vorschreiben werde. Aber
						dieser fatalistische Optimismus bedeutet in der Praxis Verzicht nicht nur auf
						fraktionellen Kampf, sondern auf die Idee der Partei selbst – wenn der »Lauf
						der Ereignisse« imstande ist, den Massen unmittelbar die richtige Politik zu
						diktieren, wozu dann noch eine besondere Vereinigung der Vorhut des
						Proletariats, wozu dann noch die Ausarbeitung eines Programms, das Auswählen
						der Führer, die Erziehung im Geiste der Disziplin?
						
						Später, im
						Jahre 1911, hat Lenin die Bemerkung gemacht, daß das Versöhnlertum unauflöslich
						mit dem Wesen derjenigen Aufgaben verbunden ist, die die Partei in den Zeiten
						der Konterrevolution zu lösen hat. »Eine Anzahl von Sozialdemokraten«, schrieb
						er, »verfielen zu dieser Zeit in Versöhnlertum, wobei sie von den
						verschiedensten Voraussetzungen ausgingen. In ihrer konsequentesten Form
						vertrat Trotzky die Versöhnung, der auch der einzige war, der versuchte, dieser
						Politik eine theoretische Fundierung zu geben.« Weil das
						Versöhnlertum in jenen Jahren den Charakter einer Epidemie angenommen hatte,
						erblickte Lenin darin die größte Gefahr für die Entwicklung der revolutionären
						Partei. Er unterschied sehr gut die »verschiedensten Voraussetzungen« bei den
						Versöhnlern, die opportunistischen von den revolutionären. Doch hielt er sich
						in seinem Kreuzzug gegen die gefährliche Tendenz für berechtigt, keinen
						Unterschied zwischen den subjektiven Quellen zu machen; im Gegenteil, mit
						verdoppelter Schärfe griff er die Versöhnler an, die ihrer Grundauffassung nach
						dem Bolschewismus nahestanden. Den öffentlichen Kampf mit dem eigenen
						versöhnlerischen Flügel in der bolschewistischen Fraktion vermeidend, zog Lenin
						es vor, gegen den »Trotzkismus« zu polemisieren, besonders nachdem ich, wie
						erwähnt, versucht hatte, der Versöhnung eine theoretische Grundlage zu geben.
						Zitate aus den dieser heftigen Polemik gewidmeten Schriften haben später Stalin
						Dienste erwiesen, zu denen sie sicherlich nicht bestimmt waren.
						
						Das Studium
						von Lenins Werken aus der Periode der Reaktion – peinlich genau bis ins
						einzelne gehend, aber von kühnem gedanklichen Schwung – wird für die
						revolutionäre Schulung stets unerläßlich bleiben. »In der Zeit der Revolution«,
						schrieb Lenin im Juli 1909, »lernten wir, französisch zu sprechen, das heißt
						... die Energie und den Umfang des direkten Massenkampfes zu steigern. Jetzt,
						in der Zeit der Stagnation, der Reaktion, des Verfalls, müssen wir lernen, deutsch
						zu sprechen, das heißt ... langsam vorangehen, Schritt für Schritt.« Der Führer
						der Menschewiki, Martow, schrieb im Jahre 1911: »Das, was die Führer der
						legalen Bewegung (das heißt: die Liquidatoren) vor zwei und drei Jahren nur im
						Prinzip anerkannten, nämlich die Notwendigkeit, eine ›deutsche‹ Partei zu
						schaffen, das wird jetzt allgemein als eine Aufgabe betrachtet, an deren
						praktische Lösung heranzugehen höchste Zeit ist.« Martow und Lenin schienen
						beide »deutsch« zu sprechen, in Wirklichkeit redeten sie ganz verschiedene
						Sprachen. Für Martow hieß »deutsch« reden, sich dem russischen Halbabsolutismus
						anzupassen, in der Hoffnung, ihn stufenweise zu »europäisieren«. Für Lenin
						bedeutete derselbe Ausdruck: mit Hilfe der illegalen Partei die mageren legalen
						Möglichkeiten auszunützen zur Vorbereitung einer neuen Revolution. Der spätere
						opportunistische Niedergang der deutschen Sozialdemokratie hat gezeigt, daß die
						Menschewiki viel richtiger den Geist der »deutschen
						Sprache« in der Politik widerspiegelten. Lenin aber hat weitaus besser den
						objektiven Verlauf der Entwicklung in Deutschland sowohl wie in Rußland
						verstanden: der Epoche der friedlichen Reformen mußte eine Epoche der
						Katastrophen folgen.
						
						Was Koba
						anbelangt, so kannte er weder das Französische noch das Deutsche. Aber alle
						seine Eigenschaften drängten ihn auf Lenins Stellung. Koba suchte keine
						öffentliche Tribüne, wie die Redner und Journalisten des Menschewismus – auf
						der öffentlichen Tribüne zeigten sich seine schwächeren viel deutlicher als
						seine stärkeren Seiten. Er brauchte vor allem einen zentralisierten Apparat.
						Doch unter den Bedingungen des konterrevolutionären Regimes konnte der Apparat
						nur illegal sein. Mangelte es Koba auch an historischer Perspektive, mit
						Starrsinn war er reich versehen. In den Jahren der Reaktion hat er nicht zu den
						Zehntausenden gehört, die die Partei im Stich ließen, sondern zu den wenigen
						Hundert, die ihr trotz allem treu blieben.
						
						Kurze Zeit
						nach dem Londoner Parteitag ging der junge Sinowjew, der ins Zentralkomitee
						gewählt worden war, in die Emigration; dasselbe tat Kamenew, Mitglied der
						bolschewistischen Leitung. Koba blieb in Rußland. Später schrieb er sich das
						als ein besonderes Verdienst an. Es ist keins gewesen: die Wahl des Ortes und
						der Art der Arbeit hing nur in sehr geringem Maße von dem Parteimitglied selbst
						ab. Wenn das Zentralkomitee in Koba einen jungen Theoretiker und Publizisten
						gesehen hätte, fähig, sich im Ausland auf ein höheres Niveau zu erheben, würde
						es ihn unbedingt in die Emigration berufen haben, und er hätte weder die
						Möglichkeit noch den Wunsch gehabt, abzulehnen. Aber niemand berief ihn ins
						Ausland. Von den Spitzen der Partei wurde er, von der Zeit an, wo sie auf ihn
						aufmerksam geworden waren, stets als »Praktiker« betrachtet, das heißt als der
						einfachen revolutionären Mannschaft zugehörig, vor allem für die lokale
						Partei-Organisationsarbeit geeignet. Und Koba selbst, der auf den Kongressen
						von Tammerfors, Stockholm und London Gelegenheit gehabt hatte, seine Kräfte zu
						messen, hat wohl kaum den Wunsch verspürt, sich unter die Emigranten zu
						begeben, unter denen er in die dritte Stufe eingereiht worden wäre. Später,
						nach Lenins Tode, wurde aus der Not eine Tugend gemacht, und das Wort
						»Emigrant« nahm im Munde der neuen Bürokratie die gleiche Bedeutung an, die es
						schon bei den Konservativen der Zarenzeit gehabt hatte.
						
						Lenin kehrte, seinen eigenen Worten nach, ins Exil
						zurück wie jemand, der in sein Grab steigt. »Wir sind von allem schrecklich
						abgeschnitten hier ...«, schrieb er von Paris aus im Herbst des Jahres 1909,
						»diese Jahre sind wirklich höllisch schwierig.« In der russischen bürgerlichen
						Presse begannen Artikel veröffentlicht zu werden, die die Emigration
						herabsetzten und sie als den Inbegriff der niedergeschlagenen und von den
						gebildeten Kreisen abgelehnten Revolution darstellten. 1912 antwortete Lenin
						auf solche Anwürfe in der Petersburger Zeitung der Bolschewiki: »Ja, es gibt
						manche unangenehmen Dinge in der Emigration ... Es gibt mehr Not und Elend als
						sonst irgendwo. Besonders hoch ist der Prozentsatz der Selbstmorde.« Aber, »nur
						hier und nirgendwo sonst sind die wichtigsten Grundfragen der ganzen russischen
						Demokratie in den Jahren des Interregnums und der Konfusion gestellt worden«.
						In den mühseligen und zermürbenden Kämpfen der Emigrantengruppen sind die
						leitenden Ideen der Revolution von 1917 herausgearbeitet worden. An dieser
						Arbeit hat Koba nicht den geringsten Anteil gehabt.
						
						Vom Herbst
						1907 bis März 1908 betätigte sich Koba in Baku. Das genaue Datum seiner Ankunft
						in Baku anzugeben, ist nicht möglich. Es kann sehr wohl sein, daß er Tiflis in
						dem Augenblick verließ, als Kamo seine letzte Bombe lud; Koba ist mit Vorsicht
						mutig. Baku, diese Herberge der verschiedensten Rassen, zählte schon Anfang des
						Jahrhunderts über 100 000 Einwohner und wuchs ständig; seine Ölindustrie zog
						Massen von Aserbeidschan-Tataren an. Auf die revolutionäre Bewegung von 1905
						hatten die zaristischen Behörden nicht ohne Erfolg geantwortet, indem sie die
						Tataren gegen die viel fortgeschritteneren Armenier ausgespielt hatten. Die
						Revolution hatte aber dennoch auch auf die rückständigen Tataren übergegriffen.
						Mit einer gewissen Verspätung gegenüber den anderen Landesteilen nahmen sie an
						den Streiks von 1907 en masse teil.
						
						Koba blieb
						ungefähr acht Monate in der Schwarzen Stadt, von welcher Zeit noch seine
						Berliner Reise abzuziehen ist. »Unter der Leitung des Genossen Stalin«,
						schreibt der nicht eben einfallsreiche Beria, »wuchs die bolschewistische
						Organisation in Baku, wurde stark und stählte sich in ihrem Kampf gegen die Menschewiki.«
						Koba wurde in jene Ortschaften gesandt, in denen der Gegner besonders stark
						war. »Unter der Leitung des Genossen Stalin brachen die Bolschewiki den Einfluß
						der Menschewiki« usw. Aus Allilujew ist kaum mehr zu entnehmen. Die Sammlung der bolschewistischen Kräfte nach ihrer
						Zerschlagung durch die Polizei geschah, seinen Worten nach, »unter der
						unmittelbaren Leitung und der aktiven Teilnahme des Genossen Stalin ... Sein
						organisatorisches Talent, sein echter revolutionärer Enthusiasmus, seine unerschöpfliche
						Energie, sein fester Wille und seine bolschewistische Entschlossenheit ...« und
						so fort. Unglücklicherweise sind diese Erinnerungen des Schwiegervaters Stalins
						im Jahre 1937 geschrieben. Die Formel: »unter der unmittelbaren Leitung und der
						aktiven Teilnahme« weist unfehlbar die Beriasche Fabrikmarke auf. Der
						Sozialrevolutionär Wereschtschak, der damals die Tätigkeit seiner Partei in
						Baku leitete und der Koba mit den Augen des Gegners sah, spricht ihm
						außergewöhnliche organisatorische Fähigkeiten zu, bestreitet aber völlig seinen
						persönlichen Einfluß auf die Arbeiter. »Sein Äußeres«, schreibt er, »machte
						einen schlechten Eindruck auf jeden, der ihn zum erstenmal sah. Dem wußte Koba
						sehr gut Rechnung zu tragen. Er sprach niemals auf öffentlichen Massenversammlungen
						... Seine Anwesenheit in diesem oder jenem Arbeiterbezirk blieb immer geheim,
						und man konnte auf sie nur durch eine erhöhte Tätigkeit der Bolschewiki
						schließen.« Das klingt sehr wahr. Wir werden Wereschtschak später noch wieder
						begegnen.
						
						Die
						Lebenserinnerungen von Bolschewiki, soweit sie vor der totalitären Ära
						geschrieben worden sind, räumen den ersten Platz in der Bakuer Organisation
						nicht Koba ein, sondern Schaomyan und Tschaparidse, zwei hervorragenden
						Revolutionären, die von den Engländern während der Besetzung von Transkaukasien
						am 20. September 1918 erschossen worden sind. Karinian, Schaomyans Biograph,
						schreibt: »Von den alten Genossen in Baku waren damals aktiv tätig A.
						Jenukidse, Koba (Stalin), Timofei (Spandarian), Aljoscha (Tschaparidse). Die
						bolschewistische Organisation ... hatte eine breite Basis für ihre Tätigkeit:
						die Petroleumarbeitergewerkschaft. Sekretär und eigentlicher Organisator der
						ganzen Gewerkschaftsarbeit war Aljoscha (Tschaparidse).« Jenukidse wird vor
						Koba genannt, die Hauptrolle wird Tschaparidse zugeschrieben. Weiter: »Diese
						beiden (Schaomyan und Tschaparidse) waren die beliebtesten Führer des Bakuer
						Proletariats.« Es ist Karinian, der im Jahre 1924 schrieb, noch nicht
						eingefallen, Stalin zu den »beliebtesten Führern« zu zählen.
						
						Der Bakuer
						Bolschewik Stopani erzählt, wie er im Jahre 1907 von der Gewerkschaftsarbeit
						völlig in Anspruch genommen war, »der brennendsten Aufgabe
						im Baku jener Tage«. Die Gewerkschaft stand unter der Führung der Bolschewiki.
						»Die führende Rolle« in der Gewerkschaft »spielte der unersetzliche Aljoscha
						Tschaparidse; eine geringere Rolle spielte der Genosse Koba (Dschugaschwili),
						der seine Kräfte hauptsächlich der Arbeit in der Partei widmete, die er
						leitete.« Stopani präzisiert nicht, worin die »Parteiarbeit« neben der
						»brennendsten Aufgabe«, der Gewerkschaftsarbeit, noch bestand. Er macht aber
						zufällig eine aufschlußreiche Bemerkung über die Unstimmigkeiten unter den
						Bakuer Bolschewiki. Alle waren sich darüber einig, daß es notwendig sei, eine
						organisatorische »Konsolidierung« des Einflusses der Partei auf die
						Gewerkschaften herbeizuführen; »doch darüber, bis zu welchem Grade und in
						welcher Form die Konsolidierung vor sich gehen sollte, herrschte Uneinigkeit
						unter uns; wir hatten unsere Linke (Koba-Stalin) und unsere Rechte (Aljoscha
						Tschaparidse und andere, und ich selbst); die Gegensätze waren nicht
						grundsätzlicher Art, sondern bezogen sich auf die Taktik und die Methoden der
						Aufrechterhaltung der Verbindungen.« Stopanis absichtlich unbestimmte
						Ausdrucksweise – Stalin war zu dieser Zeit schon sehr mächtig – läßt
						einwandfrei auf die wirkliche Stellung der Figuren schließen. Infolge der mit
						Verzögerung einsetzenden Streikbewegung gewann die Gewerkschaft besondere
						Bedeutung. Die Leiter der Gewerkschaften, Tschaparidse und Schaomyan, waren
						diejenigen, die zu den Massen zu sprechen und sie zu führen verstanden.
						Wiederum auf den zweiten Platz zurückgeworfen, verschanzte sich Koba im
						illegalen Parteikomitee. Der Kampf um den Einfluß der Partei auf die
						Gewerkschaft bedeutete für ihn die Unterstellung der Führer der Massen,
						Tschaparidse und Schaomyan, unter seinen Befehl. In dem Kampf um diese Art von
						»Konsolidierung« seiner persönlichen Macht hatte Koba, wie aus Stopanis Worten
						deutlich hervorgeht, alle führenden Bolschewiki gegen sich. Die Aktivität der
						Massen war den Manövern hinter den Kulissen nicht günstig.
						
						Besonders
						heftig war die Rivalität zwischen Koba und Schaomyan. Das ging so weit, den
						Aussagen georgischer Menschewiki nach, daß die Arbeiter nach der Verhaftung
						Schaomyans Koba verdächtigten, seinen Gegenspieler der Polizei denunziert zu
						haben, und sein Erscheinen vor einem Parteigericht verlangten. Dieses Verlangen
						verstummte erst mit Kobas eigener Verhaftung. Daß die Ankläger wirkliche Beweise
						hatten, ist unwahrscheinlich. Das bloße Zusammentreffen
						einer Reihe von Umständen kann bewirkt haben, daß dieser Verdacht auftauchte.
						Doch ist es immerhin bezeichnend genug, daß die eigenen Parteigenossen Koba für
						fähig hielten, aus unbefriedigtem Ehrgeiz heraus zum Denunzianten zu werden!
						Nie sind jemand anderem solche Dinge nachgesagt worden.
						
						Über die
						Beschaffung der Geldmittel für das Bakuer Komitee zu der Zeit von Kobas
						Anwesenheit in Baku liegen zwar miteinander übereinstimmende, aber keineswegs
						unanzweifelbare Zeugenschaften vor über mit bewaffneter Hand vorgenommene
						Expropriationen, über Geldzuschüsse, die Industriellen abgepreßt wurden – die
						mit dem Tode bedroht oder denen angekündigt wurde, daß man Feuer an ihre
						Ölquellen legen würde –, über Herstellung und Vertrieb von Falschgeld und
						ähnliche Dinge. Es ist sehr schwer zu entscheiden, ob all diese Untaten, die
						tatsächlich vorgekommen sind, wirklich schon in jenen frühen Jahren Koba
						zugeschrieben worden sind, oder ob der größte Teil davon mit seinem Namen erst
						beträchtlich später in Verbindung gebracht worden ist. Wie dem auch sei, Kobas
						Teilnahme an so riskanten Unternehmungen hat keine direkte sein können, sonst
						wäre sie unweigerlich publik gemacht worden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat
						er solche Operationen so geleitet, wie er auch die Gewerkschaft zu leiten
						versuchte, nämlich aus der Kulisse heraus. In diesem Zusammenhang ist es
						erwähnenswert, daß über die Bakuer Periode in Kobas Leben sehr wenig bekannt
						ist. Die unwahrscheinlichsten Kleinigkeiten werden aufgezeichnet, wenn sie nur
						irgendwie nutzbar gemacht werden können, um den Ruhm des »Führers« zu erhöhen,
						aber über seine revolutionäre Tätigkeit werden uns nur allgemeine Redewendungen
						geboten. So häufiges Schweigen ist wohl kaum ein Zufall.
						
						Der
						Sozialrevolutionär Wereschtschak geriet in noch jugendlichem Alter in das
						sogenannte Bailow-Gefängnis in Baku und verbrachte dort dreieinhalb Jahre. Koba
						wurde am 25. März verhaftet, blieb ein halbes Jahr in diesem Gefängnis und
						verließ es, um in die Verbannung zu gehen, wo er neun Monate zubrachte; dann
						kehrte er illegal nach Baku zurück, wurde im März 1910 von neuem verhaftet und
						ins Bailow-Gefängnis eingeliefert, wo er dann ungefähr sechs Monate lang mit
						Wereschtschak zusammen saß. 1912 trafen sich die beiden Gefängniskameraden in
						Narym in Sibirien wieder. Schließlich begegnete Wereschtschak seinem alten Bekannten nach der Februarrevolution auf dem Ersten
						Sowjetkongreß in Petersburg, an dem Wereschtschak als Delegierter der Tifliser
						Garnison teilnahm.
						
						Nach Stalins
						politischem Aufstieg veröffentlichte Wereschtschak in der Emigrantenpresse eine
						detaillierte Schilderung ihres gemeinsamen Gefängnislebens. Vielleicht ist
						nicht alles, was er erzählt, glaubwürdig, und nicht alle seine Urteile sind
						überzeugend. So wenn Wereschtschak wiedergibt, was er sicherlich nur vom
						Hörensagen weiß, daß Koba selbst eingestand, einen Mitschüler vom Seminar »aus
						revolutionären Gründen« verraten zu haben; die Unwahrscheinlichkeit dieser
						Geschichte ist schon weiter oben nachgewiesen worden. Über Kobas Marxismus hat
						der »Volkstümler« nur äußerst naive Dinge zu sagen. Aber Wereschtschak hat den
						unschätzbaren Vorteil, Koba in einer Umgebung beobachtet zu haben, wo der
						Mensch, ob er will oder nicht, auf die Sitten und Gewohnheiten einer
						zivilisierten Existenz verzichten muß. Für 400 Mann bestimmt, zählte dieses
						Bakuer Gefängnis damals über 1500 Insassen. Die Gefangenen schliefen in
						überfüllten Zellen, auf den Gängen, auf den Treppenstufen. Unter solchen
						Bedingungen war es niemandem möglich, sich zu isolieren. Alle Türen, mit
						Ausnahme der der Strafzellen, standen offen. Kriminelle und Politische gingen
						von Zelle zu Zelle und von einem Gebäude zum anderen und liefen frei im Hof
						herum. »Es war unmöglich, sich niederzusetzen oder zu legen, ohne über eines
						anderen Füße zu stolpern.« Unter solchen Umständen sah man den anderen – und
						sah manch einer sich selbst – in ganz unerwartetem Licht. Selbst kalte und
						reservierte Naturen entblößten Charakterzüge, die sie unter gewöhnlichen
						Bedingungen zu verbergen gewußt hätten.
						
						»Koba war
						ein äußerst einseitiger Mensch«, schrieb Wereschtschak. »Er hatte keine
						allgemeinen Prinzipien und keine entsprechende gründliche Erziehung. Seiner
						eigentlichen Art nach ist er immer ein roher, ungebildeter Mensch gewesen; das
						alles war mit einer ganz besonders hoch entwickelten Verschlagenheit verbunden,
						hinter der auch der aufmerksamste Beobachter nicht sogleich die anderen
						versteckten Züge entdecken konnte.« Unter »allgemeinen Prinzipien« scheint der
						Autor moralische Grundsätze zu verstehen – als »Volkstümler« gehörte er der
						Schule des »ethischen« Sozialismus an. Kobas Selbstbeherrschung rief
						Wereschtschaks Erstaunen hervor. Es gab im Gefängnis ein grausames Spiel, das
						darin bestand, jemand mit allen möglichen und unmöglichen
						Mitteln in Wut zu versetzen; jemanden »aufblasen, bis er platzt« wurde das
						genannt. »Koba ist nicht ein einzigesmal aus dem Gleichgewicht geraten«, muß
						Wereschtschak feststellen, »niemand konnte ihn aus der Ruhe bringen.«
						
						Das war ein
						ziemlich unschuldiges Spiel verglichen mit dem, das die Behörden spielten.
						Unter den Gefangenen waren auch kürzlich oder schon vor längerer Zeit zum Tode
						Verurteilte, die ständig der Besiegelung ihres Schicksals entgegensahen. Sie
						aßen und schliefen mit den anderen zusammen. Unter den Augen ihrer
						Mitgefangenen wurden sie nachts herausgeholt und im Gefängnishof gehängt; »in
						den Zellen hörte man ihr Weinen und Schreien«. Die Nerven aller Gefangenen
						waren aufs äußerste gespannt. »Koba schlief fest«, sagt Wereschtschak, »oder
						lernte ruhig Esperanto (er war überzeugt, daß Esperanto die internationale
						Sprache der Zukunft sei).« Es wäre absurd zu denken, daß die Hinrichtungen Koba
						gleichgültig ließen. Aber er hatte starke Nerven. Er empfand nicht nach, was
						andere fühlten. Allein solche Nerven waren schon ein großes Kapital.
						
						Trotz des
						Chaos, der Hinrichtungen, der politischen und persönlichen Streitereien war das
						Bakuer Gefängnis eine wichtige revolutionäre Schule. Koba stach unter den
						marxistischen Wortführern hervor. An privaten Diskussionen beteiligte er sich
						nicht, sondern zog die öffentliche Debatte vor – ein sicheres Zeichen dafür,
						daß Koba der Mehrheit seiner Mitgefangenen an Schulung und Erfahrung überlegen
						war. »Seine äußere Erscheinung und seine grobkörnige Polemik machten sein
						Auftreten immer zu einer unerfreulichen Angelegenheit. Seinen Ausführungen
						fehlte jede Würze, sie nahmen stets die Form einer trockenen Aufzählung an.«
						Wereschtschak erinnert sich einer »Agrardiskussion«, bei der Kobas
						Waffengefährte Ordschonikidse »seinem Gegenredner, dem Sozialrevolutionär Ilja
						Kartsewadse ins Gesicht schlug, wofür er dann von den Sozialrevolutionären
						schwer verprügelt wurde«. Das ist nicht erfunden: der hitzige Ordschonikidse
						behielt seine Vorliebe für »schlagende« Argumente noch in der Zeit bei, als er
						schon ein bekannter sowjetischer Würdenträger geworden war. Lenin beantragte
						deswegen sogar einmal, ihn aus der Partei auszuschließen.
						
						Wereschtschak
						war über das »mechanische Gedächtnis« Kobas erstaunt, dessen »kleiner Kopf mit
						der niedrigen Stirn« sozusagen das ganze »Kapital« von Marx enthielt.
						»Marxismus war das Gebiet, auf dem er nicht zu schlagen war. Es gab nichts, wofür er nicht sofort die entsprechende Formel von Marx hätte
						beibringen können. Dieser Mensch machte auf die jungen, weniger in der Politik
						bewanderten Mitglieder seiner Partei einen starken Eindruck.« Zu den »weniger
						Bewanderten« gehörte Wereschtschak selbst. Dem jungen »Sozialrevolutionär« aus
						der Schule der russisch-volkstümelnden belletristischen Soziologie mußte das
						marxistische Gepäck Kobas imposant erscheinen. In Wirklichkeit war es
						bescheiden genug. Koba war kein grübelnder Theoretiker und besaß weder Ausdauer
						im Studium noch Disziplin im Denken. Von »mechanischem Gedächtnis« zu sprechen,
						dürfte ebenfalls nicht richtig sein; sein Gedächtnis ist eng begrenzt,
						empirisch, rein zweckbestimmt und trotz des seminaristischen Drills durchaus
						nicht mechanisch; ein Bauerngedächtnis ohne weite Flügelspanne, ohne
						synthetisches Vermögen, aber steif und hartnäckig, besonders, wenn es sich um
						Rachegedanken handelt. Es ist vollständig falsch, zu sagen, daß Kobas Kopf mit
						Zitaten für alle Lebenslagen angefüllt war. Koba war weder Bücherwurm noch
						Erudit. Vom Marxismus hatte er sich aus Plechanow und Lenin die elementarsten
						Sätze über den Klassenkampf und über die untergeordnete Bedeutung der Ideen im
						Verhältnis zu den materiellen Faktoren angeeignet. Und wenn er auch diese
						Elementarsätze noch versimpelte, so war er nichtsdestoweniger mit ihrer Hilfe
						imstande, erfolgreich gegen die »Volkstümler« aufzutreten, so wie man selbst
						mit dem allereinfachsten Revolver mit Erfolg jemand gegenübertreten kann, der
						mit einem Bumerang bewaffnet ist. Die marxistische Doktrin als Ganzes blieb
						Koba im Grunde völlig gleichgültig.
						
						Wir erinnern
						uns, wie Koba seinerzeit in den Gefängnissen von Batum und Kutaïs versucht
						hatte, in die Geheimnisse der deutschen Sprache einzudringen; der Einfluß, den
						die deutsche Sozialdemokratie auf die russische Partei ausübte, war zu jener
						Zeit außerordentlich stark. Nur gelang es Koba ebensowenig, sich Marxens
						Sprache zu eigen zu machen wie dessen Lehre. Im Gefängnis von Baku wandte er
						sich dem Esperanto als der »Sprache der Zukunft« zu. Dieser Zug zeigt deutlich,
						von welcher Art die geistige Ausrüstung Kobas war, dessen Lerneifer sich immer
						auf der Linie des geringsten Widerstandes voranbewegte. Obwohl er acht Jahre in
						Gefängnissen und in der Verbannung zubrachte, hat er nicht eine einzige fremde
						Sprache wirklich erlernt, sein unglückseliges Esperanto nicht ausgenommen.
						
						Die Politischen vermieden es im allgemeinen, sich
						unter die Kriminellen zu mischen. Im Gegensatz dazu sah man Koba »allezeit in
						der Gesellschaft von Räubern, Erpressern und der gerissensten Diebe«. Er fühlte
						sich mit ihnen auf gleichem Fuße stehend. »Leute, die ein richtiges ›Ding
						gedreht‹ hatten, imponierten ihm immer sehr. Und er sah auch die Politik als
						ein ›Ding‹ an, das man ›drehen‹ und ›gut drehen‹ kann.« Eine treffende
						Beobachtung; aber gerade sie widerlegt am besten die Bemerkung über das mit
						gebrauchsfertigen Zitaten gespickte »mechanische Gedächtnis«. Der Umgang mit
						Leuten von höheren geistigen Interessen als den seinigen war Koba lästig. Im
						Politbüro der Leninschen Zeit schwieg er fast immer, war mürrisch und gereizter
						Stimmung. Erst in Gesellschaft von Leuten mit primitiver Mentalität, die sich
						nicht mit Gehirnarbeit belasten, wachte er auf und zeigte menschlichere Seiten.
						Während des Bürgerkrieges, wenn einzelne Armeeteile, meistens die Kavallerie,
						sich gehen ließen und sich Unfug und Ausschreitungen zuschulden kommen ließen,
						pflegte Lenin zu sagen: »Sollten wir da nicht mal Stalin hinschicken? Der weiß
						mit solchen Leuten umzugehen!«
						
						Als Urheber
						von Protestkundgebungen ist Koba im Gefängnis nicht selbst hervorgetreten, er
						pflegte aber die Urheber zu unterstützen. »Deshalb erschien er der
						Gefängnisöffentlichkeit als guter Kamerad.« Auch das ist gut beobachtet. Koba
						ist nimmer und nirgendwo selbst der Urheber von irgend etwas gewesen. Aber er
						war sehr wohl imstande, aus der Urheberschaft anderer Nutzen zu ziehen, die
						eigentlichen Urheber voranzustoßen und sich selbst die Entscheidungsfreiheit
						vorzubehalten. Was nicht sagen will, daß es Koba an Mut gefehlt hätte, nur
						verstand er es, mit seinem Mut sparsam umzugehen. Das Gefängnisregime war eine
						Mischung aus Grausamkeit und Laxheit. Innerhalb der Gefängnismauern erfreuten
						sich die Gefangenen einer gewissen. Freiheit. Wurde aber die unscharf gezogene
						Grenze einmal überschritten, so nahm die Gefängnisverwaltung ihre Zuflucht zur
						bewaffneten Gewalt. Wereschtschak erzählt, wie am Ostersonntag des Jahres 1909
						(es muß offenbar 1908 heißen) eine Kompanie Soldaten vom Regiment Saljan
						ausnahmslos alle politischen Gefangenen zwang, Spießruten zu laufen. »Koba
						marschierte unter den Kolbenschlägen, ohne den Kopf zu senken, ein Buch in der
						Hand. Als es nachher von allen Seiten Schläge zu regnen begann, sprengte er
						seine Zellentür mit dem Kübel auf, ungeachtet der drohenden
						Bajonette.« Dieser Mensch voller Selbstbeherrschung war, wenn auch selten,
						fähig, in blinde Wut zu geraten.
						
						Der Moskauer
						»Historiker« Jaroslawski berichtigt Wereschtschak folgendermaßen: »Als Stalin
						durch die Soldatenreihen hindurchging, las er Marx ...« Marxens Name erscheint
						hier aus demselben Grunde wie das Röslein in den Händen der heiligen Jungfrau
						Maria. Die sowjetische Geschichtsschreibung besteht überhaupt nur aus solchen
						Rosen. Koba, der unter den Kolbenschlägen »Marx« hochhält, wurde zum Thema der
						sowjetischen Wissenschaft, Prosa und Poesie. Indes war ein solches Verhalten in
						keiner Weise außergewöhnlich. Schläge in den Gefängnissen und Heldentum in den
						Gefängnissen waren an der Tagesordnung. Pjatnitzki erzählt, wie nach seiner
						Verhaftung in Wilna im Jahre 1902 ein Polizeibeamter vorschlug, ihn, der damals
						noch ein ganz junger Arbeiter war, zum Abteilungschef zu schicken, der für die
						Prügel berüchtigt war, mit denen er Geständnisse erzwang. Aber ein älterer
						Polizeibeamter erklärte: »Der wird auch dort nichts sagen, das ist einer von
						den ›Iskra›-Leuten!« Schon in jenen Jahren hatten sich die Revolutionäre aus
						der Schule Lenins den Ruf erworben, unbeugsam zu sein. Kamo stachen die Ärzte
						Nadeln unter die Fingernägel, um festzustellen, ob er wirklich, wie es den
						Anschein hatte, alle Empfindungsfähigkeit verloren hatte, und nur weil er
						jahrelang unerschütterlich solchen Prüfungen standhielt, gelang es ihm
						schließlich, für unheilbar geisteskrank erklärt zu werden. Was sind im
						Vergleich dazu ein paar Kolbenschläge? Es besteht kein Anlaß, Kobas Mut zu
						unterschätzen, doch muß man dabei Zeit und Umwelt berücksichtigen.
						
						Das
						Gefängnisleben machte es Wereschtschak leicht, jenen Stalinschen Charakterzug
						zu beobachten, der es ihm ermöglicht hat, so lange Zeit hindurch unbekannt zu
						bleiben: »Das war seine Fähigkeit, andere vorzuschicken und selbst in der
						hinteren Linie zu bleiben.« Folgen zwei Beispiele. Das einemal wurde im Gang
						des Gebäudes, das den politischen Gefangenen vorbehalten war, ein junger
						Georgier verprügelt. Das finstere Wort »Provokateur« machte die Runde. Nur die
						Wachsoldaten waren schließlich imstande, der Prügelei ein Ende zu machen; der
						blutüberströmte Körper wurde auf einer Tragbahre ins Gefängnislazarett
						gebracht. Handelte es sich um einen Provokateur, und wenn ja, warum wurde er
						nicht umgebracht? »Im Bailow-Gefängnis wurden erwiesene
						Provokateure getötet«, bemerkt Wereschtschak nebenbei. »Niemand wußte etwas und
						niemand verstand etwas; erst lange Zeit später wurde bekannt, daß das Gerücht
						von Koba ausgegangen war.« Niemals hat festgestellt werden können, ob der
						blutig Geschlagene tatsächlich ein Provokateur gewesen war. War er nur einer
						von den Arbeitern, die sich gegen die Expropriationen ausgesprochen oder Koba
						vorgeworfen hatten, Schaomyan denunziert zu haben?
						
						Ein anderer
						Fall. Auf den Treppenstufen, die zum Gebäude der »Politischen« hinaufführten,
						stach ein als »der Grieche« bekannter Gefangener einen jungen Arbeiter nieder,
						der eben erst ins Gefängnis eingeliefert worden war. Der Grieche bezeichnete
						den Mann, den er getötet hatte, als einen Spion, obwohl er ihn niemals vorher
						gesehen hatte. Dieser blutige Vorfall, der natürlich im ganzen Gefängnis große
						Erregung hervorrief, blieb lange ungeklärt. Schließlich deutete der Grieche an,
						er sei absichtlich »mißleitet« worden – die falsche Information war von Koba
						ausgegangen.
						
						Die
						Kaukasier sind leicht in Erregung zu bringen, und das Messer sitzt ihnen
						locker. Dem kalten und berechnenden Koba, der mit der Sprache und den
						Gewohnheiten seiner Landsleute gut vertraut war, fiel es nicht schwer, einen
						gegen den anderen aufzuhetzen. In beiden Fällen handelte es sich zweifellos um
						Racheakte. Daß die Opfer den Urheber ihres Mißgeschicks kannten, daran war der
						Anstifter nicht interessiert. Koba ist nicht geneigt, seine Gefühle mit
						jemandem zu teilen, auch nicht die Befriedigung über eine gelungene Rache. Er zieht
						vor, sie selbst und allein zu genießen. Beide Episoden, so übel sie sein mögen,
						haben nichts Unwahrscheinliches; spätere Ereignisse machen sie um so
						wahrscheinlicher ... Die späteren Ereignisse bereiten sich im Bailow-Gefängnis
						vor. Koba sammelt Kräfte und Erfahrungen, Koba reift heran. Der Schatten, den
						die farblose Gestalt des pockennarbigen ehemaligen Seminaristen wirft, wird
						düsterer.
						
						Fernerhin
						berichtet Wereschtschak, aber nur noch vom Hörensagen, von den verschiedensten
						gefährlichen Unternehmungen Kobas während seiner Parteitätigkeit in Baku: über
						die Organisation von Falschmünzerbanden, über Raubüberfälle auf öffentliche
						Kassen und andere Dinge mehr. »Er ist niemals für eine dieser Affären vor
						Gericht gekommen, obwohl die Falschmünzer und die Expropriateure mit ihm
						zusammen im Gefängnis waren.« Wenn sie seine Rolle gekannt
						hätten, hätte ihn sicher einer unter ihnen verraten. »Diese Fähigkeit, sein
						Ziel mit Hilfe anderer zu erreichen und dabei selbst völlig unbemerkt zu
						bleiben, hat aus Koba einen verschlagenen Intriganten gemacht, der vor keinem
						Mittel zurückschreckt und der sich jeder öffentlichen Rechenschaft und aller
						Verantwortung entzieht.«
						
						So wissen
						wir über Kobas Leben im Gefängnis mehr als über seine Tätigkeit in der
						Freiheit. Aber beiderorts blieb er sich selber treu. Über die Diskussionen mit
						den Volkstümlern und die Unterhaltungen mit den Gaunern vergaß er seine
						revolutionäre Organisation nicht. Beria informiert uns darüber, daß es Koba
						gelang, vom Gefängnis aus eine regelmäßige Verbindung mit dem Bakuer Komitee
						herzustellen. Das war sehr wohl möglich: dort, wo die politischen nicht
						voneinander und von den kriminellen Gefangenen isoliert sind, ist es unmöglich,
						sie ganz von der Außenwelt abzuschneiden. Eine der Ausgaben der illegalen Zeitung
						wurde ausschließlich im Gefängnis vorbereitet. Der Puls der Revolution ging
						schwach, aber er schlug weiter. Wenn das Gefängnis nicht Kobas Interesse für
						die Theorie erhöhte, so brach es doch auch seinen Kampfgeist nicht.
						
						Am 20.
						September wurde Koba nach Solwitschegodsk im nördlichen Teil der Provinz
						Wologda verschickt. Nur auf zwei Jahre verbannt zu werden, nicht nach Sibirien,
						sondern ins europäische Rußland, nicht in ein Dorf, sondern in eine kleine
						Stadt mit zweitausend Einwohnern und günstigen Möglichkeiten für die Flucht,
						das hieß, mit Vorzug behandelt worden zu sein. Daraus geht klar hervor, daß die
						Polizei nicht den bescheidensten Beweis gegen Koba in den Händen hatte. Die
						äußerst billigen Lebenshaltungskosten in so weitab liegenden Regionen machten es
						den Verbannten möglich, mit den paar Rubeln auszukommen, die ihnen jeden Monat
						von der Regierung zugeteilt wurden; bei unvorhergesehenen Ausgaben halfen ihnen
						Freunde und das revolutionäre Rote Kreuz. Wie Koba die neun Monate in
						Solwitschegodsk verbrachte, was er tat, was er studierte, wissen wir nicht.
						Darüber sind keinerlei Dokumente veröffentlicht worden, weder Schriften, noch
						Tagebücher, noch Briefe. In den Akten der lokalen Polizeibehörde über den »Fall
						Josef Dschugaschwili« ist unter »Betragen« zu lesen: »Grob, unverschämt und
						respektlos den Behörden gegenüber.« Wenn »Respektlosigkeit« ein allen
						Revolutionären gemeinsamer Zug war, so war die »Grobheit« eine individuelle
						Eigenschaft Kobas.
						
						Im Frühjahr 1909 erhielt Allilujew, der damals in Petersburg
						lebte, von Koba aus der Verbannung einen Brief mit der Bitte um Angabe seiner
						Adresse. »Und Ende Sommer desselben Jahres flüchtete Stalin aus der Verbannung
						und kam nach Petersburg, wo ich ihn zufällig in einer Straße des
						Litjeny-Viertels traf.« Stalin hatte Allilujew weder zu Hause noch auf seinem
						Arbeitsplatz angetroffen und hatte lange ziellos in den Straßen umherlaufen
						müssen. »Er war völlig erschöpft, als ich ihn zufällig auf der Straße traf.«
						Allilujew brachte Koba bei dem Hausmeister eines Garderegiments unter, der mit
						der Revolution sympathisierte. »Dort ruhte sich Stalin eine Weile aus, traf
						sich mit einigen bolschewistischen Abgeordneten der Dritten Duma und reiste
						dann wieder nach dem Süden ab, nach Baku.«
						
						Wieder nach
						Baku! Es war wohl kaum Lokalpatriotismus, was ihn dorthin zog. Vielmehr muß
						angenommen werden, daß Koba in Petersburg völlig unbekannt war, daß die
						Duma-Abgeordneten kein besonderes Interesse für ihn an den Tag legten, daß ihn
						niemand zum Bleiben aufforderte oder ihm die Hilfe anbot, die jeder Illegale
						unbedingt brauchte. »Wieder in Baku, ging er mit Energie daran, die
						bolschewistische Organisation zu festigen ... Im Oktober 1909 ging er nach
						Tiflis und organisierte und leitete den Kampf der Tifliser bolschewistischen
						Organisation gegen die menschewistischen Liquidatoren.« Der Leser hat sicher
						schon Berias Stil erkannt.
						
						In der
						illegalen Presse veröffentlichte Koba einige Artikel, die einzig und allein
						deshalb interessant sind, weil sie von dem zukünftigen Stalin geschrieben worden
						sind. In Ermangelung irgendwelcher hervorhebenswerter Dinge verleiht man heute
						einem von Koba verfaßten und im Dezember 1909 vom ausländischen Parteiorgan
						veröffentlichten Brief außergewöhnliche Bedeutung. Der »Brief aus dem Kaukasus«
						stellt dem aktiven Industriezentrum Baku die leblose Beamtenstadt Tiflis mit
						ihren Händlern und Handwerkern gegenüber und erklärt ganz richtig das
						Übergewicht der Menschewiki in Tiflis mit dessen sozialer Struktur. Folgt eine
						Polemik gegen Jordania, nach wie vor Führer der georgischen Sozialdemokratie,
						der abermals die notwendige »Vereinigung der Kräfte der Bourgeoisie und des
						Proletariats« proklamierte – auf eine Politik der Unversöhnlichkeit müßten die
						Arbeiter verzichten, denn, so argumentierte Jordania, »je schwächer der
						Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist, um so größer wird der
						Sieg der bürgerlichen Revolution sein«. Koba vertrat die
						entgegengesetzte These: »Je mehr sich die Revolution auf den Klassenkampf des
						Proletariats stützt, das die Dorfarmut gegen den Großgrundbesitz und die
						liberale Bourgeoisie führt, um so vollständiger wird der Sieg der Revolution
						sein.« Das alles war im Grunde völlig richtig, enthielt aber durchaus nichts
						Neues; seit dem Frühjahr 1905 war die gleiche Polemik unzählige Male wiederholt
						worden. Wenn dieser Brief irgendeinen Wert für Lenin hatte, dann nicht, weil er
						seine eigenen Ideen in der Form eines Schulaufsatzes wiederholte, sondern weil
						er eine lebendige Stimme aus Rußland bedeutete, und zwar in einer Zeit, wo fast
						alle Stimmen schwiegen. Nichtsdestoweniger wurde 1937 der »Brief aus dem
						Kaukasus« zum »klassischen Beispiel für die leninistisch-stalinistische Taktik«
						erklärt. »In unserer Literatur und im Unterricht«, schreibt ein Panegyriker,
						»ist dieser inhaltsreiche und in seiner Tiefe und historischen Bedeutung
						außergewöhnliche Artikel noch nicht genügend beleuchtet worden.«
						
						Der gleiche
						Geschichtsschreiber, ein gewisser Rabitschew, unterrichtet uns darüber, daß es
						»im März und April 1910 endlich gelang, ein Russisches Büro des Zentralkomitees
						zu schaffen. Stalin gehörte diesem Büro an. Alle Mitglieder des Büros wurden
						aber verhaftet, bevor es seine Arbeit aufnehmen konnte«. Wenn das wahr ist, so
						wäre Koba, zumindest der Form nach, im Jahre 1910 ins Zentralkomitee aufgenommen
						worden; ein Meilenstein in seiner Biographie! Aber es ist nicht wahr. Fünfzehn
						Jahre vor Rabitschew hat der alte Bolschewik Germanow (Frumkin) folgendes
						erklärt: »Bei einer Zusammenkunft zwischen Nogin und dem Verfasser dieser
						Zeilen wurde beschlossen, dem Zentralkomitee vorzuschlagen, als Russisches Büro
						des Zentralkomitees folgende Liste mit fünf Namen zu bestätigen: Nogin,
						Dubrowsky, Malinowsky, Stalin, Miljutin.« Es hat sich also nicht um eine
						Entschließung des Zentralkomitees gehandelt, sondern um einen Vorschlag zweier
						Bolschewiki. »Stalin war uns beiden persönlich bekannt«, fährt Germanow fort,
						»als einer der besten und aktivsten Bakuer Parteiarbeiter. Nogin ging nach
						Baku, um sich mit ihm zu besprechen; aber aus einer Reihe von Gründen konnte
						Stalin nicht die Verpflichtungen eines Mitglieds des Zentralkomitees auf sich
						nehmen.« Germanow gibt die hindernden Gründe nicht näher an. Nogin selbst
						schrieb zwei Jahre später über seine Bakuer Reise: »Stalin (Koba) lebte in der
						tiefsten Illegalität; er war damals im Kaukasus sehr bekannt und deshalb gezwungen, sich im Balachanischen Ölgebiet verborgen
						zu halten.« Aus Nogins Bericht geht hervor, daß er Koba selbst überhaupt nicht
						getroffen hat.
						
						Das
						Stillschweigen über die Gründe, die Stalin daran hinderten, in das Russische
						Büro des Zentralkomitees einzutreten, suggeriert die bedeutsamsten
						Schlußfolgerungen. Das Jahr 1910 war die Periode des tiefsten Niedergangs der
						Bewegung, in dem die versöhnlerischen Tendenzen am weitesten verbreitet waren.
						Im Januar fand in Paris eine Vollsitzung des Zentralkomitees statt, auf der die
						Versöhnler einen knappen Sieg davontrugen. Es wurde beschlossen, das
						Zentralkomitee in Rußland unter Beteiligung der Liquidatoren
						wiederherzustellen; Nogin und Germanow gehörten zu den versöhnlerischen
						Bolschewiki. Mit der Wiedererrichtung des »Russischen Büros«, das heißt der in
						Rußland selbst illegal tätigen Abteilung des Zentralkomitees, wurde Nogin
						beauftragt. Da es an bekannten Persönlichkeiten fehlte, wurden die
						verschiedensten Versuche gemacht, Parteiarbeiter aus der Provinz heranzuziehen.
						Unter ihnen Koba, den Nogin und Germanow als »einen der besten Parteiarbeiter
						in Baku« kannten. Jedoch wurde das Projekt nicht verwirklicht. Der gut
						unterrichtete Verfasser des deutschen Zeitungsartikels, von dem weiter oben die
						Rede war, behauptet, daß, obgleich »die offiziellen bolschewistischen
						Biographen versuchen, (seine) Expropriationen und den Ausschluß aus der Partei
						ungeschehen zu machen... die Bolschewiki selbst doch immer gezögert haben, Stalin
						an irgendeinen beachtenswerten Führungsposten zu stellen«. Man irrt wohl nicht,
						wenn man annimmt, daß die Noginsche Mission deshalb fehlschlug, weil Koba erst
						kurze Zeit vorher an einer »Kampfhandlung« teilgenommen hatte. Die Pariser
						Tagung hatte die »Expropriateure« als Leute gebrandmarkt, die »von schlecht
						verstandenem Parteiinteresse gelenkt« seien. Die für die Legalisierung
						kämpfenden Menschewiki konnten auf keinen Fall mit einem bekannten Organisator
						von Expropriationen zusammenarbeiten. Nogin begriff das scheinbar erst im
						Verlauf der Unterhaltungen, die er mit den führenden Menschewiki im Kaukasus
						hatte. Nie wurde ein Russisches Büro mit Koba als Mitglied gegründet. Vermerken
						wir noch, daß von den beiden Versöhnlern, deren Schützling Stalin gewesen war,
						der eine, Germanow, zu denen gehört, die spurlos verschwunden sind, während
						Nogin nur durch seinen vorzeitigen Tod im Jahre 1924 davor bewahrt wurde, das
						Schicksal der Rykow, Tomski, Germanow und all seiner
						anderen engsten Freunde zu teilen.
						
						Kobas Tätigkeit
						war in Baku, mag er nun die erste, zweite oder dritte Geige gespielt haben,
						zweifellos ein größerer Erfolg beschieden als in Tiflis. Doch gehört die
						Vorstellung, die Bakuer Organisation sei eine einzige uneinnehmbare Festung des
						Bolschewismus gewesen, ins Reich der Fabel. Lenin hat selbst unabsichtlich den
						Boden für diese Fabel geschaffen, als er Ende 1911 die Bakuer Organisation
						zusammen mit der von Kiew unter die »beispielgebenden und fortgeschrittensten
						im Rußland der Jahre 1910 und 1911« einreihte, das heißt der Jahre des
						vollständigen Zusammenbruchs und des beginnenden Wiederauflebens. »Die
						Organisation von Baku bestand ohne Unterbrechung während der schwierigen Jahre
						der Reaktion und nahm an allen Kundgebungen der Arbeiterbewegung aktiven Anteil«,
						heißt es in einer Fußnote zum XV. Bande von Lenins Werken. Beide Beurteilungen,
						die jetzt mit Kobas Tätigkeit in engsten Zusammenhang gebracht werden, haben
						sich bei näherer Prüfung als völlig falsch erwiesen. In Wirklichkeit hat Baku
						nach einem zeitweiligen Aufschwung die gleichen Stufen des Niedergangs
						durchschritten wie die anderen Industriezentren des Landes, mit einer gewissen
						Verspätung zwar, aber dafür mit noch schwerwiegenderen Begleiterscheinungen.
						
						Stopani
						schreibt darüber in seinen Memoiren: »Mit dem Beginn des Jahres 1910
						verschwindet das politische und gewerkschaftliche Leben in Baku vollständig.«
						Einige Überbleibsel der Gewerkschaften existierten noch eine Zeitlang, aber sie
						standen unter dem Einfluß der Menschewiki. »Bald war es mit der bolschewistischen
						Tätigkeit gänzlich aus, da viele Genossen verhaftet wurden und es überhaupt an
						aktiven Leuten fehlte. Dazu kam das allgemeine Chaos überhaupt.« Noch schlimmer
						war die Lage im Jahre 1911. Ordschonikidse, der Baku im März 1912 besuchte, als
						die neue Flut schon im ganzen Lande merklich anzusteigen begann, schrieb ins
						Ausland: »Gestern ist es mir endlich gelungen, mit einigen Arbeitern
						zusammenzukommen... Es gibt hier keine Organisation und kein lokales Zentrum,
						darum muß man sich mit privaten Diskussionen begnügen ...« Diese beiden
						Bekundungen sind charakteristisch genug; erinnern wir uns darüber hinaus noch
						der bereits angeführten Aussage Olminskis, daß »der Wiederaufstieg am
						langsamsten in den Städten vor sich geht, wo es die meisten Expropriationen
						gegeben hat (Baku und Saratow)«. Lenins Fehler in der
						Einschätzung der Bakuer Organisation gehört in die Reihe der Irrtümer, denen
						der Emigrant normalerweise unterworfen ist, wenn er von der Ferne her urteilen
						soll, nur auf parteiische und unvollständige Informationen gestützt unter denen
						sich sehr wohl übertrieben optimistische Informationen von Koba selbst befunden
						haben können.
						
						Das Bild der
						allgemeinen Verhältnisse zeichnet sich klar genug ab: Koba nahm an der
						Gewerkschaftsbewegung keinen wirklichen Anteil; die Gewerkschaftsbewegung war
						zu jener Zeit der Hauptkampfschauplatz (Karinian, Stopani). Er sprach nicht auf
						Arbeiterversammlungen (Wereschtschak), sondern lebte in der »tiefsten
						Illegalität« (Nogin). Er konnte aus einer »Reihe von Gründen« nicht in das
						Russische Büro des Zentralkomitees eintreten (Germanow). In Baku waren die »Ex«
						zahlreicher als anderswo gewesen (Olminski) und ebenso individuelle Terrorakte
						(Wereschtschak). Koba war mit der direkten Leitung der Bakuer »Kampfgruppen«
						betraut (Wereschtschak, Martow und andere). Eine solche Tätigkeit verlangte
						zweifellos das Untertauchen in die »tiefste Illegalität«, weit von den Massen.
						Eine Zeitlang konnte die Existenz der illegalen Organisation mit geraubtem Geld
						künstlich aufrechterhalten werden. Um so stärker machte sich die Reaktion
						fühlbar und um so später begann die Wiedergeburt. Diese Schlußfolgerung hat
						nicht nur biographische, sondern auch theoretische Bedeutung, sie rückt
						bestimmte allgemeine Gesetze der Massenbewegung ins rechte Licht.
						
						Am 24. März
						1910 meldete der Gendarmeriehauptmann Martinow die Verhaftung von Josef
						Dschugaschwili, unter dem Namen Koba bekannt, Mitglied des Bakuer Komitees,
						»einer der aktivsten Parteiarbeiter, der eine führende Stellung einnimmt«
						(vorausgesetzt, daß dieses Dokument nicht von Berias Hand korrigiert worden
						ist). Im Zusammenhang mit dieser Verhaftung richtet sich ein anderer Polizist
						an die nächsthöhere Instanz: »Im Hinblick auf die ständige Beteiligung«
						Dschugaschwilis an revolutionärer Tätigkeit und seine »zweimalige Flucht«,
						möchte er, Hauptmann Galimbatowsky, »vorschlagen, zum höchsten Strafmaß zu
						greifen«. Man muß nicht glauben, daß er dabei an die Hinrichtung dachte: »das
						höchste Strafmaß« unter den administrativ verordneten Strafen bedeutete
						Verbannung in die entlegensten Orte Sibiriens für die Zeit von fünf Jahren.
						
						Koba war
						unterdes im Bakuer Gefängnis, das er nun schon gut kannte. Die politische Lage
						im Lande und das Regime in den Gefängnissen hatten sich in
						den vergangenen anderthalb Jahren grundlegend geändert. Man schrieb 1910. Die
						Reaktion war auf der ganzen Linie siegreich. Nicht nur die Massenbewegung, auch
						die Expropriationen, die Terrorakte, die individuellen Verzweiflungstaten waren
						auf dem Tiefpunkt angelangt. Das Gefängnis war weniger lärmend und viel
						strenger geworden. Von gemeinschaftlichen Diskussionen war keine Rede mehr.
						Koba hatte Zeit genug, Esperanto zu lernen, sofern er nicht inzwischen seine
						Begeisterung für die Sprache der Zukunft verloren hatte. Am 27. August wurde
						auf Anordnung des kaukasischen Generalgouverneurs Dschugaschwili der Aufenthalt
						in Transkaukasien für fünf Jahre untersagt. Doch die Vorschläge Hauptmann
						Galimbatowskys, der offenbar über keine schwerwiegenden Beweise verfügte,
						fanden in Petersburg taube Ohren: Koba wurde in die Provinz Wologda
						zurückgeschickt, um dort die unterbrochene zweijährige Verbannung zu beenden.
						Die Petersburger Behörden erblickten offensichtlich in Josef Dschugaschwili
						noch keine ernsthafte Gefahr.
								 
 
