Leo Trotzki: Stalin. Fünftes Kapitel: Der neue Aufstieg
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Fünftes Kapitel.
Der neue Aufstieg
Über fünf
Jahre lang (1906-1911) war Stolypin Herr und Meister des Landes. Er erschöpfte
alle Mittel und Möglichkeiten der Reaktion. Das »Regime des Dritten Juni«
brachte es fertig, auf allen Gebieten Bankrott zu machen, besonders auf dem der
Landwirtschaft. Stolypin war genötigt, von den politischen Kombinationen zum
Polizeiknüttel herabzusteigen. Und wie um den Zusammenbruch des Systems noch
deutlicher zu machen, kam der Mörder Stolypins aus den Reihen seiner eigenen
Geheimpolizei.
Im Jahre
1910 wurde der industrielle Aufschwung zur unbezweifelbaren Tatsache. Die
revolutionären Parteien standen vor der Frage: welche Auswirkungen würde die
veränderte Lage auf die politische Situation des Landes haben? Die Mehrheit unter
den Sozialdemokraten hielt an einer schematischen Stellungnahme fest: die Krise
revolutioniert die Massen, der industrielle Aufstieg stellt
sie zufrieden. Beide Fraktionen, Bolschewiki und Menschewiki, hatten die
Tendenz, den neuen Aufschwung, der schon begonnen hatte, in seiner Bedeutung zu
mindern oder ihn überhaupt zu leugnen. Eine Ausnahme machte die Wiener Zeitung
»Prawda«, die ungeachtet ihrer versöhnlerischen Illusionen den völlig richtigen
Standpunkt vertrat, daß die politischen Konsequenzen sowohl eines Aufstiegs als
auch einer Krise keineswegs automatisch sind, sondern jedesmal von neuem in
Abhängigkeit von den voraufgegangenen Kämpfen und der ganzen Lage des Landes
bestimmt werden. So kann sich in der Folge eines industriellen Aufschwungs, in
dessen Verlauf ausgedehnte Streikkämpfe stattgefunden haben, bei einem
plötzlichen Konjunkturrückschlag eine direkte revolutionäre Bewegung
entwickeln, wenn die sonstigen dazu notwendigen Vorbedingungen erfüllt sind.
Andererseits kann eine industrielle Krise nach einer langen Periode
revolutionärer Kämpfe, die mit einer Niederlage geendet haben, das Proletariat
schwächen und uneinig machen und seinen Kampfgeist endgültig brechen. Oder
aber, tritt ein industrieller Aufschwung nach einer langen Periode der Reaktion
ein, so ist er imstande, die Arbeiterbewegung von neuem zu beleben, vor allem
in Form von wirtschaftlichen Kämpfen, wonach eine neue Krise die Energie der
Massen wieder in politische Bahnen lenken kann.
Der
Russisch-Japanische Krieg und die revolutionären Erschütterungen hatten Rußland
gehindert, an dem industriellen Aufschwung in der Welt von 1903 bis 1907
teilzunehmen. In der Zwischenzeit hatten die unaufhörlichen revolutionären
Kämpfe, die Niederlagen und die Repression die Kraft der Massen aufgebraucht.
Die industrielle Weltkrise, die im Jahre 1907 ausbrach, verlängerte die
Depression in Rußland um drei weitere Jahre und, weit entfernt davon, die
Arbeiterschaft zu neuen Kämpfen zu ermuntern, zermürbte und schwächte sie diese
mehr denn je. Unter den Schlägen der Aussperrungen, der Arbeitslosigkeit und
des Elends verloren die erschöpften Massen jeden Mut. Solcherart war die
materielle Basis der »Erfolge« der Stolypinschen Reaktion. Das Proletariat
brauchte den Jungbrunnen eines neuen industriellen Aufschwungs, um wieder
Kräfte zu sammeln, seine Reihen wieder aufzufüllen, sich wieder als
unentbehrlicher Produktionsfaktor zu fühlen und neue Kämpfe zu wagen.
Ende 1910
fanden wieder Straßendemonstrationen statt die man seit langem nicht mehr
gesehen hatte –, und zwar im Zusammenhang mit dem Tode von
Muromtsew, dem liberalen ehemaligen Vorsitzenden der Ersten Duma, und von Leo
Tolstoi. Die Studentenbewegung trat in eine neue Phase ein. Oberflächlich
betrachtet – wie es der historische Idealismus gewöhnlich tut – konnte es
scheinen, als läge die Brutstätte der politischen Neubelebung innerhalb einer
dünnen Schicht von Intellektuellen, die durch die Kraft ihres Beispiels die
oberen Schichten der Arbeiterklasse nach sich zu ziehen begännen. In
Wirklichkeit aber ging der Anstoß zu der neuen Welle nicht von oben aus,
sondern von unten. Dank der wirtschaftlichen Wiederbelebung erwachte die
Arbeiterschaft nach und nach aus der Betäubung. Bevor jedoch der chemische
Wandlungsprozeß in den Massen offen zum Ausdruck kam, übertrug er sich durch
die sozialen Zwischenschichten auf die Studenten. Die akademische Jugend setzt
sich leichter in Bewegung – deshalb äußerte sich die Wiederbelebung zuerst in
Form studentischer Kundgebungen. Doch für den geübten Beobachter war es von
vornherein klar, daß die Intellektuellenkundgebungen nur Symptome eines viel
tiefer liegenden und bedeutenderen Prozesses im Proletariat waren.
So begann
denn auch die Kurve der Streikbewegungen bald anzusteigen. Allerdings erreichte
die Zahl der Streikenden im Jahre 1911 höchstens 100 000 (im Vorjahre
hatte sie nicht die Hälfte davon betragen), jedoch zeigt die Langsamkeit des
Wiedererwachens nur, wie tief die zu überwindende Betäubung war. Auf alle Fälle
boten die Arbeiterbezirke am Ende des Jahres einen ganz anderen Anblick als am
Anfang. Auf die guten Ernten der Jahre 1909 und 1910, die den Aufschwung der
Industrie beschleunigten, folgte die katastrophale Mißernte von 1911, die, ohne
die industrielle Wiederbelebung aufzuhalten, zwanzig Millionen Bauern in eine
Hungersnot stürzte. Die von den Dörfern ausgehende Unruhe setzte von neuem die
Agrarfrage auf die Tagesordnung. Die bolschewistische Konferenz vom Januar 1912
stellte mit vollem Recht den »Anfang einer politischen Wiederbelebung« fest.
Ein plötzlicher Umschwung fand jedoch erst im Frühjahr 1912 statt, nach der
bekannten Niedermetzelung der Arbeiter an der Lena. In der tiefsten »Taiga«,
über 7000 Werst von Petersburg und 2000 Werst von der nächsten Bahnlinie
entfernt, forderten die Parias der Goldminen, die jedes Jahr Millionen von
Profit für die englischen und russischen Aktionäre abwarfen, den
Achtstundentag, Lohnerhöhungen und die Abschaffung der
Geldbußen. Die von Irkutsk herbeigeholten Soldaten schössen auf die
unbewaffnete Menge. 150 Tote, 250 Verwundete; ohne ärztliche Hilfe gelassen,
starben die Verwundeten zu Dutzenden.
Im Verlauf
der Dumadebatten über die Ereignisse an der Lena erklärte der Innenminister
Makarow, ein sturer Verwaltungsbeamter, weder besser noch schlechter als seine
Amtskollegen, unter dem Beifall der rechten Abgeordneten: »So war es und so
wird es wieder sein!« Diese erstaunlich unverschämten Worte wirkten wie ein
elektrischer Schock. Zuerst von den Petersburger Fabriken, dann aus dem ganzen
Lande liefen telephonisch und telegraphisch Nachrichten über
Protestentschließungen und -demonstrationen ein. Die Antwort auf die Ereignisse
an der Lena konnte nur mit der Welle von Empörung verglichen werden, die sieben
Jahre zuvor der Blutige Sonntag hervorgerufen hatte. »Niemals vielleicht seit
den Tagen von 1905«, schrieb eine liberale Zeitung, »sind die Straßen der
Hauptstadt so angefüllt gewesen.«
Stalin
befand sich in diesen Tagen in Petersburg, zwischen zwei Deportationen. »Die
Schüsse an der Lena haben das Eis des Schweigens gebrochen«, schrieb er in der
Zeitung »Swjesda« (»Der Stern«), von der zu sprechen wir noch Gelegenheit haben
werden, »und der Fluß des Volkszorns hat sich in Bewegung gesetzt. Es hat
begonnen! ... All das, was an dem gegenwärtigen Regime schlecht und verderblich
ist, alles, was das leidende Rußland martert, alles das ist in der einen
Tatsache der Lena-Ereignisse vereinigt. Deshalb waren die Schüsse von der Lena
das Signal für Streiks und Demonstrationen.«
An den
Streiks nahmen über 300 000 Arbeiter teil. Am ersten Mai streikten
400 000 Arbeiter. Offiziellen Angaben nach betrug die Gesamtzahl der
Streikenden im Jahre 1912 725 000. Die Anzahl der Arbeiter war in den
Jahren des industriellen Aufschwungs um nicht weniger als 20 % gewachsen;
ihre wirtschaftliche Bedeutung war infolge der fieberhaften Konzentration der
Produktion noch um viel mehr angestiegen. Das Wiedererwachen der Arbeiterklasse
griff auf alle anderen Schichten der Bevölkerung über. Das hungrige Dorf
rumorte gewitterschwanger. In Armee und Flotte flackerten Ausbrüche der
Unzufriedenheit auf. »Das revolutionäre Erwachen in Rußland«, schrieb Lenin an
Gorki im August 1912, »ist entschieden revolutionär.«
Die neue Bewegung war nicht die Wiederholung der
alten, sondern ihre Fortsetzung. Der mächtige Januarstreik des Jahres 1905 war
von einer naiven Bittschrift an den Zaren begleitet gewesen. Im Jahre 1912
stellen die Arbeiter unmittelbar die Losung der demokratischen Republik auf.
Die Ideen, Traditionen und organisatorischen Erfahrungen von 1905, bereichert
durch die harte Lehre der Jahre der Reaktion, befruchteten die neue
revolutionäre Periode. Von Anbeginn an fiel die führende Rolle den Arbeitern
zu. Innerhalb der proletarischen Vorhut führten die Bolschewiki. Das kündete im
Grunde schon den Charakter der kommenden Revolution an, obwohl sich die
Bolschewiki selbst darüber noch nicht klar Rechenschaft ablegten. Der
wirtschaftliche Aufschwung, indem er das Proletariat stärkte und ihm eine
gewaltige Rolle im wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes sicherte,
gab der Perspektive der permanenten Revolution eine stärkere Unterlage. Die
Reinigung der Ställe des alten Regimes konnte mit nichts anderem durchgeführt
werden, als mit dem Besen der proletarischen Diktatur. Die demokratische
Revolution konnte nur siegen, indem sie sich in die sozialistische Revolution
verwandelte, indem sie also über sich selbst hinausging.
Das war
weiterhin die Stellungnahme des »Trotzkismus«. Er hatte aber seine
Achillesferse: sein Versöhnlertum, verbunden mit der Hoffnung auf eine
revolutionäre Erneuerung des Menschewismus. Das Wiedererwachen – »entschieden
revolutionär« – versetzte dem Versöhnlertum einen Schlag, von dem es sich nicht
mehr erholen konnte. Der Bolschewismus stützte sich auf die revolutionäre
Vorhut des Proletariats und lehrte es, die armen Bauern mit sich zu reißen. Der
Menschewismus stützte sich auf die dünne Schicht der Arbeiteraristokratie und
war der liberalen Bourgeoisie zugewandt. In dem Augenblick, wo die Massen von
neuem in offenem Kampf auf die Arena traten, konnte von einer »Versöhnung«
dieser beiden Fraktionen keine Rede sein. Die Versöhnler waren gezwungen, neue
Stellungen zu beziehen: die Revolutionäre mit den Bolschewiki, die
Opportunisten mit den Menschewiki.
Koba blieb
diesmal über acht Monate in der Verbannung. Von seinem Leben in
Solwytschegodsk, von den Deportierten, mit denen er zusammenkam, von den
Büchern, die er las, von den Problemen, mit denen er sich auseinandersetzte –
von all dem ist so gut wie nichts bekannt. Aus zweien seiner Briefe aus dieser Periode geht hervor, daß er im Ausland erscheinende
Druckschriften erhielt und die Möglichkeit hatte, das Leben der Partei zu
verfolgen, genauer das der Emigration, in der der Kampf der Fraktionen in eine
entscheidende Phase eingetreten war. Plechanow und mit ihm eine geringe Gruppe
seiner Anhänger hatte von neuem mit seinen nächsten Freunden gebrochen und
verteidigte die illegale Partei gegen die Liquidatoren – ein letztes Aufflammen
des Radikalismus im Leben dieses bedeutenden Mannes, der dem baldigen Verfall
entgegenging. So bildete sich der überraschende, paradoxe und kurzlebige Block
Lenin-Plechanow. Auf der anderen Seite hatte sich eine Annäherung zwischen den
Liquidatoren (Martow und seine Freunde), den »Wperjodisten« (»Vorwärts«,
Bogdanow, Lunatscharsky) und den »Versöhnlern« (Trotzky) ergeben. Dieser zweite
Block, völlig ohne prinzipielle Basis, wurde bis zu einem gewissen Grade zur
Überraschung der Teilnehmer selbst gebildet. Die Versöhnler versuchten immer
noch, die Bolschewiki mit den Menschewiki zu »versöhnen«; da nun aber der
Bolschewismus in der Person Lenins unerbittlich die bloße Idee irgendeines
Übereinkommens mit den Liquidatoren zurückwies, gerieten die Versöhnler ganz
natürlicherweise in die Position, ein Bündnis oder ein halbes Bündnis mit den
Menschewiki und den »Wperjodisten« abzuschließen. Der Zement, der diesen
episodischen Block zusammenhielt, war, wie Lenin an Gorki schrieb, der »Haß
gegen die bolschewistische Zentrale wegen ihres unerbittlichen Kampfes für ihre
Ideen«. Die Frage der zwei Blocks war Gegenstand lebhafter Diskussionen in den
dünngesäten Reihen der Partei jener Tage.
Am 31.
Dezember 1910 schrieb Stalin ins Ausland, nach Paris: »Genosse Simon! Gestern
habe ich von den Genossen Ihren Brief erhalten. Zuerst, heiße Grüße an Lenin,
Kamenew und die anderen.« Dieser Gruß wird wegen des Namens Kamenew nicht mehr
abgedruckt. Folgt eine Einschätzung der Situation in der Partei. »Nach meiner
Meinung ist die Linie des Blocks (Lenin-Plechanow) die einzig normale... Lenins
Hand ist in dem Plan des Blocks sichtbar – er ist ein schlauer Muschik und
weiß, auf welcher Seite das Brot gebuttert ist. Das heißt aber nicht, daß
einfach jeder Block gut ist. Der trotzkistische Block (er würde ›Synthese‹
sagen) ist verfaulte Prinzipienlosigkeit... Der Block Lenin-Plechanow ist
lebensfähig, weil er auf soliden Grundsätzen errichtet ist und auf
einheitlichen Anschauungen in der Frage der Mittel für die
Regeneration der Partei basiert. Aber gerade weil es ein Block ist und nicht
eine Vereinigung, brauchen die Bolschewiki ihre eigene Fraktion.« All das
stimmte mit Lenins Ansichten überein und war im Grunde nicht mehr als eine
Wiederholung seiner Artikel, die Stalin dazu diente, als prinzipientreu zu
erscheinen. Nachdem er dann so ganz nebenbei erklärt, daß die »Hauptsache«
schließlich nicht die Emigration sei, sondern die praktische Arbeit in Rußland,
beeilt sich Stalin zu erklären, daß praktische Arbeit »Anwendung der
Prinzipien« bedeutet. Und nachdem er seine Stellung durch Wiederholung des magischen
Wortes »Prinzipien« verstärkt hat, nähert sich Koba dem entscheidenden Punkte.
»...Nach meiner Meinung«, schreibt er, »ist unsere erste Aufgabe, die keine
Verzögerung duldet, die Organisierung einer zentralen (russischen) Gruppe, die
die illegale, halblegale und legale Arbeit koordiniert ... Solch eine Gruppe
ist so notwendig wie die Luft, wie das Brot.« Dieser Plan enthielt an sich
nichts Neues. Lenin hatte seit dem Londoner Parteitag mehr als einmal den
Versuch gemacht, wieder eine russische Abteilung des Zentralkomitees zu
errichten, aber der Verfall der Partei hatte diese Versuche zum Scheitern
verurteilt. Koba schlug die Einberufung einer Parteiarbeiterkonferenz vor. »Es
ist sehr gut möglich, daß sich auf dieser Konferenz die Leute für die oben
erwähnte Zentralgruppe finden.« Und nachdem er seinen Wunsch geäußert hat, das
Schwergewicht der Parteiarbeit vom Ausland nach Rußland verlegt zu sehen,
beeilt sich Koba abermals, allen möglichen Befürchtungen Lenins zuvorzukommen:
»Es ist notwendig, entschlossen und unerbittlich zu handeln, ohne die Vorwürfe
der Liquidatoren, Trotzkisten und Wperjodisten zu scheuen ...« Mit gespielter
Bescheidenheit schreibt er über die beabsichtigte Zentralgruppe: »Nennen Sie es
wie Sie wollen, ›russische Abteilung des Zentralkomitees‹ oder ›Assistenzgruppe
des Zentralkomitees‹, das ist gleichgültig.« Die geheuchelte Gleichgültigkeit
war dazu bestimmt, Kobas persönliche Ambitionen zu verdecken. »Nun zu mir
selbst. Mir bleiben noch sechs Monate abzusitzen. Dann kann ich den Dienst
wieder aufnehmen. Wenn der Bedarf an Parteiarbeitern sehr dringend ist, kann
ich hier auch sofort verschwinden.« Das Ziel des Briefes ist klar: Koba stellt
seine Kandidatur auf. Er will endlich auch Mitglied des Zentralkomitees werden.
Ein unerwartetes
Licht wirft ein anderer, an die Moskauer Bolschewiki gerichteter Brief auf
seine ansonst durchaus nicht tadelnswerten persönlichen
Ambitionen. »Der Kaukasier Sosso schreibt Euch«, so beginnt der Brief;
»erinnert Euch an 04 in Tiflis und Baku. Zuerst heiße Grüße für Olga, für Sie
und Germanow. I. M. Golubew, mit dem ich meine Verbannungstage verbringe, hat
mir von Euch allen erzählt. Germanow kennt mich als K-b-a (er wird schon
verstehen).« Es ist erstaunlich, daß Koba noch im Jahre 1911 gezwungen ist,
sich alten Parteimitgliedern mit Hilfe indirekter und rein zufälliger Hinweise
in Erinnerung zu rufen: er war noch unbekannt oder lief Gefahr, in
Vergessenheit zu geraten. »Im Juli dieses Jahres bin ich fertig (mit der
Verbannung),« fährt er fort. »Iljitsch und Co. berufen mich in eine der beiden
Zentralen, ohne auf das Ende meiner Zeit zu warten. Ich möchte lieber bis zu
Ende bleiben (ein legaler Mensch hat mehr Möglichkeiten) ... Doch wenn der
Bedarf groß ist (ich warte auf ihre Antwort), dann werde ich natürlich sofort
verschwinden ... Hier kommt man um vor Nichtstun, ich ersticke förmlich.«
Vom
Gesichtspunkt der elementarsten Vorsicht aus macht dieser Briefteil erstaunen.
Ein Verbannter, dessen Briefe jederzeit der Polizei in die Hände fallen können,
schreibt, ohne offensichtliche praktische Notwendigkeit, ihm fast unbekannten
Parteimitgliedern von seinem konspirativen Briefwechsel mit Lenin, davon, daß
man ihn veranlassen will, zu fliehen und daß er, wenn nötig, »natürlich sofort
verschwinden« wolle. Wie wir sehen werden, geriet der Brief tatsächlich in die
Hände der Gendarmen, die mühelos die Identität des Absenders und aller von ihm
erwähnten Personen feststellten. Für diese Unvorsichtigkeit gibt es nur eine
Erklärung: ungeduldige Eitelkeit! »Der Kaukasier Sosso«, den man 1904
vielleicht nicht genügend beachtet hatte, kann der Versuchung nicht
widerstehen, die Moskauer Bolschewiki davon zu unterrichten, daß ihn Lenin
selbst unter die zentralen Parteiarbeiter einreiht. Immerhin spielt die
Eitelkeit nur eine Nebenrolle. Der Schlüssel zu diesem rätselhaften Briefe
findet sich in seinem letzten Abschnitt.
»Von dem
›Sturm im Wasserglas‹ im Ausland haben wir natürlich gehört: die Blocks von
Lenin-Plechanow einerseits und von Trotzky-Martow-Bogdanow andererseits. Die
Haltung der Arbeiter dem ersten Block gegenüber ist günstig, soviel ich weiß.
Aber im allgemeinen fangen die Arbeiter an, mit Geringschätzung auf die
Emigration herabzusehen: ›sollen die doch nach den Sternen greifen, sooft ihnen
der Kopf danach steht; uns aber gehen die Interessen der
Bewegung über alles andere – wir arbeiten, der Rest wird schon von selber
kommen.‹ Ich denke, daß es so am besten ist.«
Überraschende
Zeilen! Lenins Kampf gegen die Liquidatoren und Versöhnler wird von Stalin als
ein »Sturm im Wasserglas« angesehen! »Die Arbeiter«, und mit ihnen Stalin,
»fangen an, mit Geringschätzung auf die Emigration«, also auch auf den
bolschewistischen Generalstab, »herabzusehen«! »Uns aber gehen die Interessen
der Bewegung über alles«, – »wir arbeiten, der Rest wird schon von selber
kommen.« Die Interessen der Bewegung scheinen in keinerlei Zusammenhang zu
stehen mit dem theoretischen Kampf, durch den das Programm für die Bewegung
herausgearbeitet wird.
So
unglaublich es auch scheinen mag: die beiden Dokumente wurden in einem Abstand
von höchstens 24 Tagen abgefaßt. In dem Brief an Lenin scheinen die
Abgrenzungen und Umgruppierungen, die sich im Auslande ergeben, eine
entscheidende Bedeutung für die Arbeit in Rußland zu haben. Diese Arbeit selbst
ist bescheiden als eine »Anwendung« der von der Emigration aufgestellten
»Prinzipien« definiert. In dem Brief an die russischen »Praktiker« sind die
Emigrationskämpfe in ihrer Gesamtheit nur noch ein Objekt des Spottes. Wenn im
ersten Brief von Lenin als einem »schlauen Muschik« gesprochen wird, der schon
wisse, »auf welcher Seite das Brot gebuttert ist« – dieses russische Sprichwort
drückt nebenbei bemerkt gar nicht das aus, was Stalin sagen will –, so
erscheint er im zweiten Brief einfach als ein verstiegener Emigrant, der nach
den Sternen greifen will. »Die Logik der Dinge führt auf den Weg strikter
Prinzipien.« Doch der Kampf für diese Logik stellt sich als ein »Sturm im
Wasserglas« heraus. Wenn die Arbeiter Rußlands beginnen, mit Mißachtung auf die
»Emigration« und auf Lenins Kampf für die »Prinzipien« herabzusehen, so »denke
ich, daß es so am besten ist«. Stalin schmeichelt ganz offensichtlich der
Gleichgültigkeit gegenüber der Theorie und dem falschen Überlegenheitsgefühl
der kurzsichtigen »Praktiker«.
Als
anderthalb Jahre später unter dem Einfluß des beginnenden Wiederaufstiegs der
Kampf innerhalb der Emigration heftiger denn je entbrannt war, beklagte sich
der sentimentale Halbbolschewik Gorki bei Lenin über die »Zwistigkeiten« im
Ausland – über den Sturm im Wasserglas. »Was die ›Zwistigkeiten‹ unter den
Sozialdemokraten betrifft«, antwortete Lenin mit Nachdruck, »so
beschweren sich darüber mit Vorliebe die Bourgeois, die Liberalen, die
Sozialrevolutionäre, die, die eine wenig ernsthafte Haltung den entscheidenden
Fragen gegenüber einnehmen, die nur anderen nachfolgen, sich als Diplomaten
aufspielen, sich mit Eklektizismus begnügen...« »Die Aufgabe derjenigen, die
verstanden haben, daß die Wurzeln der ›Zwistigkeiten‹ in den Ideen stecken«,
unterstreicht er in einem späteren Briefe, »ist, den Massen zu helfen, diese
Wurzeln zu entdecken, und nicht, den Massen beizupflichten, wenn sie diese
Debatten für persönliche Affären der Generäle« halten.« Gorki seinerseits
beharrte darauf, daß es »jetzt in Rußland eine Menge guter Jugend« gäbe, »die
aber furchtbar gegen die Emigration ist...« »Das ist wahr«, antwortete Lenin,
»aber das ist nicht die Schuld der ›Führer‹ ... Was entzweit worden ist, muß
wieder verbunden werden; auf die Führer zu schimpfen ist zwar bequem und
populär, aber von wenig Nutzen...« Es ist, als wären die Vorwürfe, die Lenin
hier mit Zurückhaltung gegen Gorki erhebt, eine empörte Zurechtweisung Stalins.
Ein
aufmerksamer Vergleich beider Briefe, von denen ihr Verfasser niemals annahm,
daß sie je verglichen werden würden, ist äußerst wertvoll für das Verständnis
des Charakters und der Methoden Stalins. Seine tatsächliche Haltung den
»Prinzipien« gegenüber ist weitaus richtiger im zweiten Brief ausgedrückt:
»arbeiten wir, der Rest wird schon von selber kommen«. Solcherart war im Grunde
die Konzeption so manchen nicht übermäßig weitblickenden Versöhnlers. Stalin
bedenkt die »Emigration« mit den grob verächtlichsten Ausdrücken nicht nur,
weil ihm Grobheit überhaupt eigen ist, sondern vor allem, weil er die Sympathie
der »Praktiker«, besonders Germanows, gewinnen will. Er kannte ihren
Geisteszustand durch den kürzlich aus Moskau in der Verbannung eingetroffenen
Golubew. Um die Arbeit in Rußland stand es schlecht, die
Untergrundorganisationen hatten den tiefsten Punkt ihres Niedergangs erreicht,
und die Praktiker waren immer bereit, alle Schuld auf die Emigranten
abzuwälzen, die viel Lärm um nichts machten.
Um das
praktische Ziel zu erkennen, das Stalin mit seiner Duplizität verfolgte,
erinnern wir uns daran, daß Germanow, der einige Monate zuvor Kobas Kandidatur
für das Zentralkomitee vorgeschlagen hatte, eng mit einflußreichen Versöhnlern
in den Spitzen der Partei verbunden war. Koba hielt es für angebracht, dieser
Gruppe seine Solidarität mit ihr zu zeigen. Doch war er sich
klar über die Stärke des Einflusses von Lenin und begann deshalb mit einer
Loyalitätserklärung gegenüber den »Prinzipien«. In dem Brief nach Paris wird
Lenins Unversöhnlichkeit beigestimmt, denn Stalin fürchtet Lenin; in dem
zweiten Brief hetzt er die Moskauer Bolschewiki gegen den wunderlichen Lenin
auf, der »nach den Sternen greift«. Der erste Brief ist aus Lenins Artikeln
gegen die Versöhnler zusammengestoppelt; der zweite wiederholt die Argumente
der Versöhnler gegen Lenin. All das innerhalb von vierundzwanzig Tagen.
Gewiß, der
Brief an den »Genossen Simon« enthält einen vorsichtigen Satz: das ausländische
Zentrum »ist nicht alles und nicht einmal die Hauptsache. Die Hauptsache ist
die Organisierung der praktischen Arbeit in Rußland«. Auf der anderen Seite
enthält der Brief an die Moskauer eine scheinbar zufällig hingeworfene
Bemerkung: die Haltung der Arbeiter gegenüber dem Block Lenin-Plechanow ist,
»soviel ich weiß, günstig«. Was aber in dem einen Brief zweitrangige Korrektur,
wird in dem andern zum Ausgangspunkt für eine sich in ganz entgegengesetzter
Richtung bewegende Gedankenreihe. Die vagen Andeutungen, die eigentlich
Hintergedanken sind, haben zum Zweck, die Widersprüche zwischen beiden Briefen
zu verdecken. Sie decken jedoch nur das schlechte Gewissen des Briefschreibers
auf.
So primitiv
sie zu sein scheint, genügt diese Technik der Intrige für das gesteckte Ziel.
Koba schreibt absichtlich nicht direkt an Lenin, sondern wendet sich an
»Simon«. Das erlaubt ihm, von Lenin im Ton intimer Bewunderung zu sprechen,
ohne den Schreiber zu zwingen, der Frage auf den Grund zu gehen. Kobas
wirkliche Beweggründe bildeten sicherlich für Lenin kein Geheimnis. Aber er
sieht die Angelegenheit als Politiker: ein Berufsrevolutionär, der in der Vergangenheit
Willenskraft und Entschlußfähigkeit gezeigt hat, will jetzt im Parteiapparat
höher hinaufsteigen. Lenin nahm das zur Kenntnis. Germanow seinerseits nahm zur
Kenntnis, daß die Versöhnler in der Person Kobas einen Verbündeten haben
würden. Damit war das Ziel, für den Augenblick wenigstens, erreicht. Koba besaß
die Fähigkeiten, ein ausgezeichnetes Mitglied der Zentralkomitees zu werden.
Sein Anspruch war begründet. Erstaunlich sind nur die Wege, die der junge
Revolutionär einschlägt, um sein Ziel zu erreichen: Duplizität, Lüge und
unverhohlener Zynismus.
Kompromittierende
Briefe wurden von den Illegalen üblicherweise vernichtet, persönliche
Verbindung mit der Emigration war selten: Koba brauchte
nicht zu fürchten, daß seine beiden Briefe gegeneinander gehalten würden. Wenn
diese beiden unschätzbaren menschlichen Dokumente der Nachwelt erhalten
geblieben sind, so kommt das auf die Habenseite der zaristischen Briefzensur.
Am 23. Dezember 1925, als das totalitäre Regime noch weit von dem Automatismus
entfernt war, den es heute erreicht hat, war die Tifliser Zeitung »Sarja
Wostoka« (»Morgenröte des Ostens«) unvorsichtig genug, den in den zaristischen
Archiven aufgefundenen Brief Kobas an die Moskauer Bolschewiki zu
veröffentlichen. Man kann sich unschwer das Donnerwetter vorstellen, das auf
die Redaktion herniederfuhr. Der Brief wurde nie wieder gedruckt, und nicht ein
einziger der offiziellen Biographen hat ihn jemals erwähnt.
Trotz des
dringenden Bedarfs an Parteiarbeitern »verschwand« Koba nicht sogleich; er floh
diesmal nicht, sondern wartete das Ende seiner Verbannungszeit ab. Die
Zeitungen brachten Nachrichten über Studentenversammlungen und
Straßenkundgebungen. Nicht weniger als zehntausend Menschen hatten auf dem
Newski-Prospekt demonstriert. Die Arbeiter begannen, sich den Studenten
anzuschließen. »Ist das nicht der Anfang einer Veränderung?« fragte Lenin in
einem Artikel einige Wochen bevor er Kobas Brief aus der Verbannung erhielt. In
den ersten Monaten des Jahres 1911 wurde der Umschwung unbestreitbar. Doch
wartete Koba, der schon dreimal aus der Verbannung geflüchtet war, diesmal auf
das Ende seiner Strafzeit. Der Anbruch des neuen Frühlings ließ ihn kalt.
Erinnerte er sich seiner Erfahrungen des Jahres 1905, fürchtete er das
Wiedererwachen?
Ausnahmslos
alle seine Biographen sprechen von einer neuen Flucht. In Wirklichkeit war gar
keine Flucht nötig, seine Verbannungszeit endete im Juli 1911. Die Moskauer
»Ochrana«, die Josef Dschugaschwili ganz nebenbei erwähnt, spricht von ihm
diesmal als jemandem, der »seine administrative Verbannungszeit in der Stadt
Solwitschegodsk beendet hat«. Die Konferenz der bolschewistischen Mitglieder
des Zentralkomitees, die inzwischen im Ausland stattgefunden hatte, bestimmte
eine besondere Kommission zur Vorbereitung einer Parteikonferenz, und es
scheint, daß sich diese Kommission aus Koba und vier anderen zusammensetzte.
Nach Beendigung seiner Verbannung ging Koba nach Baku und Tiflis, um die
dortigen Bolschewiki zur Arbeit anzuregen und sie zur Teilnahme an der
Konferenz zu veranlassen. Eigentliche Organisationen gab es im Kaukasus nicht, es mußte gänzlich von vorn angefangen werden. Die
Tifliser Bolschewiki erklärten sich mit einem von Koba verfaßten Aufruf über
die Notwendigkeit einer revolutionären Partei einverstanden:
»Unglücklicherweise
müssen sich die fortschrittlichen Arbeiter in unserer eigenen Sache, nämlich
bei der Stärkung unserer Sozialdemokratischen Partei, außer mit politischen
Abenteurern, Provokateuren und anderen Kanaillen, mit einem neuen Hindernis in
unseren eigenen Reihen herumschlagen, und zwar mit Leuten von bürgerlicher
Mentalität.«
Das ging
gegen die »Liquidatoren«. Der Aufruf schloß mit einer der für unseren Verfasser
charakteristischen Metaphern:
»Die blutig
dunklen Wolken der schwarzen Reaktion, die über unserem Lande hängen, beginnen,
sich zu zerstreuen und fangen an, den Sturmwolken der Empörung und der Wut des
Volkes Platz zu machen. Der schwarze Grund unseres Lebens wird von Blitzen
durchzuckt, während sich in der Ferne ein Licht erhebt. Der Sturm bricht los
...«
Gegenstand
des Aufrufs war, die Dringlichkeit der Bildung einer Tifliser Gruppe zu
betonen, um den einigen wenigen Tifliser Bolschewiki die Teilnahme an der
bevorstehenden Konferenz zu ermöglichen.
Koba verließ
die Provinz Wologda auf legale Weise; ob er aber auf legale Weise vom Kaukasus
nach Petersburg ging, ist zweifelhaft; ehemaligen Verbannten war es im
allgemeinen für eine gewisse Zeit verboten, sich in bedeutenderen Städten
aufzuhalten. Wie dem auch sei, mit oder ohne polizeiliche Erlaubnis betritt der
Provinzler schließlich den Boden der Hauptstadt. Die Partei erwachte gerade aus
ihrem Schlummer. Die besten Kräfte waren im Gefängnis, in der Verbannung oder
in der Emigration. Eben gerade aus diesem Grunde war Kobas Anwesenheit in
Petersburg notwendig. Doch war sein erstes Auftreten in der Hauptstadt nur von
kurzer Dauer. Zwischen dem Ende seiner Verbannungszeit und seiner neuerlichen
Verhaftung liegen nur zwei Monate, und von diesen gehen drei oder vier Wochen
für seine Reise in den Kaukasus ab. Darüber, wie sich Koba in die neue Umgebung
einfügte und in welcher Weise er unter den neuen Bedingungen zu arbeiten
begann, ist nichts bekannt.
Die einzige
Unterlage für diese Periode ist ein kurzer Briefwechsel, den Koba mit dem
Ausland führte, und in dem er über eine Geheimsitzung der sechsundvierzig
Sozialdemokraten des Wyborger Bezirks berichtete. Der
Leitgedanke des bei dieser Gelegenheit gehaltenen Vortrages eines bekannten
Liquidators war, daß »eine Organisation als Partei überflüssig ist«, denn für
die öffentliche Tätigkeit würden »Initiativgruppen« genügen, die sich mit der
Veranstaltung genehmigter Versammlungen und öffentlicher Vorträge über Probleme
der Sozialversicherung, gemeindepolitische und ähnliche Fragen befassen
sollten. Kobas Briefen nach stieß dieser Plan des Liquidators, sich der
pseudokonstitutionellen Monarchie anzupassen, auf den einmütigen Widerstand der
Arbeiter, mit Einschluß der Menschewiki. Am Schluß der Versammlung stimmten mit
Ausnahme des Hauptredners alle für eine illegale revolutionäre Partei.
Lenin – oder
Sinowjew – versah den Petersburger Brief mit folgender redaktionellen
Bemerkung: »Genosse K.'s Brief verdient die größte Aufmerksamkeit all derer,
denen die Partei teuer ist. ... Eine bessere Zurückweisung der Auffassungen und
Hoffnungen unserer Versöhnler und Friedensmacher ist schwer vorstellbar. Ist
der vom Genossen K. beschriebene Vorfall eine Ausnahme? Nein, er ist typisch
...« Es ist indessen recht selten, daß »die Partei solch ausführliche
Informationen erhält, wofür wir dem Genossen K. dankbar sind«. Die »Sowjet-
Enzyklopädie« schreibt über diese journalistische Episode: »Stalins Briefe und
Artikel bezeugen die unerschütterliche Einheit im Kampf und in der politischen
Linie zwischen Lenin und seinem genialen Kampfgefährten.« Um zu einer solchen
Einschätzung zu gelangen, war es notwendig, eine Neuauflage der Enzyklopädie
nach der anderen herauszugeben und gleichzeitig eine ganze Reihe ihrer
Mitarbeiter zu liquidieren.
Allilujew
erzählt, wie er, in den ersten Tagen des Monats September, beim Nachhausekommen
vor seiner Haustür Polizeispitzel bemerkte und in seiner Wohnung Stalin und
einen anderen georgischen Bolschewiken antraf. Als er ihnen sagte, daß Spitzel
auf der Straße stünden, entgegnete ihm Stalin nicht gerade allzu freundlich:
»Was zum Teufel ist los mit euch? ... Manche Genossen werden furchtsame
Kleinbürger und Philister!« Es waren aber wirklich Spitzel: am 9. September
wurde Koba verhaftet, und schon am 22. Dezember traf er in seinem neuen
Verbannungsort ein, diesmal der Provinzhauptstadt von Wologda. Die Bedingungen
waren besser als das vorige Mal. Möglicherweise war diese Verbannung eine
einfache Bestrafung für den illegalen Aufenthalt in Petersburg.
Die bolschewistische Auslandszentrale fuhr fort,
Emissäre nach Rußland zu senden, um die Konferenz vorzubereiten. Die Verbindung
zwischen den sozialdemokratischen Ortsgruppen konnte nur langsam hergestellt
werden und wurde oft wieder unterbrochen. Die Bespitzelung florierte, die
Verhaftungen wirkten verheerend. Die Sympathie, die die Idee einer Konferenz
unter den fortschrittlichen Arbeitern fand, zeigte immerhin, nach Olminski, daß
»die Arbeiter die Liquidatoren nur tolerieren, ihnen im Grunde aber sehr
fernstehen«. Es gelang den Emissären trotz der äußerst schwierigen Umstände,
zwischen vielen illegalen Ortsgruppen eine Verbindung herzustellen. »Das war
wie ein frischer Luftzug«, schreibt derselbe Olminski.
An der
Konferenz, die am 5. Januar 1912 in Prag eröffnet wurde, nahmen fünfzehn
Delegierte teil, die von rund zwei Dutzend illegalen und zum größten Teil sehr
schwachen Gruppen kamen. Die Berichte der Delegierten ergaben ein ziemlich
klares Bild von dem Zustand der Partei: die wenigen Ortsgruppen setzten sich
fast ausschließlich aus Bolschewiki zusammen und enthielten einen hohen Prozentsatz
von Spitzeln, die die Organisation verrieten, sobald sie einigermaßen auf
festen Füßen stand. Besonders schlecht war die Lage im Kaukasus. »In Zithory
gibt es überhaupt keine Organisation«, erklärte Ordschonikidse von dem einzigen
Industriezentrum in Georgien. »In Batum ebenfalls keine Organisation.« In
Tiflis »dasselbe Bild. Nicht ein einziges Flugblatt in den vergangenen Jahren.
Keinerlei illegale Tätigkeit«. Trotz der offensichtlichen Schwäche der
Ortsgruppen spiegelte die Konferenz den neuen optimistischen Geist wider. Die
Massen setzten sich in Bewegung, die Partei spürte günstigen Wind in ihren
Segeln.
Die in Prag
getroffenen Entscheidungen legten die Marschroute der Partei auf lange Zeit
hinaus fest. In erster Linie hielt es die Konferenz für notwendig, »illegale
sozialdemokratische Kerngruppen zu schaffen, die von einem so weit wie möglich
gespannten Netz legaler Arbeitervereine aller Art umgeben« sein sollten. Die
schlechte Ernte, die zwanzig Millionen Bauern zum Hungern verurteilte, bestätigte
wieder einmal, so stellte die Konferenz fest, »die Unmöglichkeit einer auch nur
einigermaßen normalen bürgerlichen Entwicklung in Rußland, solange ... seine
Politik von einer an der Leibeigenschaft festhaltenden Klasse von Landjunkern
geleitet wird«. »Die Machtergreifung durch das Proletariat, das die
Bauernschaft führt, bleibt nach wie vor die Aufgabe der
demokratischen Revolution in Rußland.« Die Konferenz erklärte die Fraktion der
Liquidatoren als außerhalb der Partei stehend und rief alle Sozialdemokraten
auf, »ohne Unterschied der Tendenzen und Schattierungen« gegen das
Liquidatorentum und für die Wiederherstellung der illegalen Partei zu kämpfen.
So den Bruch mit den Menschewiki vollständig machend, eröffnete die Prager
Konferenz die Ära der unabhängigen Existenz der Bolschewistischen Partei, die
nunmehr ihr eigenes Zentralkomitee besaß.
»Mitglieder
des Zentralkomitees waren Lenin, Stalin, Ordschonikidse, Swerdlow,
Goloschtschekin und andere. Stalin und Swerdlow wurden in Abwesenheit ins
Zentralkomitee gewählt, sie befanden sich zu jener Zeit in Verbannung«, so
heißt es in der neuesten »Geschichte« der Partei, veröffentlicht 1938 unter
Stalins Leitung. In der offiziellen Sammlung von Parteidokumenten (von 1926)
lesen wir dagegen: »Die Konferenz wählte ein neues Zentralkomitee, das sich aus
Lenin, Sinowjew, Ordschonikidse, Spandarian, Viktor (Ordinsky), Malinowsky und
Goloschtschekin zusammensetzte.« Die »Geschichte« nimmt weder Sinowjew noch den
Polizeispitzel Malinowsky ins Zentralkomitee auf, dafür aber Stalin, der auf
der alten Liste nicht figuriert. Die Erklärung dieses Rätsels wirft einiges
Licht sowohl auf die Stellung Stalins in der Partei zu jener Zeit als auch auf
die heutigen Methoden der Moskauer Geschichtsschreibung. Tatsache ist, daß Stalin
nicht auf der Konferenz gewählt wurde, sondern kurz nach der Konferenz auf
Grund einer sogenannten »Kooptation« ins Zentralkomitee eintrat. Die oben
erwähnte parteioffizielle Urkunde legt das ganz einwandfrei fest: »In der Folge
wurden in das Zentralkomitee kooptiert die Genossen Koba
(Dschugaschwili-Stalin) und Wladimir (Bjelostotzky, ehemaliger Arbeiter der
Putilow-Werke).« Ebenso verzeichnen die Dokumente der Moskauer »Ochrana«, daß
Dschugaschwili nach der Konferenz ins Zentralkomitee eintrat, »auf Grund des
Rechtes auf Zuwahl, das den Mitgliedern des Zentralkomitees vorbehalten war«.
Dieselbe Angabe enthalten alle sowjetischen Nachschlagewerke ohne Ausnahme bis
zum Jahre 1929, als Stalins Anweisungen veröffentlicht wurden, die die
Geschichtswissenschaft umwälzten. In einer dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum
der Konferenz gewidmeten Veröffentlichung von 1937 heißt es: »Stalin konnte an
den Arbeiten der Prager Konferenz nicht teilnehmen, weil er sich in der
Verbannung in Solwytschegodsk befand. Stalin war Lenin und
der Partei zu dieser Zeit schon als ein bedeutender Führer bekannt. ... Deshalb
wählten die Delegierten auf Vorschlag Lenins Stalin in Abwesenheit ins
Zentralkomitee.«
Die Frage,
ob Stalin auf der Konferenz gewählt oder später durch Kooptation ins
Zentralkomitee aufgenommen wurde, mag von untergeordneter Bedeutung erscheinen.
Das ist aber durchaus nicht der Fall. Stalin wollte Mitglied des
Zentralkomitees werden. Lenin hielt es für notwendig, ihn aufzunehmen. Die
Auswahl unter den möglichen Kandidaten war so beschränkt, daß einige
zweitrangige Figuren in das Zentralkomitee eintreten mußten. Koba war jedoch
nicht gewählt worden. Warum? Lenin war durchaus nicht der Diktator über seine
Partei. Übrigens hätte eine revolutionäre Partei auch keine Diktatur über sich
geduldet. Nach voraufgegangener Fühlungnahme mit den Delegierten hielt es Lenin
anscheinend für vernünftiger, Kobas Kandidatur nicht aufzustellen. »Als Lenin
1912 Stalin ins Zentralkomitee hineinbrachte«, schreibt Dimitrijewsky, »rief
das Empörung hervor. Öffentlich widersetzte sich niemand. Aber in privaten
Unterhaltungen machte sich die Empörung Luft.« Dieser Bericht des ehemaligen
Diplomaten, der im allgemeinen kein Vertrauen verdient, ist immerhin insofern
von Interesse, als er ein Echo von bürokratischen Erinnerungen und
Klatschgeschichten ist. Lenin begegnete zweifellos einer ernsthaften
Opposition. Ihm blieb nur ein Weg offen: warten, bis die Konferenz zu Ende war
und dann an den engen leitenden Zirkel zu appellieren, der sich entweder auf
Lenins Empfehlung verließ oder seine Einschätzung des Kandidaten teilte. So
trat Stalin zum erstenmal durch ein Hintertürchen ins Zentralkomitee ein.
Die
Geschichte der internen Organisation des Zentralkomitees ist gleichen
Veränderungen unterworfen worden. »Das Zentralkomitee ... bildete auf Vorschlag
Lenins ein Büro des Zentralkomitees mit dem Genossen Stalin an der Spitze, um
die Parteitätigkeit in Rußland zu leiten. Diesem russischen Büro des
Zentralkomitees gehörten außer Stalin noch Swerdlow, Spandarian, Ordschonikidse
und Kalinin an.« So Beria, der in der Zeit, in der ich an diesem Kapitel
arbeitete, zum Chef der Geheimpolizei Stalins ernannt wurde: seine
»wissenschaftlichen« Verdienste blieben nicht unbelohnt. Man sucht aber
vergeblich nach irgendeiner dokumentarischen Unterlage für diese in der
jüngsten »Geschichte« wiederholte Version. Zu allererst einmal wurde
nie jemand »an die Spitze« von Parteiorganisationen gestellt: solch eine
Wahlmethode gab es nicht. Einem alten offiziellen Nachschlagebuch zufolge
wählte das Zentralkomitee »ein Büro, das sich zusammensetzte aus:
Ordschonikidse, Spandarian, Stalin und Goloschtschekin«. Dieselbe Liste wird
auch in den erläuternden Notizen zu Lenins Werken aufgeführt. In den Papieren
der Moskauer Ochrana sind die ersten Drei, »Timofei, Sergo und Koba«, unter
ihrem Decknamen als Mitglieder des russischen Büros des Zentralkomitees
aufgeführt. Nicht unwichtig ist, daß sich Stalin auf allen alten Listen immer
auf dem letzten oder vorletzten Platz befindet, was natürlich nicht der Fall
sein konnte, wenn er »an die Spitze« gestellt worden wäre. Goloschtschekin,
während einer der kürzlichen Säuberungen aus dem Parteiapparat ausgeschlossen,
verschwand auch gleich aus dem Büro von 1912; seinen Platz nahm der glücklichere
Kalinin ein. So wird Geschichte zum Ton in des Töpfers Hand.
Am 24.
Februar teilte Ordschonikidse Lenin mit, daß er Iwanowitsch (Stalin) in Wologda
besucht habe: »Bin mit ihm zu einer endgültigen Verständigung gekommen. Er ist
mit dem Ausgang der Dinge zufrieden.« Es handelte sich um die Beschlüsse der
Prager Konferenz. Koba erfuhr, daß ihn die kürzlich geschaffene »Zentrale«
endlich kooptiert hatte. Am 22. Februar flüchtete er aus seinem Verbannungsort,
in seiner neuen Eigenschaft als Mitglied des Zentralkomitees. Nach einem kurzen
Aufenthalt in Baku begab er sich nach Petersburg. Zwei Monate zuvor war er
zweiunddreißig Jahre alt geworden.
Kobas
Übergang von der provinziellen zur nationalen Arena fällt mit dem neuen
Aufschwung der Arbeiterbewegung und der verhältnismäßig weiten Ausbreitung der
Arbeiterpresse zusammen. Unter dem Druck der Untergrundbewegung hatten die
zaristischen Behörden ihre Selbstsicherheit verloren. Die Hand des Zensors
wurde schwächer. Die legalen Möglichkeiten wurden größer. Der Bolschewismus
trat zuerst mit einem Wochenblatt, dann mit einer Tageszeitung an die
Öffentlichkeit. Mit einem Male wuchsen die Möglichkeiten, die Arbeiter zu
beeinflussen. Die Partei blieb weiterhin in der Illegalität, aber die
Redaktionen ihrer Zeitungen wurden zugleich die legalen Generalstäbe der
Revolution. Der Name der Petersburger »Prawda« gab einer ganzen Periode der
Arbeiterbewegung ihre Färbung, indem die Bolschewiki die »Prawdisten« genannt
zu werden begannen. Während der zweieinhalb Jahre ihres Bestehens wurde die Zeitung achtmal von der Regierung verboten, aber sie erschien
jedes Mal von neuem unter einem ähnlichen Titel. Bei Behandlung der dornigsten
Fragen war die »Prawda« oft gezwungen, sich mit Andeutungen und halben Worten
verständlich zu machen. Aber ihre illegalen Agitatoren und Druckschriften
sagten das, was sie nicht offen aussprechen konnte. Auch hatten die
fortgeschrittenen Arbeiter gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Eine Auflage
von vierzigtausend mag recht bescheiden aussehen, an westeuropäischen oder
amerikanischen Maßstäben gemessen. Doch bei der höchst feinfühligen politischen
Akustik des zaristischen Rußland fand die bolschewistische Tageszeitung über
ihre Abonnenten und unmittelbaren Leser hinaus ein Echo unter Hunderttausenden.
So gruppierte sich um die »Prawda« herum eine Generation junger Revolutionäre
unter der Leitung von Veteranen, die während der Jahre der Reaktion
durchgehalten hatten. »Die Prawda von 1912 hat den Grundstein für den
bolschewistischen Sieg von 1917 gelegt«, schrieb Stalin später, mit einem
Seitenblick auf seine eigene Teilnahme an dieser Tätigkeit.
Lenin, den
die Nachricht von Stalins Flucht noch nicht erreicht hatte, beschwerte sich am
15. März: »Nichts von Iwanowitsch – was ist los mit ihm? Wo ist er? Wie geht es
ihm?« Es mangelte an Männern; nicht einmal in der Hauptstadt gab es genügend
Leute. Im selben Brief schrieb Lenin, daß die Anwesenheit einer legalen Person
in Petersburg »verflucht« notwendig sei, »denn die Dinge stehen dort schlecht.
Es ist ein harter und wütender Krieg. Wir haben weder Informationen noch lenken
oder kontrollieren wir die Zeitung«. Den »harten und wütenden Krieg« führte
Lenin mit der Redaktion der »Swjesda«, die den Krieg gegen die Liquidatoren
nicht wollte. »Auf, und schlagt euch kräftiger mit der ›Schiwoje Djelo‹ (›Die
lebendige Sache‹, Organ der Liquidatoren), dann ist der Sieg sicher. Sonst wird
es uns schlecht ergehen. Fürchtet euch nicht vor Polemiken.« Das unterstrich
Lenin noch im März 1912, und das ist das Leitmotiv aller seiner Briefe in
dieser Zeit.
»Was ist los
mit ihm? Wo ist er? Wie geht es ihm?«, so könnten wir mit Lenin fragen. Die
Rolle, die Stalin – wie immer hinter den Kulissen – wirklich spielte, ist nicht
leicht zu bestimmen. Eine sorgfältige Analyse von Tatsachen und Dokumenten ist
dazu notwendig. Seine Vollmachten als Mitglied des Petersburger
Zentralkomitees, also als eines der offiziellen Parteileiter,
betrafen natürlich auch die legale Presse. Doch war dieser Umstand völlig
vergessen worden, bis die Anweisungen der »Historiker« erschienen. Das
Kollektivgedächtnis hat seine eigenen Gesetze, die nicht immer mit den früheren
Schriften der Partei übereinstimmen. Die »Swjesda« war im Dezember 1910
gegründet worden, als sich die ersten Anzeichen einer Neubelebung bemerkbar
machten. »Lenin, Sinowjew und Kamenew«, heißt es in einer offiziellen
Veröffentlichung, »waren vom Ausland aus aufs engste an den Vorbereitungs- und
redaktionellen Arbeiten beteiligt«. Unter den hauptsächlichen Mitarbeitern in
Rußland nennen die Herausgeber der »Sämtlichen Werke« Lenins elf Namen,
vergessen aber, den Stalins zu erwähnen. Indes war er zweifellos Mitglied, und,
infolge seiner Stellung, einflußreiches Mitglied der Zeitungsredaktion.
Derselben Gedächtnisschwäche – »Gedächtnissabotage« müßte es heute heißen –
begegnen wir in allen alten Nachschlagewerken und Erinnerungsbüchern. Sogar
eine Sondernummer der »Prawda« zu ihrem fünfzehnjährigen Bestehen im Jahre 1927
erwähnt in keinem ihrer Artikel, nicht einmal im Leitartikel, den Namen Stalins.
Man traut manchmal seinen Augen nicht, wenn man die alten Publikationen
durchblättert!
Die einzige
Ausnahme machen die wertvollen Erinnerungen Olminskis, eines der engsten
ehemaligen Mitarbeiter der »Swjesda« und der »Prawda«, der Stalins Rolle
folgendermaßen beschreibt: »Stalin und Swerdlow tauchten nach ihrer Flucht aus
der Deportation in Petersburg zu verschiedenen Zeitpunkten auf ... Ihre
Anwesenheit in Petersburg (bis zu ihrer neuen Verhaftung) war kurz, hatte aber
jedesmal eine beträchtliche Wirkung auf die Arbeit der Zeitung, der Fraktion,
usw.« Diese einfache Angabe, die übrigens nicht im Haupttext, sondern in einer
Fußnote gemacht wird, stellt die Situation wahrscheinlich am richtigsten dar.
Stalin erschien in Petersburg für kurze Zeit, übte einen Druck aus auf die
Organisation, auf die Dumafraktion, auf die Zeitung, und verschwand dann
wieder. Sein Auftreten war allzu vorübergehend, sein Einfluß allzu
»apparatmäßig«, seine Ideen und Artikel allzusehr dem üblichen Schema
entsprechend, als daß sie einen dauernden Eindruck in irgendwessen Gedächtnis
hinterlassen hätten. Leute, die ihre Memoiren nicht unter Zwang
niederschreiben, erinnern sich nicht der offiziellen Funktion von Bürokraten,
sondern der lebendigen Tätigkeit lebendiger Persönlichkeiten, klarer Tatsachen,
präziser Formulierungen, origineller Vorschläge. Stalin hat
sich niemals durch irgend etwas Ähnliches hervorgetan. Kein Wunder, daß sich
neben dem brillanten Original niemand an die eintönige Kopie erinnert.
Sicherlich hat Stalin nicht nur Lenin nachgeplappert. An seiner Unterstützung
der Versöhnler festhaltend, verfolgte er zu gleicher Zeit zwei Linien, die uns
schon von den Briefen aus Solwytschegodsk her bekannt sind: mit Lenin gegen die
Versöhnler – mit den Versöhnlern gegen Lenin. Der ersten Linie folgte er offen,
der zweiten in maskierter Form. Stalins Kampf gegen die Emigration hat aber die
Memoirenverfasser nicht inspiriert, wenn auch aus einem anderen Grunde: sie
waren alle, in aktiver oder passiver Weise, an dem »Komplott« der Versöhnler
gegen Lenin beteiligt und zogen es später vor, über diese Seite der Partei
Vergangenheit rasch hinwegzublättern. Erst nach 1929 wurde Stalins offizielle
Stellung von 1912 als Vertreter des Zentralkomitees zur Unterlage für eine neue
Interpretation der Vorkriegsperiode.
Stalin
konnte der Zeitung den Stempel seiner Persönlichkeit aus dem einfachen Grunde
nicht aufdrücken, weil er von Natur aus kein Zeitungsmann war. Vom April 1912
bis zum Februar 1913 veröffentlichte er in der bolschewistischen Presse, den
Berechnungen eines seiner engen Mitarbeiter nach, »nicht weniger als zwei
Dutzend Artikel«, was einen Durchschnitt von etwa zwei Artikeln pro Monat
ergibt. Und das in einer Zeit, als die Ereignisse jeden Tag neue brennende
Fragen aufwarfen! Zwar hat Stalin in diesem Jahr ungefähr sechs Monate in der
Verbannung zugebracht. Aber es war viel leichter, von Solwytschegodsk oder von
Wologda aus an der »Prawda« mitzuarbeiten, als von Krakau aus, von woher Lenin
und Sinowjew jeden Tag ihre Artikel und Briefe schickten! Langsamkeit und
äußerste Vorsicht, Nichtvorhandensein literarischer Substanz, schließlich
erhebliche orientalische Faulheit, all das machte, daß Stalins Feder wenig
produktiv war. Seine Artikel, etwas sicherer im Ton als in den Jahren der ersten
Revolution, trugen weiterhin das unauslöschliche Merkmal der Mittelmäßigkeit.
»Nach den
Kundgebungen für wirtschaftliche Forderungen der Arbeiter«, schrieb er am 15.
April in der »Swjesda«, »kamen die politischen Kundgebungen. Nach den Streiks
für Lohnerhöhungen kamen die Proteste, Versammlungen, politischen Streiks
anläßlich der Erschießungen an der Lena ... Kein Zweifel, die unterirdischen
Kräfte der Befreiungsbewegung haben zu arbeiten begonnen.
Seid gegrüßt, erste Schwalben!« Das Bild von den »Schwalben« als Symbol der
»unterirdischen Kräfte« ist typisch für den Stil unseres Autors. Schließlich
und endlich ist es aber klar, was er zu sagen versucht. Indem er
»Schlußfolgerungen« aus den sogenannten »Lena-Ereignissen« zieht, analysiert
Stalin – wie immer in schematischer Form, ohne Sinn für die lebendige
Wirklichkeit – das Verhalten der Regierung und der politischen Parteien,
denunziert die »Krokodilstränen«, die die Bourgeoisie über die
Arbeitererschießungen vergießt, und schließt mit dieser Warnung: »Jetzt, wo die
erste Welle der aufsteigenden Flut ankommt, werden die dunklen Kräfte, die sich
bisher hinter einer Schutzwand aus Krokodilstränen versteckt hatten, wieder
erscheinen.« Trotz des überraschenden Effektes, den das Bild von der
»Schutzwand aus Krokodilstränen« auslöst, das auf dem Hintergrund des
eintönigen Textes besonders bizarr wirkt, sagt der Artikel ungefähr das, was
gesagt werden mußte und was Dutzende anderer hätten sagen können. Es ist aber
eben gerade das »Ungefähr«, das das Lesen der Stalinschen Ausführungen ebenso
unerträglich macht, wie das Anhören mißtönender Musik sensible Ohren beleidigt.
In einem illegalen Aufruf schreibt er:
»Gerade
heute, am Tage des 1. Mai, wo die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht, wo sich
Wälder und Berge mit Grün bedecken, wo sich Felder und Wiesen mit Blumen
schmücken, wo die Sonne wärmer zu scheinen beginnt, wo die Freude über die
Erneuerung in der Luft zu spüren ist, während sich die Natur dem Tanz und der
Fröhlichkeit hingibt, gerade am heutigen Tage haben sich die Arbeiter
entschieden, der Welt zu erklären, daß sie der Menschheit den Frühling und die
Befreiung von den Ketten des Kapitalismus bringen ... Der Ozean der
Arbeiterbewegung dehnt sich immer weiter aus ... Das Meer des proletarischen
Zorns schlägt hohe Wellen ... Siegessicher, ruhig und stark, ziehen sie stolz
voran auf dem Wege zum Gelobten Land, auf dem Wege des strahlenden
Sozialismus.« Hier spricht die Petersburger Revolution die Sprache der Tifliser
Popen.
Die
Streikwelle schwoll an, die Verbindungen zu den Arbeitern wurden zahlreicher.
Das Wochenblatt entsprach nicht mehr den Erfordernissen der Bewegung. Die
»Swjesda« eröffnete eine Geldsammlung für eine Tageszeitung. »Gegen Ende des
Winters 1912«, schreibt der ehemalige Abgeordnete Poletajew, »kam Stalin, der
aus der Verbannung entflohen war, nach Petersburg. Die
Arbeit für die Schaffung einer Arbeiterzeitung ging schneller voran.« In einem
Artikel aus dem Jahre 1922 schreibt Stalin selbst anläßlich des zehnjährigen
Bestehens der »Prawda«: »Eines Abends, es war Mitte April 1912, kamen in der
Wohnung von Poletajew zwei Dumaabgeordnete (Pokrowski und Poletajew), zwei
Journalisten (Olminski und Baturin) und ich als Mitglied des Zentralkomitees
... zu einer Abmachung über die Plattform der ›Prawda‹ und stellten die erste
Nummer der Zeitung her.« Die Urheberschaft Stalins an der Plattform der
»Prawda« wird hier von Stalin selbst festgestellt. Das Wesentliche dieser
Plattform kann in folgende Worte zusammengefaßt werden: »Arbeiten wir, der Rest
wird schon von selber kommen.« Wohl wurde Stalin am 22. April verhaftet, am
Erscheinungstage der ersten Nummer der »Prawda«; aber drei Monate lang hielt
sich die »Prawda« an die mit seiner Beteiligung ausgearbeitete Plattform. Das
Wort »Versöhnler« war aus dem Wortschatz der Zeitung verbannt.
»Ein
unversöhnlicher Kampf gegen das Liquidatorentum war notwendig«, schreibt die
Krupskaja. »Deshalb war Wladimir Iljitsch so darüber beunruhigt, daß die
›Prawda‹ anfangs aus allen seinen Artikeln die polemischen Stellen gegen die
Liquidatoren wegließ. Er schrieb an die ›Prawda‹ zornige Briefe.« Ein Teil
dieser Briefe – natürlich nur ein kleiner Teil – erblickte das Licht der
Öffentlichkeit. »Manchmal, allerdings selten«, fährt sie in ihrer Beschwerde
fort, »verschwanden Iljitschs Artikel, ohne Spuren zu hinterlassen. Manchmal
wurden seine Artikel auch beiseite gelegt und nicht gleich veröffentlicht. Dann
wurde Iljitsch wütend und schrieb erregte Briefe an die ›Prawda‹, aber das
änderte nicht viel.«
Der Kampf
mit der Redaktion der »Prawda« war die direkte Fortsetzung des Kampfes mit der
Redaktion der »Swjesda«. »Es ist unmöglich, gefährlich, verheerend, lächerlich,
unsere Gegensätze vor den Arbeitern zu verbergen«, schrieb Lenin am 11. Juli
1912. Einige Tage später verlangte er vom Redaktionssekretär Molotow, dem
jetzigen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und Volkskommissar für
Auswärtiges, Aufklärung darüber, warum die Zeitung »hartnäckig und systematisch
aus meinen und den Artikeln anderer Mitarbeiter jede Erwähnung der Liquidatoren
streicht«. Inzwischen nahten die Wahlen zur vierten Duma heran. Lenin warnte:
»Die Wahlen zur Petersburger Arbeiter-Standes Vertretung werden sicherlich von
einem Kampf auf der ganzen Linie gegen die Liquidatoren
begleitet sein. Das wird die brennendste Frage für die fortgeschrittenen
Arbeiter sein. Aber ihre Zeitung wird schweigen, wird das Wort ›Liquidator‹
vermeiden! ... Diesen Fragen auszuweichen, heißt Selbstmord begehen.«
Von Krakau
aus gewahrte Lenin recht gut die schweigsame, aber hartnäckige Verschwörung der
versöhnlerischen Spitzen der Partei. Er war jedoch nur allzusehr überzeugt
davon, im Recht zu sein. Die rasche Wiederbelebung der Arbeiterbewegung mußte
unvermeidlicherweise die Grundprobleme der Revolution scharf stellen und nicht
nur den Liquidatoren, sondern auch den Versöhnlern den Boden unter den Füßen
wegziehen. Lenins Stärke lag nicht so sehr in der Schaffung eines »Apparats« –
auch das wußte er zu tun –, sondern in seiner Fähigkeit, in allen kritischen Augenblicken
die lebendige Energie der Massen zu benutzen, um die Beschränktheit und den
Konservatismus, die jedem politischen Apparat eigen sind, zu überwinden. Auch
in diesem Augenblick war es so. Unter dem wachsenden Druck der Arbeiter und
unter den Peitschenhieben von Krakau begann die »Prawda«, nach und nach und
unter dauerndem Sträuben, ihre Stellung der bremsenden Neutralität aufzugeben.
Stalin blieb
etwas über zwei Monate im Petersburger Gefängnis. Am 2. Juli fuhr er von neuem
in die Verbannung ab, diesmal für vier Jahre, und zwar hinter den Ural, in das
Gebiet von Narym in der Provinz Tomsk, berühmt für seine Wälder, Seen und
Sümpfe. Wereschtschak, den wir schon kennen, begegnete Koba von neuem im Dorfe
Kolpaschewo, in dem sich Koba auf der Reise nach seinem Bestimmungsort einige
Tage aufhielt. Dort traf er Swerdlow, I. Smirnow, Laschewitsch, lauter alte
Bolschewiki. Es wäre damals nicht leicht gewesen vorauszusagen, daß
Laschewitsch als von Stalin Verbannter sterben, daß Smirnow von ihm erschossen
werden und daß nur ein vorzeitiger Tod Swerdlow vor einem ähnlichen Schicksal
bewahren würde. »Die Anwesenheit Stalins im Narymer Gebiet«, schreibt
Wereschtschak, »belebte die Tätigkeit der Bolschewiki und war durch mehrere
Fluchtversuche gekennzeichnet.« Nach einigen anderen flüchtete Stalin selbst.
»Er fuhr fast offen mit dem ersten Frühjahrsdampfer ab ...« In Wirklichkeit ist
Stalin erst gegen Ende des Sommers gefahren. Es war seine vierte Flucht.
Bei seiner
Wiederankunft in Petersburg am 12. September fand er dort eine gänzlich
veränderte Situation vor. Stürmische Streiks waren im
Gange. Die Arbeiter gingen von neuem unter revolutionären Losungen auf die
Straße. Die Politik der Menschewiki war offensichtlich diskreditiert. Der
Einfluß der »Prawda« war mächtig gestiegen. Die Dumawahlen standen vor der Tür.
Den Ton für die Wahlkampagne hatte Krakau schon angegeben. Die Stellungen waren
bezogen. Die Bolschewiki nahmen an den Wahlen unabhängig von den Liquidatoren
und gegen diese teil. Die Arbeiter wurden unter dem Banner der drei
Hauptlosungen der demokratischen Revolution zusammengerufen: Republik,
Achtstundentag, Beschlagnahme des Großgrund-besitzes. Das demokratische
Kleinbürgertum vom Einfluß der Liberalen freizumachen, die Bauern auf die Seite
der Arbeiterschaft herüberzuziehen – das waren die Leitideen der Leninschen
Wahlplattform. Kühnsten Gedankenflug mit peinlich genauer Aufmerksamkeit für
kleinste Einzelheiten verbindend, war Lenin vielleicht der einzige Marxist, der
alle Möglichkeiten und alle Fallen des Stolypinschen Wahlgesetzes gründlich
studiert hatte. Nachdem er die Wahlkampagne politisch inspiriert hatte, leitete
er Tag für Tag die praktische Arbeit, die sie mit sich brachte. Um Petersburg
zu helfen, sandte er vom Ausland Artikel, Anweisungen, und gründlich
vorbereitete Botschafter.
Safarow, der
jetzt zu den Verschollenen gehört, machte auf seinem Wege aus der Schweiz nach
Petersburg im Frühjahr 1912 in Krakau halt, wo er erfuhr, daß Inessa, eine
führende Parteiarbeiterin, die Lenin politisch sehr nahe stand, ebenfalls
abfuhr, um bei der Wahlkampagne zu helfen. »Mindestens zwei Tage lang stopfte
uns Iljitsch den Kopf voll mit Instruktionen.« Die Wahlen für die
Arbeiter-Standesvertretung in Petersburg waren auf den 16. September angesetzt.
Inessa und Safarow wurden am 14. September verhaftet. »Die Polizei wußte aber
noch nicht,« schreibt die Krupskaja, »daß Stalin, aus der Verbannung
geflüchtet, am Zwölften angekommen war. Die Wahlen zur
Arbeiter-Standesvertretung wurden ein großer Erfolg.« Die Krupskaja sagt nicht:
»Dank Stalin.« Sie stellt einfach nur zwei Sätze nebeneinander. Eine Maßnahme
der passiven Selbstverteidigung. »Stalin, der kurz vorher von Narym geflüchtet
war,« heißt es in einer Neuausgabe der Lebenserinnerungen des ehemaligen
Duma-Abgeordneten Badajew (in der ersten Ausgabe stand nichts davon), »sprach
auf einer Reihe von Versammlungen, die in Fabriken improvisiert worden waren«.
»Stalin leitete direkt die ganze gewaltige Wahlkampagne für die Vierte Duma«,
meint Allilujew, der seine Erinnerungen erst 1937 schrieb;
»... er lebte illegal in Petersburg, hatte keine eigentliche ständige Wohnung
und, da er seine nächsten Kameraden nicht spät in der Nacht stören wollte und
auch aus konspirativen Gründen, ging er, nach einer Arbeiterversammlung, die
lange gedauert hatte, in eine Kneipe, wo er den Rest der Nacht bei einem Glas
Tee verbrachte.« Manchmal gelang es ihm, »in der mit Machorkarauch gefüllten
Kneipe ein kleines Schläfchen zu machen«.
Stalin kann
unmöglich großen Einfluß auf den Ausgang der Wahlen in der ersten Wahlperiode
genommen haben, nicht nur, weil er ein schwacher Redner war, sondern auch, weil
ihm nur vier Tage zur Verfügung standen. Das konnte er aber wieder wettmachen,
indem er in den späteren Perioden dieses gestaffelten Wahlsystems eine
bedeutende Rolle spielte, als es notwendig war, die Abgeordneten
zusammenzuhalten und sie, auf den illegalen Apparat gestützt, aus den Kulissen
heraus zu lenken. Für diese Tätigkeit war Stalin zweifelsohne besser geeignet
als irgend jemand sonst.
Ein
wichtiges Dokument für die Wahlkampagne waren die »Instruktionen der
Petersburger Arbeiter für ihre Deputierten«. In der ersten Ausgabe seiner
Lebenserinnerungen sagt Badajew, daß die »Instruktionen« vom Zentralkomitee
redigiert wurden, in der neuen Ausgabe wird die Autorschaft aber Stalin
persönlich zugeschrieben. Das Wahrscheinlichste ist, daß sie das Ergebnis einer
kollektiven Arbeit gewesen sind, bei der Stalin als Vertreter des
Zentralkomitees möglicherweise das letzte Wort hatte.
»Wir
denken«, wird in den »Instruktionen« gesagt, »daß sich Rußland am Vorabend von
Massenbewegungen befindet, die vielleicht tiefergehend sein werden als die von
1905 ... Die Bewegung wird wie 1905 die fortschrittlichste Klasse der
russischen Gesellschaft, das russische Proletariat, auf den Plan rufen. Ihr
Verbündeter kann nur die gequälte Bauernschaft sein, die an der Befreiung
Rußlands ein Lebensinteresse hat.« Lenin schrieb an die »Prawda«-Redaktion:
»Veröffentlicht diese Instruktionen unter allen Umständen ... in großen Lettern
und auf der ersten Seite.« Ein Kongreß der Delegierten verschiedener Provinzen
nahm die bolschewistischen »Instruktionen« mit großer Mehrheit an. In diesen
bewegten Tagen trat Stalin auch als Publizist mehr hervor: in der »Prawda«
finden wir in einer Woche vier Artikel von ihm.
Die
Wahlergebnisse waren in Petersburg, wie im allgemeinen auch in den anderen
industriellen Bezirken, sehr günstig. Bolschewistische Kandidaten
wurden in den sechs bedeutendsten Provinzen gewählt, in denen zusammen ungefähr
vier Fünftel der Arbeiterklasse lebten. Sieben Liquidatoren wurden
hauptsächlich mit den Stimmen des städtischen Kleinbürgertums gewählt. »Im
Unterschied zu den Wahlen von 1907«, schreibt Stalin in einem vom ausländischen
Zentralorgan veröffentlichten Brief, »fallen die Wahlen von 1912 mit dem
revolutionären Erwachen der Arbeiter zusammen.« Gerade aus diesem Grunde
kämpften die Arbeiter, denen Boykott-Tendenzen ganz fremd waren, aktiv für ihre
Wahlrechte. Eine Regierungskommission versuchte, die Wahlen in den größten
Petersburger Fabriken für ungültig zu erklären. Die Arbeiter antworteten darauf
einmütig mit einem siegreichen Proteststreik. »Es ist nicht überflüssig, darauf
hinzuweisen«, fährt der Briefschreiber fort, »daß die Initiative für den Streik
von dem Vertreter des Zentralkomitees ausging.« Es handelt sich um Stalin
selbst. Seine politischen Schlußfolgerungen aus der Wahlkampagne: »Die
revolutionäre Sozialdemokratie ist lebenskräftig und mächtig – das ist die
erste Schlußfolgerung. Die Liquidatoren sind politisch bankrott – das ist die
zweite Schlußfolgerung.« Und das war richtig.
Die sieben
Menschewiki, meist Intellektuelle, versuchten, die sechs Bolschewiki, politisch
wenig erfahrene Arbeiter, ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Ende November schrieb
Lenin persönlich an Wassiljew (Stalin): »Wenn alle unsere Sechs aus der
Arbeitervertretung kommen, dann müssen sie sich nicht schweigend diesen ganzen
Sibiriern unterwerfen. Anspielung auf die nach Sibirien verbannt gewesenen
Politiker, die meistens Intellektuelle waren. (Anm. d. Übers.) Die Sechs müssen
kräftig protestieren, wenn man sie bevormunden will.« Stalins Antwort auf
diesen Brief, wie auch viele andere, wird im Panzerschrank aufbewahrt. Aber
Lenins Appell stieß nicht auf Sympathie: die Sechs stellten selbst die Einheit
mit den Liquidatoren, die als »außerhalb der Partei befindlich« erklärt worden
waren, über ihre politische Unabhängigkeit. In einer besonderen Resolution, die
in der »Prawda« veröffentlicht wurde, erklärte die Vereinigte Fraktion, daß die
»Einheit der Sozialdemokratie ein dringendes Bedürfnis« sei, sprach sich für
die Zusammenlegung der »Prawda« mit der Liquidatorenzeitung »Lutsch« (»Der
Strahl«) aus und schlug als einen Schritt in dieser Richtung vor, daß alle
Mitglieder an beiden Organen mitarbeiten sollten. Am 18. Dezember
veröffentlichte der menschewistische »Lutsch« triumphierend
die Namen von vier bolschewistischen Abgeordneten in der Liste seiner
Mitarbeiter (zwei hatten sich geweigert); zu gleicher Zeit erschienen die Namen
der Mitglieder der menschewistischen Fraktion am Kopf der »Prawda«. Das
Versöhnlertum hatte einen neuen Sieg davongetragen, was im Grunde eine
Niederlage, sowohl dem Geist wie dem Buchstaben nach, für die Prager Konferenz
bedeutete.
Bald
erschien noch ein anderer Name auf der Liste der Mitarbeiter des »Lutsch«: der
Gorkis. Das sah nach einem Komplott aus. »Und wie fühlen Sie sich bei
›Lutsch‹???«, schrieb Lenin an Gorki mit drei Fragezeichen. »Ist es möglich,
daß Sie den Spuren der Abgeordneten folgen? Die sind doch aber nur einfach in
die Falle gegangen!« Stalin befand sich während des vorübergehenden Triumphs
der Versöhnler in Petersburg, wo er für das Zentralkomitee die Kontrolle über
die Fraktion und die »Prawda« ausübte. Niemand hat je von einem Protest Stalins
gegen die Beschlüsse gesprochen, die der Politik Lenins einen harten Schlag
versetzten – ein sicheres Zeichen dafür, daß hinter den Kulissen, wo sich die
versöhnlerischen Manöver abspielten, Stalin selbst stand. Der Abgeordnete
Badajew schrieb später, seine Sünde bekennend: »Wie in allen anderen Fällen
entsprach unser Beschluß ... dem Geisteszustand, der in den leitenden Kreisen
der Partei herrschte, mit denen wir damals Gelegenheit hatten, über unsere
Tätigkeit zu diskutieren ...« Diese Umschreibung zielt auf das Petersburger
Büro des Zentralkomitees und in erster Linie auf Stalin hin. Badajew plädiert
vorsichtig dafür, daß die Verantwortung für die von den Führern begangenen
Fehler nicht auf die Geführten abgewälzt werde.
Vor einigen
Jahren ist in der sowjetischen Presse die Bemerkung laut geworden, daß die
Geschichte des internen Kampfes zwischen Lenin auf der einen, der Dumafraktion
und der »Prawda«-Redaktion auf der anderen Seite noch nicht genügend aufgeklärt
sei. In den letzten Jahren ist alles getan worden, um eine solche Aufklärung
schwieriger denn je zu gestalten. Die Korrespondenz Lenins aus jener kritischen
Periode ist bis heute noch nicht vollständig veröffentlicht worden. Dem
Historiker stehen nur solche Dokumente zur Verfügung, die aus dem einen oder
anderen Grunde den Archiven vor der Einrichtung der totalitären Kontrolle
entnommen worden sind. Immerhin ergeben selbst diese vereinzelten Fragmente ein
klares Bild. Lenins Unversöhnlichkeit war nur die Kehrseite seines
realistischen Weitblicks. Er bestand auf einer Scheidung in
Richtung der Linie, die schließlich die Schlachtlinie des Bürgerkriegs werden
sollte. Der Empiriker Stalin war organisch unfähig, sich zu einer so weiten
Sicht aufzuschwingen. Er bekämpfte während der Wahlkampagne energisch die
Liquidatoren, um seine eigenen Abgeordneten zu haben: ihm ging es darum, sich
einen wichtigen Stützpunkt zu schaffen. Doch als diese organisatorische Aufgabe
einmal gelöst war, hielt er es nicht für angebracht, einen neuen »Sturm im
Wasserglas« zu entfesseln, um so mehr als die Menschewiki, unter dem Einfluß
der revolutionären Welle, bereit schienen, eine neue Sprache zu sprechen.
Wahrhaftig, es war kein Grund vorhanden, »nach den Sternen zu greifen«. Lenins
ganze Politik war auf die revolutionäre Erziehung der Massen abgestimmt. Der
Kampf während der Wahlkampagne war für ihn sinnlos, wenn sich die
sozialdemokratischen Abgeordneten nach der Wahl vereinten! Ihm erschien es
notwendig, den Arbeitern bei jeder Gelegenheit – bei jedem Schritt, bei jedem
Ereignis – die Möglichkeit zu geben, sich selbst davon zu überzeugen, daß sich
die Bolschewiki in allen Grundfragen klar von allen anderen politischen
Gruppierungen unterschieden. Dies war der wichtigste Konfliktstoff zwischen
Krakau und Petersburg.
Die Schwankungen
der Dumafraktion waren eng mit der Politik der »Prawda« verbunden. »In dieser
Periode«, schreibt Badajew 1930, »leitete Stalin, der illegal lebte, die
Prawda.« Ebenso schreibt der gut unterrichtete Saweljew: »Der illegal lebende
Stalin leitete praktisch die Zeitung im Herbst 1912 und im Winter 1912/13. Er
war nur einmal während der kurzen Zeit abwesend, wo er ins Ausland und nach
Moskau und anderen Orten gegangen war.« Diese Bekundungen von Augenzeugen, die
mit allen bekannten Tatsachen übereinstimmen, können nicht in Zweifel gestellt
werden. Trotzdem ist es nicht richtig, daß Stalin im eigentlichen Sinne des
Wortes der Leiter der Zeitung war. Der Mann, der tatsächlich die Zeitung
leitete, war Lenin. Jeden Tag schickte er Artikel, Kritiken der Artikel
anderer, Vorschläge, Anweisungen, Korrekturen. Der langsam denkende Stalin
konnte wahrscheinlich diesem reißenden Strom von Ideen und Suggestionen gar
nicht folgen, der ihm sicherlich zu neun Zehnteln als übertrieben und
überflüssig erschien. Die Redaktion hielt sich im wesentlichen in der
Defensive. Sie hatte keine eigenen politischen Ideen und bemühte sich
lediglich, die scharfen Ecken der Krakauer Politik abzurunden. Lenin verstand es aber, diese Ecken nicht nur zu erhalten, sondern
sie noch schärfer zuzuspitzen. Unter diesen Umständen wurde Stalin natürlich
der heimliche Einflüsterer der versöhnlerischen Opposition gegen Lenins
offensive Haltung.
»Neue
Konflikte«, sagen die Herausgeber der sämtlichen Werke Lenins (Bucharin,
Molotow, Saweljew), »tauchten auf infolge der schwächlichen Polemik gegen die
Liquidatoren nach der Beendigung der Wahlkampagne und auch gelegentlich der
Einladung an die ›Vorwärtsler‹ zur Mitarbeit an der ›Prawda‹. Die Beziehungen
verschlechterten sich noch mehr nach der Abreise von J. Stalin aus Petersburg
im Januar 1913.« Die sorgfältig abgewogene Formel »verschlechterten sich noch
mehr«, zeigt, daß sich die Beziehungen zwischen Lenin und der Redaktion schon
vor der Abfahrt Stalins nicht durch Freundschaftlichkeit auszeichneten. Aber
Stalin hat es stets und auf jede Weise vermieden, sich zur »Zielscheibe« zu
machen.
Die
Mitglieder der Redaktion hatten wenig Einfluß innerhalb der Partei, und einige
unter ihnen waren Zufallsfiguren. Es wäre für Lenin nicht schwierig gewesen,
sie durch andere zu ersetzen. Aber sie fanden eine Stütze in der Haltung der
höheren Parteiregion und in der Person des Vertreters des Zentralkomitees. Ein
heftiger Konflikt mit Stalin, der mit der Redaktion und der Fraktion eng
verbunden war, hätte den Generalstab der Partei erschüttert. Deswegen war
Lenins Politik bei aller Entschiedenheit doch vorsichtig. Am 13. November warf
er der Redaktion »tief bekümmert« vor, der Eröffnung des Internationalen
Sozialistenkongresses in Basel keinen Artikel gewidmet zu haben: »Es wäre nicht
schwer gewesen, einen solchen Artikel zu schreiben, und die Redaktion der
›Prawda‹ wußte, daß der Kongreß am Sonntag eröffnet wurde.« Stalin war
wahrscheinlich ehrlich überrascht. Ein internationaler Kongreß? In Basel? Das
lag nicht in seinem Gesichtskreis. Die Hauptquelle der Konflikte waren aber
nicht vereinzelte, wenn auch fortlaufend vorkommende Dummheiten, sondern die
grundlegenden Unterschiede in der Art, wie die Entwicklung der Partei zu
beurteilen war. Lenins Politik hatte nur von einer kühnen revolutionären
Perspektive aus einen Sinn, vom Gesichtspunkt der Auflagenhöhe der Zeitung aus
oder der Errichtung eines Apparats konnte sie nur höchst extravagant
erscheinen. Im Grunde seines Herzens hielt Stalin den »Emigranten« Lenin immer noch
für einen Sektierer.
Hier muß ein bezeichnender Zwischenfall aus jener Zeit
vermerkt werden. In jenen Jahren befand sich Lenin in großer Notlage. Als die
»Prawda« auf den Beinen stand, legte die Redaktion für ihren Inspirator und
Hauptmitarbeiter ein Honorar fest, das, obwohl äußerst bescheiden, seine
wichtigste Einkommensquelle war. Genau in dem Augenblick, als der Konflikt
seinen Höhepunkt erreichte, kam kein Geld mehr. Trotz seiner ungewöhnlichen
Zurückhaltung in Dingen dieser Art, war Lenin gezwungen, sich in Erinnerung zu
bringen. »Warum sendet ihr das geschuldete Geld nicht? Die Verzögerung
verursacht uns beträchtliche Schwierigkeiten. Bitte beeilt euch.« Die
Verzögerung in der Absendung des Geldes kann schwerlich als eine Art von
finanzieller Bestrafung angesehen werden (obwohl Stalin später, als er an der
Macht war, nicht zögerte, fortwährend zu solchen Methoden zu greifen). Aber
selbst wenn es sich nur um eine einfache Unaufmerksamkeit gehandelt hat, so
wirft sie ein bezeichnendes Licht auf die Beziehungen zwischen Petersburg und
Krakau. Sie waren in der Tat alles andere als freundschaftlich.
Die Empörung
über die »Prawda« machte sich in einem Briefe Luft, der unmittelbar nach der
Abreise Stalins nach Krakau geschrieben wurde. Stalin fuhr dorthin, um einer
Konferenz des Generalstabs der Partei beizuwohnen. Man kann sich des Eindrucks
nicht erwehren, daß Lenin nur auf diese Abreise gewartet hatte, um in das
Petersburger Versöhnlernest zu stechen und gleichzeitig die Möglichkeit einer
friedlichen Verständigung mit Stalin zu wahren. Im selben Augenblick, in dem
der einflußreichste Feind neutralisiert ist, unternimmt Lenin einen
mörderischen Angriff auf die Petersburger Redaktion. In seinem an eine
Vertrauensperson in Petersburg adressierten Brief spricht Lenin von der
»unverzeihlichen Stupidität«, die die »Prawda« in ihrem Verhalten gegenüber
einer Zeitung der Textilarbeiter an den Tag gelegt habe, besteht darauf, daß
»diese Stupidität« wiedergutgemacht werde und so weiter. Der Brief ist gänzlich
von der Hand der Krupskaja geschrieben. Folgendes aber ist in Lenins
Handschrift hinzugefügt: »Wir haben einen stupiden und unverschämten Brief von
der Redaktion bekommen. Wir werden nicht antworten. Man muß sie loswerden ...
Wir sind sehr beunruhigt darüber, daß wir keine Nachrichten über den Plan für
die Umorganisierung der Redaktion haben ... Eine Umorganisierung oder noch
besser der vollständige Ausschluß aller an der Angelegenheit Beteiligten ist
unbedingt notwendig. Es ist ganz absurd. Sie loben den
›Bund‹ und die ›Zeit‹ (eine opportunistische jüdische Zeitschrift), das ist
einfach verächtlich. Sie wissen nicht, wie sie gegen ›Lutsch‹ kämpfen sollen,
und ihre Haltung gegenüber den Artikeln (Lenins Artikeln) ist monströs. Ich
habe einfach die Geduld verloren ...« Der Ton dieses Briefes zeigt, daß Lenins
Empörung – und er wußte sich zurückzuhalten, wenn es notwendig war – ihren
Höhepunkt erreicht hatte. Die vernichtende Kritik an der Zeitung bezieht sich
auf die ganze Periode, während der Stalin für die Zeitung verantwortlich war
und sie direkt überwachte. Von wem eigentlich der »stupide und unverschämte
Brief der Redaktion« geschrieben worden ist, das ist noch nicht enthüllt
worden, und sicherlich nicht durch Zufall. Stalin hat ihn kaum geschrieben,
dazu war er zu vorsichtig, übrigens befand er sich um jene Zeit wohl schon
nicht mehr in Petersburg. Am wahrscheinlichsten ist, daß der Brief von Molotow
stammt, dem offiziellen Redaktionssekretär, der ebenso zur Grobheit neigt wie
Stalin, aber nicht des Letzteren Wendigkeit besitzt. Es ist nicht schwer zu
erraten, welchen Charakter der »stupide und unverschämte« Brief trug: »wir«
sind die Redaktion, »wir« entscheiden, Ihre Emigranten-Vorstellungen sind für
uns ein »Sturm im Wasserglas«, Sie können, wenn Sie wollen, »nach den Sternen
greifen«, wir, »wir arbeiten« !
Mit welcher
Entschiedenheit Lenin diesmal an den chronischen Konflikt heranging, zeigen
folgende Zeilen: »Was ist in bezug auf die Kontrolle des Geldes getan worden?
Wer hat die Subskriptionsgelder bekommen? In wessen Händen befinden sie sich?
Wieviel ist es?« Lenin schloß offenbar nicht die Möglichkeit eines Bruchs aus
und war bemüht, die Gelder in eigene Hände zu bekommen. Doch kam es nicht zum
Bruch, die aufgescheuchten Versöhnler wagten nicht einmal, daran zu denken.
Passiver Widerstand war ihre einzige Waffe. Auch diese sollte ihnen nunmehr aus
der Hand geschlagen werden.
Die
Krupskaja beginnt ein Schreiben an Schklowsky in Bern, in dem sie diesem auf
einen pessimistischen Brief antwortet und sagt, daß die Sache der Bolschewiki
nicht so schlecht stünde wie es scheine, mit dem Eingeständnis, daß »natürlich
die ›Prawda‹ schlecht geleitet ist«. Der Satz nimmt sich wie ein Gemeinplatz
aus, wie etwas, das keiner Diskussion bedarf. »Jeder x-beliebige kann Redakteur
werden, die wenigsten wissen eine Feder zu führen ... Die Proteste der Arbeiter
gegen ›Lutsch‹ werden nicht veröffentlicht, um Polemiken
aus dem Wege zu gehen.« Doch kündigt die Krupskaja für die nahe Zukunft
»gründliche Reformen« an. Dieser Brief ist am 19. Januar geschrieben worden. Am
nächsten Tage sandte Lenin einen Brief nach Petersburg, den er der Krupskaja
diktiert hatte und wo es heißt: »... wir müssen unsere eigene
›Prawda‹-Redaktion aufstellen und die jetzige verjagen. Die Dinge stehen jetzt
sehr schlecht. Daß keine Kampagne für die Einheit von unten durchgeführt wird,
ist stupide und verächtlich ... Kann man so etwas Redakteure nennen? Das sind
keine Männer, sondern erbärmliche Waschlappen, die die Sache zugrunde richten.«
Das war der Stil, den Lenin anwandte, wenn er zeigen wollte, daß er bereit war,
den Kampf bis zum bitteren Ende durchzufechten.
Von
sorgfältig plazierten Batterien aus eröffnete er ein paralleles Feuer gegen das
Versöhnlertum in der Dumafraktion. Schon am 3. Januar hatte er nach Petersburg
geschrieben: »Sorgt dafür, daß der Brief der Bakuer Arbeiter, den wir Euch
zusenden, unbedingt veröffentlicht wird ...« In dem Brief wird der Bruch der
bolschewistischen Abgeordneten mit »Lutsch« verlangt. Nachdem sie die Tatsache
hervorgehoben hatten, daß die Liquidatoren im Verlaufe der letzten fünf Jahre
»in allen Tonarten wiederholt haben, daß die Partei tot ist«, fragten die
Bakuer Arbeiter: »Wie kommt es, daß sie sich jetzt mit einem Kadaver vereinigen
wollen?« Die Frage traf den Nagel auf den Kopf. »Wann werden die Vier
(Deputierten) ›Lutsch‹ verlassen?«, fragte Lenin seinerseits unablässig. »Kann
man noch länger warten? ... Selbst aus dem fernen Baku protestieren zwanzig
Arbeiter.« Man kann die Vermutung wagen, daß Lenin, nachdem er den Bruch der
Deputierten mit »Lutsch« mittels des Briefwechsels nicht erreicht hatte, nun
behutsam dazu überging, die untere Mitgliedschaft zu mobilisieren. Zweifellos
hatten die Bakuer Arbeiter auf seine Initiative hin protestiert – nicht
zufällig hatte Lenin Baku gewählt! – und ihr Protest wurde nicht an die
Redaktion der »Prawda« gesandt, die der Bakuer Führer Koba leitete, sondern an
Lenin in Krakau. Hier werden die verwirrten Fäden des Konfliktes klar
übersichtlich. Lenin greift an. Stalin manövriert. Trotz des Widerstandes der
Versöhnler, aber mit der unfreiwilligen Hilfe der Liquidatoren, deren
Opportunismus immer offensichtlicher wurde, gelingt es Lenin bald, die
bolschewistischen Abgeordneten zu veranlassen, sich unter Protest von der
Mitarbeit an »Lutsch« zurückzuziehen. Doch waren sie
weiterhin an die Disziplin der Liquidatorenmehrheit in der Dumafraktion
gebunden.
Zum
Schlimmsten bereit, selbst zum Bruch, ergreift Lenin wie immer alle Maßnahmen,
um sein politisches Ziel mit den mindesten Erschütterungen und so wenig Opfern
wie möglich zu erreichen. Eben deshalb berief er zuerst einmal Stalin ins
Ausland und gab ihm zu verstehen, daß er besser daran täte, sich von der
»Prawda« während der bevorstehenden »Reformen« fernzuhalten. Gleichzeitig wurde
ein anderes Mitglied des Zentralkomitees nach Petersburg geschickt – Swerdlow,
der zukünftige erste Präsident der Sowjetrepublik. Diese bezeichnende Tatsache
ist offiziell bestätigt: »Um die Redaktion umzuorganisieren«, heißt es in einer
Fußnote im XVI. Band der Sämtlichen Werke Lenins, »hat das Zentralkomitee
Swerdlow nach Petersburg geschickt.« »Heute haben wir von dem Anfang der Reform
in der ›Prawda‹ erfahren«, schrieb Lenin an ihn. »Tausend Grüße, wir wünschen
Glück und Erfolg ... Sie können sich nicht vorstellen, bis zu welchem Grade wir
es satt haben, mit einem versteckt feindlichen Redaktionsstab zu arbeiten.« Mit
diesen Worten, in denen sich die angesammelte Bitterkeit mit einem Seufzer der
Erleichterung mengt, zieht Lenin den Schlußstrich unter jene ganze Periode
schwieriger Beziehungen mit der Redaktion, während welcher, wie wir gesehen
haben, »Stalin der eigentliche Leiter der Zeitung war«.
»Der
Verfasser dieser Zeilen erinnert sich deutlich«, schrieb Sinowjew im Jahre
1934, als das Damoklesschwert schon über seinem Haupte hing, »was für ein
Ereignis Stalins Ankunft in Krakau war.« Lenin war doppelt erfreut, einmal, weil
er jetzt, wo Stalin nicht in Petersburg war, dort eine heikle Operation
vornehmen konnte und weiter, weil sich im Innern des Zentralkomitees die
Angelegenheit wahrscheinlich ohne Zwischenfälle beilegen ließ. In ihrem kurzen
und vorsichtigen Bericht über Stalins Aufenthalt in Krakau bemerkt die
Krupskaja wie nebenbei: »Iljitsch war wegen der ›Prawda‹ sehr nervös. Stalin
wurde ebenfalls nervös. Sie verständigten sich über die Regelung der
Angelegenheit.« Diese bei all ihrer absichtlichen Verschwommenheit sehr
aufschlußreichen Zeilen sind alles, was von einem auf Verlangen des Zensors
korrigierten viel offeneren Text übriggeblieben ist. Nach allem, was wir schon
über die ganzen Umstände wissen, ist kein Zweifel daran möglich, daß Lenin und
Stalin aus verschiedenen Gründen »nervös« waren; jeder von ihnen wollte seine eigene Politik verteidigen. Indes, der Kampf war allzu
ungleich: Stalin mußte nachgeben.
Die
Konferenz, zu der er berufen worden war, tagte vom 28. Dezember 1912 bis zum 1.
Januar 1913. Elf Personen nahmen daran teil – Mitglieder des Zentralkomitees,
der Dumafraktion und bekannte örtliche Leiter. Außer den allgemeinen
politischen Aufgaben, die der neue revolutionäre Aufschwung stellte,
beschäftigte sich die Konferenz mit den brennenden Fragen des internen
Parteilebens – der Dumafraktion, der Parteipresse, den Beziehungen mit den
Liquidatoren und dem Losungswort »Einheit«. Die Hauptreferate wurden von Lenin
gehalten. Man kann annehmen, daß die Duma-Abgeordneten und ihr Führer Stalin
viele bittere Wahrheiten zu hören bekamen, wenn diese auch in freundlichem Tone
gesagt wurden. Stalin scheint sich auf der Konferenz ausgeschwiegen zu haben.
Nur so ist es zu erklären, daß der ergebene Badajew in der ersten Auflage
seiner Erinnerungen (1929) Stalin unter den Teilnehmern nicht einmal erwähnt.
In kritischen Augenblicken zu schweigen, ist eine Methode, die Stalin
anzuwenden liebt. Die Protokolle und andere Dokumente über die Konferenz »sind
noch nicht gefunden worden«. Höchstwahrscheinlich wurden besondere Maßnahmen
getroffen, um dafür zu sorgen, daß sie nicht gefunden wurden. In einem der
Briefe, die die Krupskaja in dieser Zeit nach Rußland sandte, wird gesagt: »Die
Berichte, die auf der Konferenz von den verschiedenen Ortsgruppen abgegeben
wurden, waren sehr interessant. Jeder sagt, daß die Massen reifer geworden
sind. Während der Wahlen ist es offenbar geworden, daß es überall spontan
entstandene Arbeiterorganisationen gibt. In den meisten Fällen sind sie nicht
an die Partei gebunden, aber ihrem Geiste nach sind es Gruppen der Partei.« Was
Lenin betrifft, so schrieb er an Gorki, daß die Konferenz »sehr erfolgreich«
gewesen sei und »ihre Bedeutung haben« würde. Ihm lag vor allem an einer
Neuausrichtung der Parteipolitik.
Nicht ohne
eine gewisse Ironie teilte die Geheimpolizei dem Leiter ihrer Auslandsagentur
mit, daß, im Gegensatz zu seinem letzten Bericht, der Abgeordnete Poletajew
nicht an der Konferenz teilgenommen habe, sondern daß folgende Personen
anwesend waren: Lenin, Sinowjew, Krupskaja, die Deputierten Malinowsky,
Petrowsky, Badajew; Lobow, der Arbeiter Medwedjew, der Artillerieleutnant
Trojanowsky (später Botschafter in den Vereinigten Staaten), dessen Frau und
Koba. Die Reihenfolge der Namen ist nicht uninteressant.
Auf der Liste der Polizei figuriert Stalins Name als letzter. In den
Bemerkungen zu Lenins Sämtlichen Werken (1929) wird er an fünfter Stelle
genannt, nach Lenin, Sinowjew, Kamenew und Krupskaja, obwohl Sinowjew, Kamenew
und Krupskaja damals schon längst in Ungnade gefallen waren. Auf den der
neuesten Ära entstammenden Listen besetzt Stalin unweigerlich den zweiten
Platz, direkt nach Lenin. Diese Verschiebungen markieren ausgezeichnet die Art
seiner geschichtlichen Karriere.
Das Amt der
Geheimpolizei wollte mit seinem Briefe beweisen, daß Petersburg besser über das
informiert war, was sich in Krakau zugetragen hatte, als die Auslandsagentur.
Kein Wunder, spielte doch Malinowsky, dessen wirkliche Rolle als Spitzel nur
auf den höchsten Gipfeln des Polizeiolymps bekannt war, eine bedeutende Rolle
auf der Konferenz. Daß manche Sozialdemokraten, die mit ihm in den Jahren der
Reaktion zusammengekommen waren, ihn schon damals verdächtigten, ist richtig.
Sie hatten aber keine Beweise, und der Verdacht verflüchtigte sich. Im Januar
1912 wurde Malinowsky von den Moskauer Bolschewiki zur Prager Konferenz
delegiert. Lenin nahm sich des fähigen und energischen Arbeiters an und sorgte
dafür, daß er als Kandidat für die Dumawahlen aufgestellt wurde. Die Polizei
ihrerseits half ihrem Agenten, indem sie alle seine etwaigen Konkurrenten
verhaften ließ. Innerhalb der Dumafraktion erwarb der Vertreter der Moskauer
Arbeiter sofort große Autorität. Malinowsky erhielt die Texte für seine
Parlamentsreden fix und fertig von Lenin; er übermittelte die Manuskripte dem Polizeichef
zur Durchsicht. Dieser versuchte zwar zuerst, die Texte abzuschwächen, aber das
Regime in der bolschewistischen Dumafraktion zog der Autonomie des einzelnen
Abgeordneten enge Grenzen. Das Resultat war, daß, wenn der sozialdemokratische
Abgeordnete der beste Ochrana-Spitzel war, der Ochrana-Spitzel der
kämpferischste Redner der sozialdemokratischen Fraktion wurde.
Ein neuer
Verdacht gegen Malinowsky tauchte im Sommer 1913 bei verschiedenen bekannten
Bolschewiki auf, doch blieb das mangels an Beweisen abermals ohne Folgen. Nun
bekam es aber die Regierung selbst mit der Angst zu tun, daß die Sache ruchbar
werden und einen politischen Skandal hervorrufen könnte. Auf Befehl seines
Vorgesetzten übergab Malinowsky dem Präsidenten der Duma im Mai 1914 eine
Erklärung, wonach er auf sein Abgeordnetenmandat
verzichtete. Von neuem tauchten Gerüchte über seine Rolle auf, diesmal mit
verstärkter Kraft, und gelangten sogar in die Presse. Malinowsky ging ins
Ausland und verlangte von Lenin eine Untersuchung. Offenbar hatte er zusammen
mit seinen Vorgesetzten die Linie seines Verhaltens sorgfältig ausgearbeitet.
Zwei Wochen später veröffentlichte das Petersburger Parteiorgan ein Telegramm,
aus dem indirekt hervorging, daß das Zentralkomitee, nachdem es die Angelegenheit
Malinowsky untersucht habe, von dessen persönlicher Ehrenhaftigkeit überzeugt
sei. Wieder einige Tage später wurde eine Entschließung veröffentlicht, die
besagte, daß sich Malinowsky mit dem freiwilligen Verzicht auf sein
Abgeordnetenmandat »außerhalb der Reihen der organisierten Marxisten« gestellt
habe. In der Sprache der legalen Zeitung bedeutete das den Ausschluß aus der
Partei.
Lenin war
von seinen Gegnern lange Zeit hindurch scharf angegriffen worden, weil er
Malinowsky »gedeckt« habe. Die Mitwirkung eines Polizeiagenten in der
Dumafraktion und besonders im Zentralkomitee war natürlich eine große Kalamität
für die Partei. So wurde Stalin zu seiner letzten Verbannung auf eine
Denunziation Malinowskys hin verurteilt. Doch vergifteten in jenen Tagen überhaupt
Verdächtigungen, die häufig mit fraktionellen Feindseligkeiten zusammenhingen,
die ganze Atmosphäre der Untergrundbewegung. Niemand lieferte direkte Beweise
gegen Malinowsky. Und da Malinowsky einen verantwortlichen Posten innehatte und
der Ruf der Partei bis zu einem gewissen Grade von seinem persönlichen Ruf
abhing, hielt es Lenin für seine Pflicht, ihn mit der Energie zu verteidigen,
die Lenin stets auszeichnete. Nach dem Sturz der Monarchie kam ans Tageslicht,
daß Malinowsky für die Polizei tätig gewesen war. In der Oktoberrevolution
wurde der Spitzel Malinowsky, der aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager
nach Moskau zurückgekehrt war, von einem Gericht zum Tode verurteilt und
erschossen.
Trotz des
Leutemangels beeilte sich Lenin nicht, Stalin nach Rußland zurückzuschicken.
Vor seiner Rückkehr mußten die »gründlichen Reformen« beendet sein.
Andererseits brannte auch Stalin nicht darauf, an den Platz seines früheren
Wirkens zurückzukehren, nachdem die Krakauer Konferenz seine Politik in indirekter,
aber unzweideutiger Weise verurteilt hatte. Wie immer ließ Lenin dem Besiegten
einen ehrenvollen Rückzug offen. Rachegedanken waren ihm
vollständig fremd. Um Stalin in dieser kritischen Periode im Ausland
zurückzuhalten, lenkte er sein Interesse auf eine Arbeit über das Problem der
nationalen Minderheiten – ein Verfahren, das ganz im Geiste Lenins lag!
Jemandem,
der aus dem Kaukasus mit seinen Dutzenden von halbzivilisierten und primitiven,
jedoch rapide erwachenden Völkerschaften gebürtig war, brauchte man nicht die
Bedeutung der nationalen Frage klar zu machen. Die Tradition der nationalen
Unabhängigkeit lebte in Georgien weiter. Eben von dieser Seite her hatte Koba
seine ersten revolutionären Impulse empfangen. Selbst sein Deckname ging auf
den Kampf für die nationale Unabhängigkeit zurück. Gewiß stand er, nach
Iremaschwili, seit den Jahren der ersten Revolution dem georgischen Problem
kühl gegenüber. »Die nationale Freiheit ... bedeutete ihm nichts mehr. Er
wollte seinem Willen zur Macht keine Grenzen setzen. Rußland und die ganze Welt
waren von nun an sein Begehr.« Iremaschwili nimmt offensichtlich Tatsachen und
Einstellungen voraus, die erst einer späteren Zeit angehören. Eins ist über
jeden Zweifel erhaben: nachdem Koba Bolschewik geworden war, ließ er die
nationalistische Romantik fallen, die weiterhin mit dem kraftlosen Sozialismus
der georgischen Menschewiki in friedlicher Harmonie lebte. Doch konnte Koba
nicht, nachdem er die Idee der georgischen Unabhängigkeit fallen lassen hatte,
wie so viele Großrussen der nationalen Frage im allgemeinen gegenüber
indifferent bleiben, weil die Beziehungen zwischen Georgiern, Armeniern,
Tataren, Russen und anderen, ständig die revolutionäre Arbeit im Kaukasus
komplizierten.
Seiner
Einstellung nach war Koba Internationalist geworden. Aber ist er es auch seinem
Fühlen nach jemals geworden ? Der Großrusse Lenin wollte keine Witze und
Anekdoten anhören, die irgendwie die Gefühle einer unterdrückten Nation hätten
verletzen können. Stalin hatte zu viel von einem Bauern aus dem Dorf Didi-Lilo.
In den vorrevolutionären Jahren wagte er natürlich nicht, die nationalen
Vorurteile auszuspielen, wie er es später tat, als er an der Macht war. Doch
die Disposition dafür zeigte sich in Kleinigkeiten schon in jener Zeit. Von dem
Übergewicht der Juden in der menschewistischen Fraktion auf dem Londoner
Parteitag von 1907 sprechend, schrieb Koba: »Hierzu bemerkte einer der
Bolschewiki (ich glaube, es war der Genosse Alexinsky) im Scherz, daß die Menschewiki
eine jüdische Fraktion seien, während die Bolschewiki echte Russen sind, und
daß es nicht ausgeschlossen wäre, daß wir Bolschewiki
einmal ein Pogrom in der Partei veranstalten würden.« Selbst heute muß man sich
wundern, daß Stalin es für tragbar hielt, in einem Brief an die Arbeiter des
Kaukasus, wo die Atmosphäre von nationalen Gegensätzen vergiftet war, einen
Scherz von so zweifelhaftem Geschmack wiederzugeben. Das ist übrigens nicht
zufälliger Taktlosigkeit zuzuschreiben, sondern bewußter Berechnung. Wir
erinnern uns, daß der Autor in demselben Artikel leichthin über die Resolution
des Parteitags bezüglich der Expropriationen »scherzte«, um so die Zweifel zu
zerstreuen, die die kaukasischen »Bojewiki« haben konnten. Man kann sicher
sein, daß die menschewistische Fraktion in Baku damals von Juden geleitet wurde
und daß der Autor mit seinem »Scherz« über einen Pogrom seine Fraktionsgegner
in den Augen der rückständigen Arbeiter diskreditieren wollte. Das war
einfacher, als sie zu überzeugen und sie zu erziehen, und Stalin hat immer und
in jeder Angelegenheit die Linie des geringsten Widerstands gesucht.
Hinzugefügt werden mag, daß auch Alexinskys »Scherz« nicht zufällig entstanden
ist: dieser ultralinke Bolschewik ist später ein ausgesprochener Reaktionär und
Antisemit geworden.
Natürlich
hielt Koba in seiner politischen Tätigkeit an der offiziellen Parteieinstellung
fest. Doch hatten seine Artikel zu dieser Frage vor seiner Auslandsreise nie
über dem Niveau der Tagespropaganda gestanden. Erst jetzt, auf Lenins
Initiative hin, behandelte er das Nationalitätenproblem von einem weiteren
theoretischen und politischen Gesichtspunkt aus. Seine direkte Kenntnis der
verwickelten nationalen Verhältnisse im Kaukasus erlaubte ihm zweifellos, sich
leichter auf diesem komplizierten Gebiete zurechtzufinden, wo abstrakte
Theorien besonders gefährlich sind.
In zwei
Ländern des Vorkriegseuropa hatte die nationale Frage außerordentliche
Bedeutung: im zaristischen Rußland und im Österreich-Ungarn der Habsburger. In
jedem dieser Länder schuf die Arbeiterpartei ihre eigene Schule. Auf dem Gebiet
der Theorie betrachtete die österreichische Sozialdemokratie in den Personen
Otto Bauers und Karl Renners die Nationalität unabhängig von Territorium,
Wirtschaft und Klasse und machte daraus eine mit dem sogenannten
»Nationalcharakter« in Verbindung stehende Art von Abstraktion. Auf dem Gebiet
der Nationalitätenpolitik, wie übrigens auf allen anderen Gebieten, wagte sie
sich nicht über einige Korrekturen am Status quo hinaus.
Aus Furcht vor dem bloßen Gedanken an eine Aufteilung der Monarchie, strebte
die österreichische Sozialdemokratie danach, ihr Nationalitätenprogramm den
Grenzen eines aus lauter Stückchen zusammengesetzten Staates anzupassen. Ihr
Programm der sogenannten »nationalen Kulturautonomie« forderte, daß die
Staatsbürger gleicher Nationalität unabhängig von ihrer Verstreuung über das
österreichisch-ungarische Territorium und unabhängig von der administrativen
Einteilung des Staates auf der Basis rein persönlicher Attribute in eine
Gemeinschaft für die Lösung ihrer »kulturellen« Aufgaben vereinigt würden
(Theater, Kirche, Schule usw.). Das war ein künstliches und utopisches
Programm, insofern es versuchte, in einer von sozialen Gegensätzen zerrissenen
Gesellschaft die Kultur vom Territorium und von der Wirtschaft zu trennen. Es
war zugleich ein reaktionäres Programm, insoweit es zwangsläufig zu einer
Teilung der Arbeiter eines und desselben Staates in verschiedene Nationalitäten
führte und so ihre Klassenkraft unterminierte.
Lenins
Einstellung war dieser direkt entgegengesetzt. Er betrachtete die Nationalität
als unauflöslich mit dem Boden, der Wirtschaft und der Klassenstruktur
verbunden, weigerte sich aber gleichzeitig, in dem geschichtlich entstandenen
Staat, dessen Grenzen durch die lebendigen Körper der Nationen hindurchgingen,
eine heilige und unantastbare Einrichtung zu sehen. Er trat für das Recht auf
Lostrennung und unabhängige Existenz für jede Nationalität im Staate ein. In
dem Maße wie verschiedene Nationalitäten, freiwillig oder zwangsweise,
innerhalb der Grenzen eines Staates zusammenleben, müssen ihre kulturellen
Bedürfnisse im Rahmen weitestgehender regionaler (also territorialer) Autonomie
ihre größtmögliche Befriedigung finden, und zwar unter genau festgelegten
Garantien der Rechte jeder Minderheit. Zugleich hielt es Lenin für eine
absolute Pflicht aller Arbeiter eines gegebenen Staates, sich ungeachtet ihrer
Nationalität in ein und derselben Klassenorganisation zu vereinigen.
In Polen war
die nationale Frage infolge des historischen Schicksals des Landes besonders
vordringlich. Die von Josef Pilsudski geführte sogenannte Polnische
Sozialistische Partei (»P. P. S.«) kämpfte leidenschaftlich für die
Unabhängigkeit Polens; ihr »Sozialismus« war nur ein bedeutungsloses Anhängsel
ihres streitbaren Nationalismus. Eine gegensätzliche Stellung dazu nahm die
Polnische Sozialdemokratie unter der Leitung von Rosa Luxemburg ein, die die
Losung eines unabhängigen Polens im Namen der Autonomie des
polnischen Gebietes als konstituierenden Teils eines demokratischen Rußlands
bekämpfte. Rosa Luxemburg ging davon aus, daß in der Epoche des Imperialismus
die Trennung Polens von Rußland ökonomisch undurchführbar sei und daß sie in
der Epoche des Sozialismus überflüssig werden würde. Das »Recht auf
Selbstbestimmung« hielt sie für eine leere Abstraktion. Der Streit um diese
Frage dauerte Jahre. Lenin bestand darauf, daß der Imperialismus nicht in allen
Ländern, Gebieten und Lebenssphären in der gleichen Weise herrsche; daß die
Erbschaft aus der Vergangenheit eine Anhäufung und ein Verwickeltsein der
verschiedensten historischen Epochen darstelle; daß das Monopolkapital, obschon
es sich über alles andere erhebe, doch nicht alles andere beiseiteschieben
könne; daß trotz der Herrschaft des Imperialismus die zahlreichen nationalen
Probleme ihre ganze Kraft behielten und daß Polen infolge innerer und
weltpolitischer Umstände auch in der Epoche des Imperialismus seine
Unabhängigkeit erlangen könne.
In Lenins
Augen war das Recht auf Selbstbestimmung lediglich eine Anwendung der
Prinzipien der bürgerlichen Demokratie auf dem Gebiete der nationalen
Beziehungen. Eine echte, vollständige, allseitige Demokratie ist unter dem
Kapitalismus nicht zu verwirklichen; in diesem Sinne ist die nationale Unabhängigkeit
kleiner und schwacher Völker ebenfalls »unrealisierbar«. Doch hört die
Arbeiterklasse selbst unter dem Imperialismus nicht auf, für die demokratischen
Rechte zu kämpfen, mit Einschluß des Rechtes jeder Nation auf eine unabhängige
Existenz. Mehr noch, in manchen Gebieten unseres Planeten ist es gerade der
Imperialismus, der der Losung von der nationalen Unabhängigkeit eine
außerordentliche Bedeutung verleiht. Wenn es in West- und Mitteleuropa im Laufe
des 19. Jahrhunderts gelungen ist, die nationalen Probleme auf die eine oder
andere Weise zu lösen, so hat die Epoche der demokratischen nationalen
Bewegungen in Osteuropa, Asien, Afrika und Südamerika erst im 20. Jahrhundert
wirklich begonnen. Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung zu leugnen, läuft
faktisch darauf hinaus, den Imperialisten gegen ihre Kolonien und ganz
allgemein gegen alle unterdrückten Völkerschaften zu helfen.
In Rußland
hatte sich die nationale Frage während der Periode der Reaktion beträchtlich
zugespitzt. »Die Welle streitbaren Nationalismus«, schrieb Stalin, »die von
oben kommt und die mit einer ganzen Reihe von Repressionsakten seitens
derjenigen verbunden ist, die die Macht besitzen und die
sich an den Grenzbevölkerungen rächen wollen, weil diese die Freiheit lieben,
hat als Antwort eine nationalistische Welle von unten hervorgerufen, die
manchmal in primitiven Chauvinismus übergeht.« Damals spielte sich gerade der
Ritualmordprozeß gegen den Kiewer Juden Bayliss ab. Rückschauend, im Lichte der
letzten Errungenschaften der Zivilisation besonders in Deutschland und in der
UdSSR, sieht dieser Prozeß wie ein humanitäres Experiment aus. Im Jahre 1913
aber empörte er die ganze Welt. Das Gift des Nationalismus drohte auch in
manche Schichten der Arbeiterklasse einzudringen. Das alarmierte Gorki, der an
Lenin schrieb, daß es notwendig sei, sich der chauvinistischen Barbarei
entgegenzustellen. »Was den Nationalismus betrifft, bin ich vollständig mit
Ihnen einverstanden«, antwortete Lenin, »wir müssen uns ernstlicher denn je
damit beschäftigen. Wir haben hier bei uns einen prächtigen Georgier, der jetzt
einen langen Artikel für ›Prosweschtschenje‹ (»Aufklärung«) schreibt, nachdem
er alles Material, österreichisches und anderes, gesammelt hat. Wir werden ein
Auge darauf haben.« Es handelte sich um Stalin. Gorki, der seit langer Zeit mit
der Partei verbunden war, kannte alle führenden Leute sehr gut. Stalin aber war
ihm natürlich völlig unbekannt geblieben, und Lenin mußte zu der wenn auch
schmeichelhaften, so doch unpersönlichen Formulierung »ein prächtiger Georgier«
seine Zuflucht nehmen. Das ist nebenbei bemerkt das einzige Mal, daß Lenin
einen bekannten russischen Revolutionär im Hinblick auf seine Nationalität
charakterisiert. Natürlich hatte er nicht den Georgier, sondern den Kaukasier
im Sinne: das Element der Primitivität zog Lenin zweifellos an; seine Neigung
für Kamo stammte nicht von ungefähr.
Während
seines zweimonatigen Aufenthalts im Ausland schrieb Stalin eine kurze, aber
sehr scharfe Studie unter dem Titel »Der Marxismus und die nationale Frage«.
Für eine legale Zeitschrift bestimmt, hielt sich der Artikel an ein
vorsichtiges Vokabular. Seine revolutionären Tendenzen schienen
nichtsdestoweniger durch. Der Verfasser beginnt, indem er die
historisch-materialistische Definition der Nation der abstrakt-psychologischen
Definition im Geiste der österreichischen Schule gegenüberstellt. »Die Nation«,
schreibt er, »ist eine geschichtlich gebildete dauernde Gemeinschaft der
Sprache, des Territoriums, des ökonomischen Lebens und der psychologischen
Beschaffenheit, die sich in einer gemeinsamen Kultur äußert.« Diese umfassende Definition, die die psychologischen Züge der Nation mit den
geographischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Entwicklung verbindet, ist
nicht nur theoretisch korrekt, sondern auch praktisch fruchtbar, zwingt sie
doch dazu, die Lösung des Problems jeder Nation in einer Änderung ihrer
materiellen Existenzbedingungen zu suchen, vor allem in bezug auf ihr
Territorium. Der Bolschewismus hat niemals fetischistische Ehrfurcht vor
Staatsgrenzen gekannt. Das politische Problem bestand darin, das Zarenreich,
dieses Völkergefängnis, territorial, politisch und administrativ nach den
Wünschen und Bedürfnissen der einzelnen Nationen selbst umzubilden.
Die Partei
des Proletariats schreibt den verschiedenen Nationalitäten nicht vor, innerhalb
der Grenzen eines gegebenen Staates zu bleiben oder sich von ihm zu trennen:
das ist ihre eigene Angelegenheit. Aber sie verpflichtet sich, jeder von ihnen
zu helfen, ihren wirklichen nationalen Willen durchzusetzen. Ob die Möglichkeit
der Lostrennung von einem Staate besteht, das ist eine Frage der konkreten
historischen Umstände und des Kräfteverhältnisses. »Niemand kann sagen«,
schrieb Stalin, »daß der Balkankrieg das Ende und nicht der Anfang von
Verwicklungen ist. Es ist durchaus möglich, daß eine solche Veränderung der
inneren und äußeren Bedingungen eintritt, daß diese oder jene Nationalität in
Rußland es für notwendig befindet, die Frage ihrer Unabhängigkeit zu stellen
und zu lösen. Und es ist natürlich nicht Aufgabe der Marxisten, in einem
solchen Falle Hindernisse zu schaffen. Daraus folgt aber, daß die russischen
Marxisten nicht das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung vergessen dürfen.«
Die
Interessen der Nationen, die freiwillig innerhalb des demokratischen Rußland
verbleiben, werden geschützt mittels der »Autonomie solcher sich selbst
bestimmender Einheiten wie Polen, Litauen, Ukraine, Kaukasus usw. Die
territoriale Autonomie erlaubt, die Naturreichtümer eines Gebietes besser auszunützen;
sie scheidet die Staatsbürger nicht nach nationalen Grenzen und macht es ihnen
möglich, sich in Klassenparteien zu organisieren«. Die territoriale
Selbstverwaltung der einzelnen Gebiete in allen Sphären des sozialen Lebens
steht im Gegensatz zur extraterritorialen – also platonischen –
Selbstverwaltung der Nationalitäten lediglich in »Kulturfragen«.
Nun hat aber
die Frage der Beziehungen zwischen den Arbeitern verschiedener Nationalität
innerhalb eines Staates vom Standpunkt des proletarischen
Befreiungskampfes aus unmittelbare äußerste Wichtigkeit. Der Bolschewismus ist
für die engste und unauflösliche Vereinigung der Arbeiter aller Nationalitäten
in der Partei und in den Gewerkschaften auf der Basis des demokratischen
Zentralismus. »Der Typus der Organisation beeinflußt nicht nur die praktische
Tätigkeit. Er drückt dem ganzen geistigen Leben des Arbeiters seinen
unauslöschlichen Stempel auf. Der Arbeiter lebt das Leben seiner Organisation,
in der er sich geistig entwickelt und in der er erzogen wird ... Der
internationalistische Organisationstypus ist eine Schule der
kameradschaftlichen Gefühle und die beste Agitation für den
Internationalismus.«
Eins der
Ziele des österreichischen Programms für »kulturelle Autonomie« war die
»Bewahrung und Entwicklung der nationalen Eigenheiten der Völker«. Warum und zu
welchem Zweck? fragte der Bolschewismus erstaunt. Die verschiedenen nationalen
Bruchstücke von der Menschheit loszulösen, das ist nicht unsere Sorge.
Sicherlich fordert der Bolschewismus das Recht auf Lostrennung für jede Nation
– das Recht, keineswegs die Pflicht als letzte und zuverlässigste Garantie
gegen die Unterdrückung. Doch ist ihm die Idee der künstlichen Bewahrung
nationaler Besonderheiten gänzlich fremd. Die Beseitigung jeder, auch einer maskierten,
auch der raffiniertesten und »nicht spürbaren« nationalen Unterdrückung oder
Demütigung muß nicht für eine Trennung, sondern für die revolutionäre
Vereinigung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten ausgenützt werden. Wo
immer es nationale Bevorrechtung und Beeinträchtigung gibt, müssen die Nationen
die Möglichkeit haben, sich voneinander zu trennen, um die freie Vereinigung
der Arbeiter zu fördern, im Namen einer engen Annäherung der Völker und mit,
auf weite Sicht, der Perspektive einer eventuellen vollständigen Verschmelzung.
Das war die Grundtendenz des Bolschewismus, deren Kraft sich in vollem Maße in
der Oktoberrevolution offenbarte.
Das
österreichische Programm zeigte nichts als seine eigene Schwäche: es rettete
weder das Reich der Habsburger noch selbst die österreichische
Sozialdemokratie. Indem es die Besonderheiten der nationalen Gruppen des
Proletariats ausbildete und zugleich den unterdrückten Nationalitäten jede
wirkliche Befriedigung versagte, diente es als Feigenblatt für die Vorherrschaft
der Deutschen und Ungarn und war, wie Stalin richtig sagte, »nur eine verfeinerte Form des Nationalismus«. Es muß allerdings
bemerkt werden, daß der Verfasser, wenn er die Sorge um die Bewahrung der
»nationalen Besonderheiten« kritisiert, den Gedanken des Gegners in allzu
vereinfachter Form wiedergibt. »Man bedenke«, ruft er aus, »Bewahrung solcher
nationalen Eigentümlichkeiten wie die Geißelung der transkaukasischen Tataren
während des Schaksy-Vaksy-Festes! Entwicklung solcher georgischen nationalen
Eigentümlichkeiten wie der Blutrache!« In Wirklichkeit wollten die
Austromarxisten natürlich nicht solche völlig reaktionären Überlieferungen
erhalten wissen. Was »solche georgischen nationalen Eigentümlichkeiten wie die
Blutrache« betrifft, so hat sie Stalin später in einem Ausmaße »entwickelt« wie
dieses nie zuvor in der menschlichen Geschichte geschehen ist. Aber das gehört
schon auf ein anderes Blatt.
Einen
hervorragenden Platz in dieser Schrift nimmt die Polemik gegen seinen alten
Gegner Noah Jordania ein, der während der Jahre der Reaktion begonnen hatte,
zum österreichischen Programm hinzuneigen. An zahlreichen Beispielen zeigt
Stalin, daß die nationale Kulturautonomie »im allgemeinen unnütz ... und von
den kaukasischen Bedingungen aus gesehen noch sinnloser und lächerlicher ist«.
Nicht weniger entschieden war seine Kritik an der Politik des jüdischen
»Bundes«, der nicht auf territorialer, sondern auf nationaler Grundlage
organisiert war und sein System der ganzen Partei aufzwingen wollte. »Eins von
beiden: entweder der Föderalismus des ›Bundes‹, und dann muß die russische
Sozialdemokratie nach dem Prinzip der ›Scheidung‹ der Arbeiter nach
Nationalitäten umgebildet werden, oder die internationalistische
Organisationsform, und dann muß der ›Bund‹ nach den Prinzipien der
territorialen Selbständigkeit umgebildet werden ... Es gibt keinen mittleren
Weg: die Grundsätze setzen sich durch, versöhnen lassen sie sich nicht!«
»Der
Marxismus und die nationale Frage« stellt zweifellos Stalins bedeutendste –
genauer: seine einzige! – theoretische Arbeit dar. Betrachtet man diesen
vierzig Druckseiten langen Artikel für sich, so kann man seinen Verfasser für
einen hervorragenden Theoretiker halten. Es ist dann nur unverständlich, wieso
er weder vor noch nach dieser Arbeit jemals wieder etwas schrieb, was auch nur
annähernd dieses Niveau erreichte. Der Schlüssel zu diesem Geheimnis liegt
darin, daß die ganze Arbeit von Lenin inspiriert, unter seiner unmittelbaren
Anleitung geschrieben und von ihm Zeile für Zeile durchgesehen wurde.
Zweimal in seinem Leben hat Lenin mit engen
Mitarbeitern gebrochen, die hochbedeutende Theoretiker waren. Das erste Mal
1903/04, als er sich von allen alten Autoritäten der russischen
Sozialdemokratie trennte – Plechanow, Axelrod, der Sassulitsch – und von so
hervorragenden jungen Marxisten wie Martow und Potressow. Das zweite Mal in den
Jahren der Reaktion, als ihn Bogdanow, Lunatscharsky und Pokrowsky verließen,
lauter hochbegabte Schriftsteller. Sinowjew und Kamenew, seine nächsten Mitarbeiter,
waren keine Theoretiker. In dieser Hinsicht fand die neue revolutionäre Welle
Lenin hilflos vor. Es ist nur natürlich, daß er sich begierig auf jeden jungen
Genossen stürzte, der auf diesem oder jenem Gebiet bei der Ausarbeitung eines
Problems des Parteiprogramms behilflich sein konnte.
»Diesmal«,
erzählt die Krupskaja, »unterhielt sich Iljitsch lange mit Stalin über die
nationale Frage und war erfreut, einen Mann zu finden, der sich ernsthaft für
dieses Problem interessierte und sich darin zurechtfand. Stalin hatte vorher
zwei Monate in Wien verbracht, wo er sich mit der nationalen Frage beschäftigt
und sich mit unseren Wiener Bekannten, Bucharin und Trojanowsky, befreundet
hatte.« Hier wird nicht alles gesagt. »Iljitsch unterhielt sich lange mit Stalin«,
das soll heißen: er gab ihm die leitenden Ideen ein, beleuchtete ihre
verschiedenen Aspekte, klärte Mißverständnisse auf, wies auf literarische
Quellen hin, sah die ersten Aufzeichnungen durch und korrigierte sie ... »Ich
entsinne mich«, sagt dieselbe Krupskaja, »der Haltung Iljitschs gegenüber einem
wenig erfahrenen Autor. Er kümmerte sich um den Inhalt, um das Grundlegende, er
half und verbesserte. Das alles aber mit größter Zurückhaltung, so daß der
betreffende Autor nicht bemerkte, daß er korrigiert wurde. Und Iljitsch wußte
wirklich einem Verfasser bei der Arbeit zu helfen. Wenn er zum Beispiel einen
Genossen damit beauftragen wollte, einen Artikel zu schreiben, aber nicht
wußte, wie dieser damit fertigwerden würde, so knüpfte er zuerst mit ihm eine
ausführliche Unterhaltung über das Thema an, entwickelte seine eigenen
Gedanken, erweckte das Interesse des Genossen, forschte ihn gründlich aus und
schlug ihm dann vor: ›Wollen Sie nicht einen Artikel darüber schreiben?‹ Und
der Autor bemerkte nicht einmal, wie sehr ihm das voraufgegangene Gespräch mit
Iljitsch geholfen hatte, es fiel ihm gar nicht auf, daß er Iljitschs
Lieblingswendungen und -ausdrücke in seinen Artikel übernahm.« Natürlich nennt die Krupskaja Stalin nicht. Doch ist ihre
Charakterisierung Lenins als eines Einpaukers junger Autoren in dem Kapitel
ihrer Memoiren enthalten, in dem sie von der Arbeit Stalins über die nationale
Frage spricht: die Krupskaja war recht oft gezwungen, solche Umwege zu gehen,
um Lenins intellektuelle Urheberschaft vor unrechtmäßiger Aneignung zu
schützen.
Es ist ganz
deutlich zu sehen, wie Stalins Arbeit an seinem Artikel vor sich ging. Zuerst
zeigten ihm die Unterhaltungen mit Lenin in Krakau den Weg, die leitenden Ideen
und die notwendigen Unterlagen. Dann: Reise Stalins nach Wien, dem Sitz der
»Österreichischen Schule«. Da er nicht Deutsch sprach, konnte er mit dem
Quellenmaterial nicht allein fertig werden. Aber da war Bucharin, der ganz
fraglos ein theoretischer Kopf war, Sprachen und die zum Thema gehörende Literatur
kannte und mit den entsprechenden Dokumenten umzugehen wußte. Bucharin ebenso
wie Trojanowsky waren von Lenin beauftragt, dem »prächtigen«, aber ziemlich
ungebildeten Georgier unter die Arme zu greifen. Die Auswahl der wichtigsten
Zitate geht natürlich auf sie zurück. Der logische Aufbau des Artikels, dem es
an Pedanterie nicht fehlt, deutet aller Wahrscheinlichkeit nach auf Bucharin
hin, der zur professoralen Schreibweise neigte – zum Unterschiede von Lenin,
für den das politische oder polemische Interesse die Konstruktion einer Arbeit
bestimmte. Darüber ging Bucharins Einfluß nicht hinaus, in der nationalen Frage
stand er Rosa Luxemburg näher als Lenin. Wie weit die Beteiligung Trojanowskys
ging, wissen wir nicht. Aus jener Zeit aber datieren dessen Beziehungen zu
Stalin, die, einige Jahre später und unter veränderten Umständen, dem
unbedeutenden und schwankenden Trojanowsky einen der verantwortlichsten
diplomatischen Posten sicherten.
Von Wien aus
ging Stalin mit seinen Materialien nach Krakau zurück. Da war nun wieder die
Reihe an Lenin, den aufmerksamen und unermüdlichen Ratgeber zu spielen. Das Mal
seines Denkens und die Spuren seiner Feder sind mühelos auf jeder Seite zu
entdecken. Mancher Satz, den der Verfasser ganz mechanisch eingefügt hat, manche
Zeile, die der »Ratgeber« offensichtlich selbst geschrieben, scheinen
unverständlich oder unerwartet ohne Bezugnahme auf die entsprechenden Werke
Lenins. »Nicht die nationale, sondern die Agrarfrage wird das Schicksal des
Fortschritts in Rußland entscheiden«, schreibt Stalin, ohne sich näher zu
erklären, »die nationale Frage ist ihr untergeordnet.« Dieser
richtige und tiefe Gedanke über das spezifische Gewicht der nationalen und der
Agrarfrage im Fortgang der russischen Revolution gehörte ganz Lenin und war von
ihm im Laufe der Jahre der Reaktion zahllose Male entwickelt worden. In Italien
und in Deutschland war der Kampf für die nationale Befreiung und Einheit eine
Zeitlang die Achse der bürgerlichen Revolution gewesen. In Rußland, wo die
vorherrschende Nationalität, die Großrussen, nicht national unterdrückt war,
sondern im Gegenteil andere Nationen unterdrückte, war das anders; doch die
Mehrheit der Großrussen selbst, nämlich die Bauernmassen, lebte in der tiefsten
Unterdrückung durch die Leibeigenschaft. So verwickelte und reiflichem
Überlegen entsprungene Gedanken wären von ihrem tatsächlichen Urheber niemals
wie ein Gemeinplatz, nebenbei und ohne Beweisführung und Kommentare, geäußert
worden.
Sinowjew und
Kamenew, die lange Zeit Seite an Seite mit Lenin gelebt hatten, eigneten sich
nicht nur seine Ideen an, sondern auch seine Redewendungen und sogar seine
Schreibweise. Von Stalin kann man nicht das gleiche sagen. Natürlich lebte auch
er von Lenins Ideen, aber auf Distanz, entfernt, nur in dem Maße, wie er sie
für seine eigenen Zwecke brauchte. Die literarische Prozedur seines
Lehrmeisters zu übernehmen, dazu war er zu stur und zu plump, zu dumm und zu
ungewandt. Deshalb wirkten die von Lenin an seinem Texte angebrachten
Korrekturen wie, um mit dem Dichter zu reden, »bunte Flicken auf alten Lumpen«.
Die Charakterisierung der österreichischen Schule als einer »verfeinerten Form
des Nationalismus« stammt zweifellos von Lenin, wie eine ganze Anzahl anderer,
einfacher aber treffender Formulierungen. So schrieb Stalin nicht. Mit Bezug
auf Otto Bauers Definition der Nation als »relativer Gemeinsamkeit des
Charakters« lesen wir in dem Artikel: »Worin unterscheidet sich denn Bauers
Nation von dem mystischen und absoluten ›Nationalgeist‹ der Spiritualisten?« Dieser
Satz ist von Lenin geschrieben worden. Weder vorher noch nachher hat sich
Stalin jemals in dieser Weise ausgedrückt. Wenn der Artikel ferner bezüglich
der eklektischen Berichtigungen, die Bauer an seiner Definition von der Nation
angebracht hatte, feststellt: »So widerlegt sich die aus idealistischen Fäden
gesponnene Theorie selbst«, so erkennt man sofort Lenins Feder. Dasselbe gilt
für die Kennzeichnung der internationalistischen Form der Arbeiterorganisation
als einer »Schule der kameradschaftlichen Gefühle«. So
schrieb Stalin nicht. Andererseits findet man in der ganzen Arbeit trotz
zahlreicher linkischer Stellen keine Chamäleons, die die Farbe von Löwen
annehmen, noch unterirdische Schwalben, noch Schutzwände aus Tränen: all diese
seminaristischen Verschönerungen hat Lenin ausgestrichen. Das
Originalmanuskript mit seinen Korrekturen kann natürlich versteckt gehalten
werden. Es ist aber völlig unmöglich, Lenins Hand zu verbergen, so wie
unmöglich zu verbergen ist, daß Stalin während der ganzen Jahre seiner Haft und
Verbannung nichts hervorbrachte, was auch nur entfernt der Arbeit ähnelt, die
er im Laufe einiger Wochen in Wien und Krakau schrieb.
Am 8.
Februar, als Stalin noch im Ausland war, beglückwünschte Lenin die Redaktion
der »Prawda« »für die bedeutende Besserung in der ganzen Haltung der Zeitung,
die sich in den letzten Tagen gezeigt hat«. Die Besserung bestand in der
Einstellung gegenüber den Prinzipien und fand ihren Ausdruck vor allem im
gesteigerten Kampf gegen die Liquidatoren. Den Berichten Samoilows nach war es
Swerdlow, der damals als Chefredakteur wirkte; er lebte illegal, verließ die
Wohnung eines »immunen« Abgeordneten nicht und arbeitete den ganzen Tag an den
Manuskripten für die Zeitungsartikel. »Er war außerdem auch ein sehr guter Kamerad
in allen persönlichen Fragen.« Das ist richtig. Samoilow sagt nichts
dergleichen über Stalin, mit dem er in engem Kontakt stand und vor dem er
großen Respekt hatte. Am 10. Februar drang die Polizei in die »immune« Wohnung
ein, verhaftete Swerdlow und deportierte ihn bald darauf nach Sibirien,
sicherlich auf eine Denunziation Malinowskys hin. Ende Februar installierte
sich der aus dem Ausland zurückgekehrte Stalin in dieser Wohnung. »Er spielte
eine führende Rolle in unserer (Duma-)Fraktion und in der ›Prawda‹«, fährt
Samoilow fort, »er nahm nicht nur an allen unseren Besprechungen teil, die wir
in der Wohnung abhielten, sondern besuchte auch oft, wobei er ein großes
persönliches Risiko einging, die Sitzungen der sozialdemokratischen Fraktion,
wo er unsere Stellungnahme in den Diskussionen mit den Menschewiki verteidigte
und wo er uns auch in verschiedenen anderen Fragen große Dienste leistete.«
Stalin fand
in Petersburg eine beträchtlich veränderte Situation vor. Die fortgeschrittenen
Arbeiter unterstützten entschlossen die Swerdlowschen, von Lenin inspirierten
Reformen. Die »Prawda« hatte einen neuen Stab von Redakteuren. Die Versöhnler waren ausgeschaltet worden. Stalin dachte nicht daran, seine
Position von vor zwei Monaten zu verteidigen. Das war nicht seine Art. Seine
einzige Sorge war nur noch, das Gesicht zu wahren. Am 26. Februar schrieb er in
der »Prawda« einen Artikel, in dem er die Arbeiter aufforderte, »ihre Stimme
gegen die Spaltungsversuche in der Partei zu erheben, von welcher Seite sie auch
kämen«. Im Grunde war der Artikel ein Teil der Kampagne zur Vorbereitung der
Spaltung in der Dumafraktion und gleichzeitig dazu bestimmt, die Verantwortung
auf den Gegner abzuwälzen. Ohne sich noch länger an seine eigene Vergangenheit
zu binden, versuchte Stalin jedoch, seine neuen Ziele in die alte Terminologie
zu kleiden. Daher seine irreführende Ausdrucksweise über die Spaltungsversuche,
»von welcher Seite sie auch kämen«. Auf alle Fälle geht aus dem Artikel klar
hervor, daß sein Verfasser nach der Krakauer Schule versuchte, sein
Hinüberwechseln auf die neue politische Linie möglichst unbemerkt vorzunehmen.
Er hatte aber keine Gelegenheit mehr dazu, da er alsbald verhaftet wurde.
Der frühere
georgische Oppositionelle Kawtaradse erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie
er Stalin in einem Petersburger Restaurant unter den wachsamen Augen der
Polizeispitzel begegnete. Als sie beide später auf der Straße glaubten, daß es
ihnen gelungen wäre, die Verfolger abzuschütteln, nahm Stalin einen Wagen. Doch
ein anderer Wagen, von Spitzeln besetzt, folgte ihm sogleich. Kawtaradse, der
glaubte, daß sein Landsmann diesmal nicht der Verhaftung entgehen würde,
vernahm später mit Erstaunen, daß er immer noch in Freiheit war. In einer
schwach beleuchteten Straße krümmte sich Stalin zusammen, ließ sich aus dem
Wagen gleiten und, ohne gesehen zu werden, auf einen Schneehaufen am
Straßenrand fallen. Als der zweite Wagen außer Sicht war, erhob er sich,
schüttelte den Schnee ab und ging zu einem Genossen, um sich dort zu verstecken.
Drei Tage später verließ er, in der Uniform eines Studenten, sein Versteck und
»setzte seine leitende Arbeit in der Petersburger Untergrundbewegung fort«.
Kawtaradse versuchte mit seinen ganz offensichtlich zurechtgestutzten
Lebenserinnerungen die Hand abzuwenden, die ihn damals schon bedrohte. Doch ist
ihm, wie so vielen anderen, für seine Selbsterniedrigung kein Dank zuteil
geworden. Die Redaktion der offiziellen Historischen Zeitschrift tat, als hätte
sie nicht bemerkt, daß sich Stalin 1911, dem Jahr, in das Kawtaradse die von
ihm erzählte Episode verlegt, nur während der Sommermonate
in Petersburg aufgehalten hatte, wo es keinen Schnee in den Straßen gegeben
haben kann. Nimmt man die Geschichte für bare Münze, dann hat sie sich Ende
1912 oder Anfang 1913 abspielen können, als Stalin nach seiner Rückkehr aus dem
Ausland zwei oder drei Wochen in Freiheit blieb.
Im März
organisierte die bolschewistische Gruppe, mit der »Prawda« als offiziellem
Veranstalter, einen Konzert- und Unterhaltungsabend. Stalin, erzählt Samoilow,
»wollte hingehen«, dort könne man mit vielen Genossen zusammentreffen. Er fragt
Malinowsky um Rat: kann man gehen, ist es nicht zu gefährlich? Der perfide
Ratgeber antwortet, daß es seiner Auffassung nach nicht gefährlich sei. Die
Gefahr war Malinowsky selbst. Sofort nach Stalins Ankunft füllte sich der Saal
mit Polizeispitzeln. Man versuchte, ihn durch den Bühnenausgang hinauszubringen
und hängte ihm einen Frauenmantel über, er wurde aber dennoch verhaftet.
Diesmal sollte er für genau vier Jahre von der Bildfläche verschwinden.
Zwei Monate
nach dieser Verhaftung schrieb Lenin an die »Prawda«: »Ich beglückwünsche Euch
herzlich zu Eurem Erfolg ... Die Besserung ist gewaltig und bedeutend, hoffen
wir, daß sie dauernd und endgültig ist ... wenn nur kein Unglück passiert!« Der
Vollständigkeit halber muß hier auch der Brief erwähnt werden, den Lenin im
Oktober 1913 nach Petersburg sandte, als Stalin schon weit weg in der
Verbannung und Kamenew Chefredakteur war: »Hier sind alle mit der Zeitung und
ihrem Chefredakteur zufrieden. Die ganze Zeit hindurch habe ich kein kritisches
Wort gehört ... jeder ist zufrieden, und ich ganz besonders, es hat sich
nämlich herausgestellt, daß ich ein Prophet bin. Erinnern Sie sich?« Und am
Ende des Briefes: »Lieber Freund! Alle Aufmerksamkeit richtet sich jetzt auf
den Kampf der Sechs für ihre politischen Rechte. Ich bitte Sie, diesen Kampf
mit allen Ihren Kräften zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß die Zeitung
und die marxistische öffentliche Meinung keinen Augenblick lang ins Schwanken
geraten.«
All diese
Zitate ergeben als unausweichliche Schlußfolgerung, daß nach Lenins Ansicht die
Zeitung schlecht gemacht war, solange sie unter Stalins Leitung stand. Während
derselben Periode neigte die Dumafraktion zum Versöhnlertum. Die Zeitung begann
sich politisch erst richtig aufzurichten, nachdem Swerdlow in Abwesenheit
Stalins »gründliche Reformen« vorgenommen hatte. Sie entwickelte sich in
zufriedenstellender Weise, als Kamenew ihre Leitung
übernahm. Ebenso errangen die Dumaabgeordneten unter seiner Leitung ihre
politische Unabhängigkeit.
Malinowsky
spielte bei der Spaltung der Fraktion eine aktive Rolle; er spielte sogar zwei
Rollen zu gleicher Zeit. Der Polizeigeneral Spiridowitsch schreibt darüber:
»Malinowsky, der den Instruktionen Lenins und denen der Geheimpolizei folgte,
erreichte im Oktober 1913 ... daß sich die ›Sieben‹ und die ›Sechs‹ endgültig
veruneinigten.« Die Menschewiki machten ihre Glossen über das »Zusammentreffen«
der Politik Lenins mit der der Geheimpolizei. Jetzt, nachdem der Verlauf der
Ereignisse sein Urteil gesprochen hat, hat diese vergangene Diskussion ihre
Bedeutung verloren. Die Geheimpolizei erhoffte von der Spaltung innerhalb der
Sozialdemokratie eine Schwächung der Arbeiterbewegung. Im Gegensatz dazu
glaubte Lenin, daß nur die Spaltung den Arbeitern die notwendige revolutionäre
Führung sichern würde. Es ist klar, daß sich die polizeilichen Machiavellis
verrechnet haben. Die Menschewiki waren zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Der
Bolschewismus siegte auf der ganzen Linie.
Stalin
widmete vor seiner letzten Verhaftung mehr als sechs Monate einer intensiven
Arbeit, sowohl in Petersburg als auch im Ausland. Er half, die Wahlkampagne für
die Duma zu führen, leitete die »Prawda«, nahm an einer wichtigen Konferenz des
Generalstabs der Partei im Ausland teil und schrieb seine Arbeit über die
nationale Frage. Dieses halbe Jahr hat zweifellos für seine persönliche
Entwicklung große Bedeutung gehabt. Zum erstenmal war er für die Arbeit in der
Hauptstadt verantwortlich, zum erstenmal kam er in Fühlung mit der hohen
Politik; zum erstenmal kam er in enge Berührung mit Lenin. Das falsche
Überlegenheitsgefühl, das ihm als realistischem »Praktiker« eigen war, mußte
beim persönlichen Kontakt mit dem großen Emigranten einen Stoß erleiden. Seine
Selbsteinschätzung mußte kritischer und nüchterner werden, sein Ehrgeiz
verhaltener und versteckter. Seine provinzielle Selbstgefälligkeit hatte einen
Stoß erlitten und mußte sich nun mit Neid untermischen, den nur die Vorsicht
dämpfte. Stalin ging mit zusammengebissenen Zähnen in die Verbannung.