Leo Trotzki: Stalin. Elftes Kapitel: Aus der Obskurität ins Triumvirat
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Elftes
Kapitel.
Aus der Obskurität ins Triumvirat
(Als der Bürgerkrieg zu Ende ging, stand Stalin
politisch noch im Schatten. Die »Deichselpferde« der Partei kannten ihn
natürlich, aber sie zählten ihn nicht zu den ersten Führern. Für den einfachen
Parteiarbeiter war er eins der weniger bekannten Mitglieder des
Zentralkomitees, obschon er Mitglied des Politischen Büros war. Im Lande hatte
man kaum von ihm sprechen hören. Die nichtsowjetische Welt hatte überhaupt
keine Ahnung von seiner Existenz. Aber in weniger als zwei Jahren war seine
Gewalt über den Parteiapparat derart stark geworden, daß Lenin – für derart
gefährlich hielt er Stalins Einfluß – die »kameradschaftlichen Beziehungen« zu
ihm abbrach. Zwei weitere Jahre vergingen, und Trotzky, der Ranghöhe nach in
der Führung der Oktoberrevolution und der Sowjetregierung gleich der Zweite
nach Lenin, war von Stalins Apparat in eine prekäre politische Stellung
gedrängt worden. Stalin wurde nicht nur Mitglied des Triumvirats, das an Stelle
des kranken Lenin die Partei leitete, sondern auch der mächtigste der Triumvirn.
Darüber hinaus erwarb er im Laufe der Jahre eine Macht, sehr viel größer, als
Lenin sie jemals besessen hatte – eine weitaus absolutere Macht in der Tat, als
die, über die je ein Zar in der langen Geschichte des russischen Absolutismus
verfügt hat.
Wie war das möglich? Welches waren die Ursachen
für Stalins Aufstieg aus politischer Obskurität zu politischer Bedeutung, und
über welche Etappen führte sein Weg?)
Jedes Entwicklungsstadium, selbst eine
Katastrophenphase wie Revolution und Konterrevolution, ist ein Produkt des
voraufgegangenen Stadiums, wurzelt in ihm und ähnelt ihm. Nach dem Oktobersieg
gab es Autoren, die vorbrachten, daß die proletarische Diktatur nur eine neue
Lesart des Zarismus sei, Vogel-Strauß-Politiker, die die Abschaffung des Adels
und der Monarchie so wenig sehen wollten, wie die Vernichtung des Kapitalismus
und die Aufrichtung einer Planwirtschaft, die Abschaffung der Staatskirche und die
Erziehung der Massen nach den Grundsätzen des Atheismus, die Aufhebung des
Großgrundbesitzes und die Verteilung des Bodens unter diejenigen, die den Boden
wirklich bearbeiten. Genau so schlossen nach Stalins Triumph über
den Bolschewismus die meisten Schriftsteller – wie die beiden Webbs, die Wells
und die Laskis, die erst dem Bolschewismus kritisch gegenüberstanden und
nachher Weggenossen des Stalinismus wurden – ihre Augen vor der kardinalen und
nicht zu übersehenden Tatsache, daß die Oktoberrevolution – ungeachtet der
Repressionsmaßnahmen, die unter dem Zwange außergewöhnlicher Umstände ergriffen
werden mußten – einen Umsturz der gesellschaftlichen Beziehungen im Interesse
der arbeitenden Massen mit sich gebracht hat, während die stalinistische
Konterrevolution soziale Umbrüche einleitet, die zur Änderung der sowjetischen
Gesellschaftsordnung im Interesse einer privilegierten Minderheit
thermidorianischer Bürokraten führen. Gleichermaßen unfähig, die elementarsten
Tatsachen zu verstehen, sind gewisse Renegaten des Kommunismus, von denen viele
eine Zeitlang Stalins Lakeien waren und die nun, den Kopf im Sande bitterster
Enttäuschung, nicht sehen wollen, daß sich die von Stalin geführte
Konterrevolution trotz Gleichartigkeit an der Oberfläche in manchem wesentlichen
Punkte von den Konterrevolutionen der Faschistenführer unterscheidet; die nicht
sehen wollen, daß dieser Unterschied seine Wurzeln in der Verschiedenheit der
sozialen Basis der Konterrevolution Stalins und der sozialen Basis der von
Hitler und Mussolini geführten reaktionären Bewegungen hat, daß diese
Verschiedenheit parallel verläuft mit dem Unterschied zwischen der Diktatur des
Proletariats – so sehr sie auch durch den thermidorianischen Bürokratismus
entstellt sein mag – und der Diktatur der Bourgeoisie, mit dem Unterschied
zwischen einem Arbeiterstaat und einem kapitalistischen Staat.
Ferner wird dieser grundlegende Unterschied
illustriert – und in gewissem Sinne resümiert – durch die Einzigartigkeit der
Karriere Stalins, verglichen mit derjenigen der beiden anderen Diktatoren,
Hitler und Mussolini, die beide Begründer einer Bewegung, hervorragende
Agitatoren und Volkstribunen waren. Ihr politischer Aufstieg, so phantastisch
er scheinen möge, entsprang eigener Kraft und verlief unter aller Augen und in
engster Verbindung mit dem Wachstum der Bewegungen, die sie von Anfang an
geführt hatten. Völlig verschieden davon ist die Art des Aufstiegs Stalins. In
der Vergangenheit hat er nicht seinesgleichen. Eine Vorgeschichte scheint er
nicht zu haben. Hier vollzog sich der Aufstiegsprozeß irgendwo hinter einem
undurchdringlichen politischen Vorhang. In einem bestimmten Augenblick
überstieg Stalins Erscheinung plötzlich, sogleich mit der Rüstung der Macht
angetan, die Kremlmauern, und die Welt erschaute Stalin zum erstenmal als
fertigen Diktatoren. Um so lebhafter ist das Interesse, mit dem die denkende
Menschheit Stalins Natur untersucht, seine persönliche sowohl wie seine
politische. In den Besonderheiten seiner Persönlichkeit sucht sie den Schlüssel
zu seinem politischen Geschick.
Es ist unmöglich, Stalin und seine jüngsten
Erfolge zu verstehen, wenn man nicht die Haupttriebfeder seiner Persönlichkeit
erkannt hat: Herrschsucht, Ehrgeiz, Neid – rastlos emsiger Neid, gegen alle
Begabteren gerichtet, alle Mächtigeren, alle über ihm Stehenden. Mussolini
sagte eines Tages mit der für ihn charakteristischen Großmäuligkeit zu einem
seiner Freunde: »Ich bin nie meinesgleichen begegnet!« Diesen Satz hätte Stalin
selbst vor seinen intimsten Freunden nie aussprechen können, weil er allzu absurd
und lächerlich geklungen hätte. Allein in der bolschewistischen Führung gab es
eine ganze Anzahl von Männern, die Stalin in jeder Hinsicht überragten, außer
in einer – dem konzentrierten Ehrgeiz. Lenin schätzte die Macht als
Aktionsinstrument äußerst hoch, aber das Streben nach Macht um der Macht willen
war ihm völlig fremd. Nicht so Stalin. Psychologisch war für ihn die Macht
immer etwas von dem Ziel, dem sie angeblich diente, Unterschiedenes. Der
Wunsch, seinen Willen zu gebrauchen, wie der Athlet seine Muskeln gebraucht, um
sich anderen überlegen zu zeigen – das ist die Grundtriebkraft seiner
Persönlichkeit. So erwarb sein Wille eine sich ständig steigernde
zusammengeballte Kraft, schwoll an Angriffslust, Tatendrang, Zielsetzung und
machte vor nichts mehr Halt. Je öfter sich Stalin selbst davon überzeugen
mußte, daß ihm die meisten Voraussetzungen für die Eroberung der Macht fehlten,
um so heftiger bemühte er sich, jeden dieser Mängel zu kompensieren, um so
geschickter gab er allen diesen Mängeln eine Form, die sie unter bestimmten
Umständen zu Vorzügen machen mußten.
Der übliche offizielle Vergleich Stalins mit
Lenin ist einfach ungehörig. Wenn Individualität die Vergleichsgrundlage ist,
ist es überhaupt nicht einmal möglich, Stalin neben Hitler und Mussolini zu
stellen. So mager die »Ideen« des Faschismus sind – die beiden siegreichen
Führer der Reaktion, der Italiener wie der Deutsche, entfalteten von Anbeginn
ihrer Bewegungen an eigene Initiative, führten Massen zur Tat und fanden im
politischen Dschungel neue Wege. Nichts dergleichen kann
von Stalin gesagt werden. Die bolschewistische Partei ist von Lenin geschaffen
worden. Stalin ist aus dem Apparat dieser Partei hervorgegangen und von ihm
untrennbar geblieben. Zwischen ihm und den Massen, den historischen
Ereignissen, stand immer der Apparat. In der ersten Periode seines Aufstiegs
zur Macht war er von seinem Erfolg selbst überrascht. Sein Schritt war
unsicher, er blickte nach links und nach rechts und über seine Schultern, stets
bereit, zurück und in Deckung zu gehen. Als Gegengewicht gegen mich wurde er
von Sinowjew und Kamenew gehalten und ermutigt, auch, in geringerem Maße, von
Rykow, Bucharin und Tomsky. Keiner von ihnen glaubte damals, daß Stalin eines
Tages über ihre Häupter hinwegschreiten würde. Im ersten Triumvirat behandelte
ihn Sinowjew mit behutsamer Bevormundung, Kamenew mit einem Schuß von Ironie.
Die Beziehungen zwischen Lenin und Stalin werden
offiziell als eine enge Freundschaft dargestellt. In Wirklichkeit trennte die
beiden Männer ein weiter Abstand, der nicht nur von dem Altersunterschied von
zehn Jahren herrührte, sondern von dem ganzen Format ihrer Persönlichkeit. Ein
Gefühl von der Art der Freundschaft konnte es zwischen ihnen nicht geben.
Zweifellos hatte Lenin an Stalin die Fähigkeiten geschätzt, die dieser als
praktischer Organisator in der schwierigen Periode der Reaktion von 1907 bis 1913
bewiesen hatte. In der Zeit des Sowjetregimes jedoch erschien ihm Stalins
Grobheit mehr und mehr als unerträglich, und sie verhinderte eine
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihnen. Hauptsächlich deswegen betrieb
Stalin seine heimliche Opposition gegen Lenin weiter. Neidisch und
widerspenstig, konnte Stalin nur um so störrischer werden, je mehr er in jedem
Augenblick Lenins erdrückende intellektuelle und moralische Überlegenheit zu
fühlen bekam. Solcherart waren die Beziehungen zueinander, und so blieben sie
bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lenin ernsthaft erkrankte und wo sie in offenen
Kampf umschlugen, dessen Höhepunkt der schließliche Bruch wurde.
Schon anläßlich des fünfzigsten Geburtstages von
Lenin im Frühling 1920 getraute sich Stalin eine Rede über Lenins »Irrtümer« zu
halten. Was ihn dazu trieb, ist schwer zu sagen. Jedenfalls schien diese Rede
allen so deplaciert, daß »Prawda« und »Iswestija« am
nächsten Tage, dem 24. April, in ihrem Bericht über die Feier lediglich
anführten, »der Genosse Stalin« habe »verschiedene Episoden ihrer gemeinsamen
Arbeit vor der Revolution in Erinnerung gerufen«, ohne Kommentar. Zur selben
Zeit und aus dem gleichen Anlaß wollte Stalin in einem Artikel »Lenin als
Organisator und Führer der russischen Kommunistischen Partei« zeigen, »was er
von Lenin gelernt hatte und von ihm lernen wolle«. Es lohnt nicht, dieses Stück
auf sein theoretisches oder literarisches Interesse hin zu untersuchen. Es
genügt, den Anfang des Artikels wiederzugeben, der folgendermaßen lautet:
»Während im Westen – in Frankreich und
Deutschland – die Arbeiterpartei aus den Gewerkschaften hervorging, unter
Bedingungen, die die Existenz von Gewerkschaften und Parteien ermöglichten ...
fand im Gegensatz dazu in Rußland die Bildung der proletarischen Partei unter
dem grausamsten Absolutismus statt ...«
Diese Behauptung trifft zweifelsohne auf England
zu, das er nicht als Beispiel bringt, während sie für Frankreich nicht stimmt
und gänzlich falsch ist, wenn sie auf Deutschland angewendet wird, wo es die
Partei war, die die Gewerkschaften praktisch aus dem Nichts heraus schuf.
Heutigentags wie 1920 ist die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung für
Stalin ein Buch mit sieben Siegeln, weshalb es ganz umsonst ist, von ihm auf
diesem Gebiete einen theoretischen Lichtblick zu erwarten.
Der Artikel gewinnt aber dadurch ein gewisses
Interesse, daß Stalin hier nicht nur in der Überschrift, sondern auch im Inhalt
Lenin einmal als Organisator und dann auch als politischen Führer feiert. »Das
wichtigste, was dem Genossen Lenin zugeschrieben werden muß«, war »sein
stürmischer Angriff auf die organisatorische Formlosigkeit bei den
Menschewiki.« Lenin wird sein Organisationsplan deshalb gutgeschrieben, weil er
»die Erfahrung der Organisationsarbeit der besten praktischen Parteiarbeiter
meisterhaft verallgemeinerte«. Und weiter: »Nur in der Konsequenz einer solchen
Organisationspolitik konnte die Partei diese innere Einheit herstellen, diese
überwältigende Solidarität, die es ihr ermöglichte, sich mühelos aus der
Kerensky- und der Julikrise herauszuarbeiten, die Oktoberrevolution auf ihren
Schultern zu tragen, die Periode der Brest-Litowsker Krise zu überwinden, ohne
auseinanderzufallen, und den Sieg über die Entente zu organisieren.«
Erst nach
diesem Absatz sagt Stalin: »Aber der organisatorische Wert der russischen
Kommunistischen Partei stellt nur eine Seite der Frage dar« und geht dann über
zum politischen Inhalt der Parteiarbeit, zum Programm und zur Taktik der
Partei. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu sagen, daß kein anderer
Marxist, auf alle Fälle kein russischer Marxist, eine Würdigung Lenins
auf diese Weise konstruiert hätte. Organisatorische Fragen sind ganz gewiß
nicht die Grundlage der Politik, sondern folgen vielmehr der Kristallisierung
der Theorie, des Programms und der Praxis nach. Es ist aber kein Zufall, daß
Stalin den organisatorischen Hebel für grundlegend hält; alles, was mit dem
Programm und der Politik zusammenhängt, war für ihn immer nur ein Ornament für
die organisatorische Grundlage.
Im gleichen Artikel formulierte Stalin zum
letzten Mal und ziemlich korrekt die seinerzeit recht neue bolschewistische
Konzeption von der Rolle der proletarischen Partei unter den Bedingungen der
bürgerlich-demokratischen Revolutionen unserer Zeit. Stalin machte sich über
die Menschewiki lustig und schrieb, es schiene all denjenigen, die sich die
Geschichte der voraufgegangenen Revolutionen nicht genügend zu eigen gemacht
hätten,
daß das Proletariat nicht auf die Hegemonie in
der russischen Revolution Anspruch machen kann; die Führung muß der russischen
Bourgeoisie angeboten werden, derselben Bourgeoisie, die sich der Revolution
entgegengestellt hat. Ebenso muß die Bauernschaft unter die Vormundschaft der
Bourgeoisie gestellt werden, während sich das Proletariat auf die Rolle einer
Opposition auf der äußersten Linken beschränken müsse. Dieses ekelhafte Echo
des widerlichen Liberalismus wurde von den Menschewiki als das letzte Wort des
echten Marxismus hingestellt.
Bemerkenswert ist, daß Stalin drei Jahre später
eben diese Konzeption der Menschewiki Wort für Wort und Buchstaben für
Buchstaben auf die chinesische bürgerlich-demokratische Revolution anwandte und
später mit noch weitaus stärkerem Zynismus auf die spanische Revolution von
1936-1939. Eine so monströse Wendung wäre gänzlich ausgeschlossen gewesen,
hätte sich Stalin wirklich die leninistische Konzeption von der Revolution
angeeignet. Aber was sich Stalin angeeignet hat, das ist lediglich die
leninistische Konzeption vom Apparat einer zentralisierten Partei. Sobald er
diese verwirklicht sah, vergaß er, daß sie theoretischen Erwägungen entsprang;
ihre programmatische Grundlage verlor für ihn jede Bedeutung, und er ging ganz
natürlicherweise, im Einklang mit seiner eigenen Vergangenheit, seiner sozialen
Herkunft, seiner Erziehung, zu einer kleinbürgerlichen Konzeption
über, zum Opportunismus, zum Kompromiß. 1917 war es ihm nur deshalb nicht
gelungen, die Vereinigung mit den Menschewiki zu verwirklichen, weil Lenin es
ihm nicht gestattet hatte. In der chinesischen Revolution praktizierte er die
menschewistische Konzeption unter dem Banner des Bolschewismus; er wandte
strikt das menschewistische Programm an, aber mit bolschewistischen Methoden,
das heißt mittels eines zentralisierten politischen Apparats, der für ihn die
Quintessenz des Bolschewismus ist. Mit sehr viel mehr Folgerichtigkeit und in
tödlich wirkender Vollendung machte er dieselbe Politik in der spanischen
Revolution.
Wenn also der Artikel Stalins über Lenin, der oft
und in allen Sprachen nachgedruckt worden ist, nur eine banale
Auseinanderlegung seines Objekts war, so liefert er uns doch den Schlüssel zum
Verständnis der politischen Natur unseres Verfassers. Er enthält sogar Stellen,
die in gewisser Hinsicht autobiographisch sind: »Öfter als einmal kam es vor,
daß unsere eigenen Genossen (nicht nur die Menschewiki), den Genossen Lenin
beschuldigten, in seinem unversöhnlichen Kampf gegen die Versöhnler übertrieben
stark zu Polemiken und zu Spaltungen zu neigen ... Kein Zweifel, daß zuzeiten
das eine wie das andere vorkam ...« 1920 hielt Stalin Lenin für übertrieben
stark zu Polemiken und zu Spaltungen geneigt, wie er das auch 1913 geglaubt
hatte. Und er rechtfertigte diese Tendenz Lenins, ohne die Unrichtigkeit der
gegen Lenin seines »Extremismus« wegen vorgebrachten Beschuldigungen
nachzuweisen.
(Als Lenin seinen ersten Anfall erlitt, glaubte
das Publikum in der Welt mit Einschluß von Sowjetrußland, daß seine Krankheit
nicht ernst wäre und er seine Arbeit bald wieder aufnehmen könne: er war zähe
wie eine Bulldogge und hatte gerade erst die Fünfzig überschritten. Anfangs
teilten die Mitglieder des Politischen Büros aufrichtig diese Überzeugung. Sie
taten nichts, um die Öffentlichkeit, wenigstens die sowjetischen Arbeiter und
Bauern oder die Mitglieder der Partei, zu informieren, als nachher klar wurde,
daß diese Überzeugung unberechtigt und die Krankheit ernsthaft war. Es wurde
für selbstverständlich gehalten, daß das Politbüro während der Krankheit Lenins
seine Aufgabe weiter verfolgte. Obwohl für die Öffentlichkeit im allgemeinen
Trotzky der gegebene Nachfolger Lenins zu sein schien und obwohl die jüngeren
Mitglieder der Partei diese Auffassung teilten, sahen die »Deichselpferde« des
Apparats den Nachfolger weder in Trotzky noch in
irgendeinem anderen Mitglied des Politischen Büros. Die einzig mögliche Lösung
schien ihnen die Bildung eines Direktoriums aus den Führern der Partei und den
Voll- und Ersatzmitgliedern des Politischen Büros.)
(Dieser Plan wurde jedoch geändert. Die Nachfolge
ging an ein Triumvirat über. Dessen Leiter wurde Sinowjew, Kamenew wurde der
zweite Mann, Stalin kam erst an dritter Stelle. Sinowjew wurde so der
tatsächliche Nachfolger Lenins. Er verfügte über die aktive Hilfe Kamenews und
Bucharins, die widerwillige Stalins und die passive Unterstützung durch
Tomski.)
(Wen hat Lenin als seinen Nachfolger bevorzugt?
Bis zum zweiten Anfall am 16. Dezember 1922 hoffte er durchaus noch,
wiederhergestellt zu werden und die Leitung wieder übernehmen zu können. Bis
dahin faßt er die Frage der Nachfolge nicht ernsthaft ins Auge. Sein einige
Tage später verfaßtes Testament drückte offensichtlich den Wunsch aus, das
Zentralkomitee vor den Gefahren eines Bruchs zu warnen; eine solche Stellung
einzunehmen, lag ihm näher, als selbst durch ein Diktat zu entscheiden. Eben
weil ihm sein außergewöhnliches Prestige die Macht dazu verschaffte,
widerstrebte es ihm, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen. Deshalb beschränkte
er sich darauf, seine Meinung über die führenden Persönlichkeiten zu
präzisieren und Empfehlungen zu geben, unter denen die dringendste die
Entfernung Stalins – wegen »Grobheit« und »Unredlichkeit« – vom Posten des
Generalsekretärs war. Zwei Monate danach hielt er es aber für unerläßlich, eine
nicht wieder rückgängig zu machende Entscheidung zu treffen: den endgültigen Abbruch
der kameradschaftlichen Beziehungen mit dem einen seiner Stellvertreter, mit
Stalin. Dieser Bruch fand während der Vorbereitungen zum Zwölften Parteitag
statt, an dem Lenin, durch einen dritten Anfall gelähmt, nicht teilnehmen
konnte. Es war dies der erste Parteitag ohne Lenin, und auch der erste, der mit
vom Generalsekretär ausgesuchten Delegierten angefüllt war. Er bezeichnete den
Anfang vom Ende des Leninschen Regimes und das Heraufdämmern des Stalinismus
als neuer politischer Orientierung.)
(Der Bruch zwischen Lenin und Stalin wurde erst
vollzogen, nachdem Lenin vergebliche Anstrengungen gemacht hatte, ihn zu
vermeiden.) Als Sinowjew und seine Verbündeten auf dem Elften Parteitag Ende
März 1922 Stalins Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs in der
Hoffnung unterstützten,, des letzteren Feindschaft gegen mich für ihre eigenen
Zwecke ausnützen zu können, blieb Lenin reserviert und
zögernd. »Dieser Koch wird uns nur scharfe Suppen kochen«, sagte er in einem
privaten Gespräch. Lenin fürchtete, wieder krank zu werden und war bemüht, die
Zwischenzeit bis zu einem nächsten Anfall, der fatal werden konnte, zur
Herstellung einer harmonischen gemeinsamen Leitung durch gegenseitiges
Einverständnis auszunutzen.
Der einzige ernsthafte Beitrag an marxistischer
Literatur, den Stalin jemals für das Arsenal der bolschewistischen Theorie
geliefert hat, war der über die nationale Frage. Das lag so weit zurück wie das
Jahr 1913. Diese Schrift war zweifellos die »Summe« seiner eigenen
Beobachtungen im Kaukasus, das Resultat praktischer revolutionärer Arbeit und
gewisser historischer Verallgemeinerungen, die er, wie wir schon ausgeführt
haben, Lenin entnommen hatte. Stalin hatte sie übernommen, indem er sie seinen
eigenen Schlußfolgerungen angepaßt hatte, ohne sie aber vollständig zu verdauen
und ganz gewiß ohne sie wirklich zu assimilieren.
Das wurde vollauf klar, als in der Zeit des
Sowjetregimes die auf dem Papier gelösten Probleme in der Form von höchst
wichtigen Verwaltungsaufgaben wieder auftauchten. Gerade dabei stellte sich
heraus, daß das viel gerühmte völlige Einverständnis zwischen Lenin und Stalin
in allen Dingen, besonders in der nationalen Frage – wofür die Broschüre aus
dem Jahre 1913 garantierte – in hohem Maße auf Einbildung beruhte.
Auf dem Zehnten Parteitag im März 1921 hatte
Stalin wieder einmal seinen unvermeidlichen Bericht über die nationale Frage
erstattet. Wie das bei ihm infolge seines Empirismus immer der Fall war, zog er
seine Verallgemeinerungen nicht aus der lebendigen Materie, aus den Erfahrungen
des Sowjetsystems, sondern aus untereinander nicht zusammenhängenden und
miteinander nicht in Zusammenhang gebrachten Abstraktionen. 1921 wiederholte er
wie 1917 das allgemeine Argument, daß die bürgerlichen Nationen ihre nationale
Frage nicht lösen könnten, während das Sowjetland über alle Mittel dazu
verfügte. Der Bericht rief Unzufriedenheit und Überraschung hervor. Im Verlauf
der auf ihn folgenden Debatten formulierten die an ihm am meisten
interessierten Delegierten, vor allem die Vertreter der Parteien der nationalen
Minderheiten, ihre Kritiken. Selbst Mikojan, schon damals einer der nächsten
politischen Verbündeten Stalins und später einer seiner ergebensten Lakaien,
stellte fest, daß die Partei Instruktionen brauche über »die
Änderungen, die am Regime vorzunehmen sind und über den Typus des
Sowjetregimes, der in den Grenzländern errichtet werden muß ... was uns der
Genosse Stalin nicht gesagt hat«.
Prinzipien haben für Stalin niemals gezählt – und
in der nationalen vielleicht noch weniger als in irgendeiner anderen Frage. Die
unmittelbaren Verwaltungsaufgaben erschienen ihm immer wichtiger als alle
Gesetze der Geschichte. 1905 hatte er die ansteigende Massenbewegung nur mit
Erlaubnis seines Parteikomitees zur Kenntnis genommen. In der Reaktionszeit
hatte er die Untergrundbewegung verteidigt, weil sie ihrer Natur nach einen
zentralisierten politischen Apparat erforderte. Nach der Februarrevolution, als
dieser Apparat ebenso zerschlagen war wie die Untergrundbewegung, verlor er den
Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus aus dem Gesicht und war
bereit, sich mit der Partei Tseretellis zu vereinigen. 1917 schließlich, nach
der Machteroberung, wurden alle Aufgaben, alle Probleme, alle Perspektiven den
Bedürfnissen dieses Apparates der Apparate untergeordnet: dem Staat. Als
Nationalitäten-Kommissar ging Stalin an die nationale Frage nicht mehr vom
Gesichtspunkt der Gesetze der Geschichte aus heran – einem Gesichtspunkt, dem
er 1913 seinen Tribut gezahlt hatte –, sondern vom Gesichtspunkt der
Bequemlichkeit der Büros. So mußte er notwendigerweise mit den Forderungen der
zurückgebliebenen und unterdrückten Völkerschaften in scharfen Konflikt geraten,
während er dem bürokratischen großrussischen Imperialismus übertriebene
Vorrechte zuerkannte.
Das georgische Volk, das fast völlig aus Bauern
und Kleinbürgern bestand, widersetzte sich der Sowjetisierung seines Landes
aufs energischste. Doch wurden die daraus resultierenden großen Schwierigkeiten
beträchtlich durch die militaristische Willkür mit ihren Prozeduren und
Methoden erhöht, der Georgien unterworfen wurde. Unter diesen Umständen mußte
die führende Partei den georgischen Massen gegenüber doppelt behutsam vorgehen.
Eben hier liegt die Ursache für die tiefgehende Uneinigkeit, die sich zwischen
Lenin und Stalin entwickelte. Lenin bestand auf einer äußerst schmiegsamen,
vorsichtigen und geduldigen Politik gegenüber Georgien und besonders
Transkaukasien. Stalin ging davon aus, daß unsere Position gesichert sei, da
sich der Staatsapparat in seinen Händen befinde. Stalins Agent im Kaukasus war
Ordschonikidse, der unduldsame Eroberer Georgiens, der jede
Regung von Widerstand für eine persönliche Beleidigung hielt. (Stalin schien
vergessen zu haben, daß es nicht sehr lange her war), daß wir Georgiens Unabhängigkeit
anerkannt und einen Vertrag mit ihm unterzeichnet hatten. (Das war am 7. Mai
1920 gewesen. Am 11. Februar 1921 aber) waren Abteilungen der Roten Armee auf
Befehl Stalins in Georgien eingedrungen und hatten uns vor vollendete Tatsachen
gestellt. Stalins Jugendfreund Iremaschwili schreibt darüber:
Stalin war gegen den Vertrag. Er wollte nicht,
daß sein Geburtsland außerhalb des russischen Staates bleibe und unter der
freien Regierung der Menschewiki lebe, die er haßte. Sein Ehrgeiz drängte ihn
zur Herrschaft über Georgien, dessen friedfertige und denkfähige Bevölkerung
seiner destruktiven Propaganda mit kaltem Gleichmut widerstand ... Der Drang,
seinen Rachedurst an den menschewistischen Führern zu stillen, die sich stets
geweigert hatten, seinen utopischen Plänen zuzustimmen und die ihn aus ihren Reihen
ausgeschlossen hatten, ließ ihm keine Ruhe. Gegen den Willen Lenins, auf seine
eigene eitle Initiative hin, vollführte Stalin die Bolschewisierung oder
Stalinisierung seines Geburtslandes ... Stalin organisierte in Moskau den
Einfall nach Georgien und leitete ihn von dort aus. Mitte Juni 1921 zog er als
Sieger in Tiflis ein.
Stalin besuchte Georgien im Jahre 1921, und zwar
in einer recht anderen Eigenschaft als der, in der man ihn in seinem Lande zu
sehen gewohnt gewesen, als er noch Sosso und später Koba war. Jetzt kam er als
Vertreter der Regierung, des allmächtigen Politbüros, des Zentralkomitees.
Jedoch sah niemand in Georgien in ihm einen Führer, vor allem niemand in den
oberen Schichten der Partei, wo man ihn nicht als Stalin, sondern als
Angehörigen der höchsten Parteiinstanz empfing, das heißt, nicht kraft seiner
Persönlichkeit, sondern seiner Funktion nach. Seine ehemaligen Kameraden in der
illegalen Arbeit hielten sich für mindestens ebenso kompetent in den
georgischen Angelegenheiten wie ihn; sie gaben den Meinungsverschiedenheiten,
die sie mit ihm hatten, unumwunden Ausdruck und unterwarfen sich nur wider
Willen, wenn sie gezwungen waren, sich zu unterwerfen, ohne mit schärfster
Kritik zu sparen und nicht ohne damit zu drohen, daß sie vom Politbüro
verlangen würden, das ganze Problem neu aufzurollen. Stalin war noch kein
Führer, selbst nicht in seinem Geburtsland. Das bekümmerte ihn tief. Er hielt
sich über die Georgien betreffenden Fragen für besser informiert als alle
übrigen Mitglieder des Zentralkomitees. Bezog er in Moskau seine Autorität aus
der Tatsache, daß er ein mit den lokalen Bedingungen vertrauter Georgier war,
so versucht er in Georgien, wo er als der von nationalen Vorurteilen und lokalen Sympathien freie Vertreter Moskaus auftrat, sich
so zu benehmen, als ob er nicht Georgier sei, sondern eben ein von Moskau
delegierter Bolschewik, der Nationalitäten-Kommissar, und als ob die Georgier
für ihn gerade eine der vielen nationalen Minderheiten wären. Im Hinblick auf
die nationalen Besonderheiten Georgiens spielte er den Unwissenden – eine Art
von Kompensation für die stark nationalistischen Gefühle seiner eigenen
Jugendzeit. (Er betrug sich wie ein Großrusse und trat die nationalen Rechte
seines eigenen Volkes mit Füßen.) Das war es, was Lenin unter »ausländischen
Russifizierern« verstand – und was sowohl auf Stalin wie auch auf Dzerschinsky,
diesen zum »Russifizierer« gewordenen Polen, zutraf. (Iremaschwili nach, der
offensichtlich übertreibt), »betrachteten die georgischen Bolschewiki, die
anfänglich in die russische stalinistische Invasion verwickelt waren, als ihr
Ziel eine unabhängige Sowjetrepublik von Georgien, die nichts mit Rußland
gemein haben würde als die bolschewistischen Auffassungen und die politische
Freundschaft. Es gab noch Georgier, denen die Unabhängigkeit ihres Landes
wichtiger war als alles andere ... Dann aber kam Stalins Kriegserklärung, die
eine loyale Unterstützung bei den russischen Rotgardisten und der Tscheka fand,
die er nach Georgien geschickt hatte«.
Weiter sagt uns Iremaschwili, daß Stalin in
Tiflis auf allgemeine Feindschaft stieß. Während einer von den Tifliser
Sozialisten einberufenen, im Theater stattfindenden Versammlung fanden
Kundgebungen gegen Stalin statt. Es ist wahrscheinlich, daß der alte Menschewik
Iremaschwili die Versammlung beherrschte und Stalin offen anschuldigte; auch
wird gesagt, daß andere Redner Stalin gleichfalls angriffen. Ein
stenographischer Bericht ist leider nicht aufbewahrt worden – und folgenden
Abschnitt aus Iremaschwilis Memoiren ganz wörtlich zu nehmen, sind wir wohl
nicht verpflichtet: »Stalin war gezwungen, seinen Gegnern stundenlang
schweigend zuzuhören und ihre Anklagen einzustecken. Nie zuvor, noch jemals
späterhin, hat Stalin eine solche mutig geäußerte, offene Entrüstung über sich
ergehen lassen müssen.«
(Die spätere Entwicklung braucht nur kurz
gestreift zu werden.) Stalin beging Lenin gegenüber abermals einen
Vertrauensbruch. Um sich für seine eigenen Zwecke in Georgien einen soliden
politischen Stützpunkt zu verschaffen, stiftete er dort hinter dem Rücken
Lenins und des Zentralkomitees, mit Hilfe Ordschonikidses und
nicht ohne Dzerschinskys Unterstützung, eine regelrechte »Revolution« gegen die
besten Parteimitglieder an, wobei er sich unberechtigterweise hinter der
Autorität des Zentralkomitees versteckte. Er schlug einen Vorteil daraus, daß
Lenin an den Zusammenkünften mit den georgischen Genossen nicht teilnehmen
konnte und ließ Lenin falsche Informationen zukommen. Lenin ahnte nichts Gutes
und beauftragte seine Privatsekretärin, eine umfassende Dokumentation über die
georgische Frage anzulegen. Nachdem Lenin die Dokumente durchgearbeitet hatte,
entschloß er sich zum offenen Kampf. Es ist schwer zu sagen, was ihn am meisten
empörte – Stalins persönliche Unredlichkeit oder seine chronische Unfähigkeit,
das Wesen der bolschewistischen Nationalitätenpolitik zu erfassen;
wahrscheinlich beides.
(Tastend fand der bettlägerige Lenin die
Wahrheit. Er diktierte ein Programm in Form eines Briefes, das die
Grundposition in der nationalen Frage festlegen sollte, um keine
Mißverständnisse über seine eigene Stellungnahme in den zur Diskussion
stehenden Fragen unter den Genossen aufkommen zu lassen. Am 30. Dezember
diktierte er folgende Mitteilung:)
»Ich glaube, daß die Übereile und die aufgeregten
Verwaltungsmaßnahmen Stalins eine schädliche Rolle gespielt haben, ebenso wie
seine Mißachtung des ›sozialen Nationalismus‹. Mißachtung spielt im allgemeinen
die schlimmste Rolle in der Politik.«
(Am nächsten Tage machte er zu dem Programmbrief
folgenden Zusatz:) »Natürlich ist es notwendig, Stalin und Dzerschinsky für
diese ganze großrussisch-nationalistische Kampagne zur Verantwortung zu
ziehen.«
(Lenin war auf dem richtigen Wege. Sah er den
ganzen Ernst der Situation, so war die abschwächende Charakterisierung, deren
er sich befleißigte, um so erstaunlicher. Denn was hinter seinem Rücken
vorging, war, wie Trotzky acht Jahre später darlegte, daß) die Stalinfraktion
die Fraktion Lenins im Kaukasus verjagte. Das war der erste Sieg der
Reaktionäre in der Partei. Er eröffnete das zweite Kapitel der Revolution: das
der stalinistischen Konterrevolution.
(Lenin sah sich schließlich gezwungen, am 6. März
1923 an die georgischen Oppositionellen zu schreiben:)
An die Genossen Mdiwani, Macharadse und andere
(Abschrift für die Genossen Trotzky und Kamenew).
Werte Genossen, ich stehe in dieser Angelegenheit
mit ganzem Herzen bei Euch. Ich bin empört über die Arroganz Ordschonikidses
und Stalins sträfliches Einverständnis. Ich bereite
Schriftstücke und eine Rede zu Eurer Verteidigung vor.
Mit Hochschätzung, Lenin.
Am vorhergehenden Tage hatte er folgende an mich
gerichtete Mitteilung diktiert:
Werter Genosse Trotzky, ich bitte Sie dringend,
die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im Zentralkomitee der Partei zu
übernehmen. Sie wird jetzt von Stalin und Dzerschinsky ›verfolgt‹, so daß ich
nicht auf Unparteilichkeit rechnen kann. Wahrhaftig, ganz im Gegenteil! Wenn
Sie bereit sind, die Verteidigung zu übernehmen, würde ich zufrieden sein. Wenn
Sie aus irgendeinem Grunde nicht bereit sind, wollen Sie mir bitte die
Dokumente wieder zukommen lassen. Ich würde das als ein Zeichen dafür ansehen, daß
Sie nicht einverstanden sind. Mit besten kameradschaftlichen Grüßen,
Lenin.
(Lenin sandte ferner zwei seiner
Privatsekretärinnen, Glasser und Fotjewa, mit einem Schriftstück zu Trotzky, in
welchem er Trotzky unter anderem bat, die georgische Frage auf dem
bevorstehenden Zwölften Parteitag im Auge zu behalten.) Die Glasser bemerkte
dabei: »Als Wladimir Iljitsch Ihre Briefe gelesen hat, hat sich sein Gesicht
aufgehellt. Jetzt wird die Sache besser gehen! Und er hat mich beauftragt,
Ihnen alle Manuskripte zu übergeben, die er zur Herstellung seiner ›Bombe‹ für
den Zwölften Parteitag brauchte.« Ich war durch Kamenew davon unterrichtet
worden, daß Lenin soeben einen Brief geschrieben hatte, in dem er alle
kameradschaftlichen Beziehungen zu Stalin abbrach, so daß ich äußerte – Kamenew
sollte am gleichen Tage nach Georgien abreisen, um dort an einer
Parteikonferenz teilzunehmen –, es würde angebracht sein, Kamenew den in Rede
stehenden Programmbrief über die nationale Frage zu unterbreiten, damit er in
der Lage sei, alles Nötige zu veranlassen. Die Fotjewa antwortete mir: »Ich
weiß nicht. Wladimir Iljitsch hat mich nicht beauftragt, den Genossen Kamenew
von dem Brief in Kenntnis zu setzen, ich kann ihn aber danach fragen.« Einige
Minuten später kam sie zurück und sagte zu mir: »Auf keinen Fall. Lenin sagt,
daß Kamenew den Brief Stalin zeigen würde, der dann ein faules Kompromiß macht,
um uns später reinzulegen.« »Die Dinge sind also soweit gediehen, daß Lenin es
nicht mehr für möglich hält, mit Stalin selbst auf einer richtigen Linie ein
Kompromiß zu schließen?« »Das stimmt. Iljitsch traut Stalin nicht. Er will sich
vor der ganzen Partei offen gegen ihn aussprechen. Er bereitet eine Bombe vor.«
Lenins Absichten waren durchaus klar. Indem er
die Politik Stalins zum Beispiel nahm, wollte er vor der Partei (und ohne
irgendwelche Rücksichten) die Gefahren der bürokratischen Umwandlung der Diktatur aufzeigen. Die Fotjewa kam kurze Zeit später mit
einer anderen Botschaft Wladimir Iljitschs zurück, der – wie sie sagte –
entschlossen war, sofort zu handeln und die – oben zitierte – Mitteilung an
Mdiwani und Macharadse selbst geschrieben habe.
»Wie erklären Sie sich diese Veränderung?« fragte
ich die Fotjewa.
»Sein Zustand wird von Stunde zu Stunde
schlimmer«, antwortete sie, »und er will sich beeilen, noch zu tun, was er tun
kann.«
(Zwei Tage später hatte Lenin seinen dritten
Anfall.)
Auf dem Parteitag erklärte Stalin am 23. April am
Schluß seiner Ausführungen über die nationale Frage: »Hier ist viel von
Mitteilungen und Artikeln Wladimir Iljitschs gesprochen worden. Ich will meinen
Lehrmeister, den Genossen Lenin, nicht zitieren, denn er ist nicht anwesend und
ich müßte befürchten, daß ich mich nicht in korrekter und exakter Weise auf ihn
beziehe ...«
Das ist zweifellos ein Schulbeispiel
unerhörtester Jesuiterei. Stalin wußte sehr wohl, daß Lenin über seine
Nationalitätenpolitik empört war und nur schwere Krankheit den »Lehrmeister«
hinderte, den »Schüler« gerade wegen dieser nationalen Frage an die Luft zu
setzen.