Leo Trotzki: Stalin. Elftes Kapitel: Aus der Obskurität ins Triumvirat
Portraits
						 
						Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
  Elftes
						Kapitel. 
Aus der Obskurität ins Triumvirat
(Als der Bürgerkrieg zu Ende ging, stand Stalin
						politisch noch im Schatten. Die »Deichselpferde« der Partei kannten ihn
						natürlich, aber sie zählten ihn nicht zu den ersten Führern. Für den einfachen
						Parteiarbeiter war er eins der weniger bekannten Mitglieder des
						Zentralkomitees, obschon er Mitglied des Politischen Büros war. Im Lande hatte
						man kaum von ihm sprechen hören. Die nichtsowjetische Welt hatte überhaupt
						keine Ahnung von seiner Existenz. Aber in weniger als zwei Jahren war seine
						Gewalt über den Parteiapparat derart stark geworden, daß Lenin – für derart
						gefährlich hielt er Stalins Einfluß – die »kameradschaftlichen Beziehungen« zu
						ihm abbrach. Zwei weitere Jahre vergingen, und Trotzky, der Ranghöhe nach in
						der Führung der Oktoberrevolution und der Sowjetregierung gleich der Zweite
						nach Lenin, war von Stalins Apparat in eine prekäre politische Stellung
						gedrängt worden. Stalin wurde nicht nur Mitglied des Triumvirats, das an Stelle
						des kranken Lenin die Partei leitete, sondern auch der mächtigste der Triumvirn.
						Darüber hinaus erwarb er im Laufe der Jahre eine Macht, sehr viel größer, als
						Lenin sie jemals besessen hatte – eine weitaus absolutere Macht in der Tat, als
						die, über die je ein Zar in der langen Geschichte des russischen Absolutismus
						verfügt hat.
						
						Wie war das möglich? Welches waren die Ursachen
						für Stalins Aufstieg aus politischer Obskurität zu politischer Bedeutung, und
						über welche Etappen führte sein Weg?)
						
						Jedes Entwicklungsstadium, selbst eine
						Katastrophenphase wie Revolution und Konterrevolution, ist ein Produkt des
						voraufgegangenen Stadiums, wurzelt in ihm und ähnelt ihm. Nach dem Oktobersieg
						gab es Autoren, die vorbrachten, daß die proletarische Diktatur nur eine neue
						Lesart des Zarismus sei, Vogel-Strauß-Politiker, die die Abschaffung des Adels
						und der Monarchie so wenig sehen wollten, wie die Vernichtung des Kapitalismus
						und die Aufrichtung einer Planwirtschaft, die Abschaffung der Staatskirche und die
						Erziehung der Massen nach den Grundsätzen des Atheismus, die Aufhebung des
						Großgrundbesitzes und die Verteilung des Bodens unter diejenigen, die den Boden
						wirklich bearbeiten. Genau so schlossen nach Stalins Triumph über
						den Bolschewismus die meisten Schriftsteller – wie die beiden Webbs, die Wells
						und die Laskis, die erst dem Bolschewismus kritisch gegenüberstanden und
						nachher Weggenossen des Stalinismus wurden – ihre Augen vor der kardinalen und
						nicht zu übersehenden Tatsache, daß die Oktoberrevolution – ungeachtet der
						Repressionsmaßnahmen, die unter dem Zwange außergewöhnlicher Umstände ergriffen
						werden mußten – einen Umsturz der gesellschaftlichen Beziehungen im Interesse
						der arbeitenden Massen mit sich gebracht hat, während die stalinistische
						Konterrevolution soziale Umbrüche einleitet, die zur Änderung der sowjetischen
						Gesellschaftsordnung im Interesse einer privilegierten Minderheit
						thermidorianischer Bürokraten führen. Gleichermaßen unfähig, die elementarsten
						Tatsachen zu verstehen, sind gewisse Renegaten des Kommunismus, von denen viele
						eine Zeitlang Stalins Lakeien waren und die nun, den Kopf im Sande bitterster
						Enttäuschung, nicht sehen wollen, daß sich die von Stalin geführte
						Konterrevolution trotz Gleichartigkeit an der Oberfläche in manchem wesentlichen
						Punkte von den Konterrevolutionen der Faschistenführer unterscheidet; die nicht
						sehen wollen, daß dieser Unterschied seine Wurzeln in der Verschiedenheit der
						sozialen Basis der Konterrevolution Stalins und der sozialen Basis der von
						Hitler und Mussolini geführten reaktionären Bewegungen hat, daß diese
						Verschiedenheit parallel verläuft mit dem Unterschied zwischen der Diktatur des
						Proletariats – so sehr sie auch durch den thermidorianischen Bürokratismus
						entstellt sein mag – und der Diktatur der Bourgeoisie, mit dem Unterschied
						zwischen einem Arbeiterstaat und einem kapitalistischen Staat.
						
						Ferner wird dieser grundlegende Unterschied
						illustriert – und in gewissem Sinne resümiert – durch die Einzigartigkeit der
						Karriere Stalins, verglichen mit derjenigen der beiden anderen Diktatoren,
						Hitler und Mussolini, die beide Begründer einer Bewegung, hervorragende
						Agitatoren und Volkstribunen waren. Ihr politischer Aufstieg, so phantastisch
						er scheinen möge, entsprang eigener Kraft und verlief unter aller Augen und in
						engster Verbindung mit dem Wachstum der Bewegungen, die sie von Anfang an
						geführt hatten. Völlig verschieden davon ist die Art des Aufstiegs Stalins. In
						der Vergangenheit hat er nicht seinesgleichen. Eine Vorgeschichte scheint er
						nicht zu haben. Hier vollzog sich der Aufstiegsprozeß irgendwo hinter einem
						undurchdringlichen politischen Vorhang. In einem bestimmten Augenblick
						überstieg Stalins Erscheinung plötzlich, sogleich mit der Rüstung der Macht
						angetan, die Kremlmauern, und die Welt erschaute Stalin zum erstenmal als
						fertigen Diktatoren. Um so lebhafter ist das Interesse, mit dem die denkende
						Menschheit Stalins Natur untersucht, seine persönliche sowohl wie seine
						politische. In den Besonderheiten seiner Persönlichkeit sucht sie den Schlüssel
						zu seinem politischen Geschick.
						
						Es ist unmöglich, Stalin und seine jüngsten
						Erfolge zu verstehen, wenn man nicht die Haupttriebfeder seiner Persönlichkeit
						erkannt hat: Herrschsucht, Ehrgeiz, Neid – rastlos emsiger Neid, gegen alle
						Begabteren gerichtet, alle Mächtigeren, alle über ihm Stehenden. Mussolini
						sagte eines Tages mit der für ihn charakteristischen Großmäuligkeit zu einem
						seiner Freunde: »Ich bin nie meinesgleichen begegnet!« Diesen Satz hätte Stalin
						selbst vor seinen intimsten Freunden nie aussprechen können, weil er allzu absurd
						und lächerlich geklungen hätte. Allein in der bolschewistischen Führung gab es
						eine ganze Anzahl von Männern, die Stalin in jeder Hinsicht überragten, außer
						in einer – dem konzentrierten Ehrgeiz. Lenin schätzte die Macht als
						Aktionsinstrument äußerst hoch, aber das Streben nach Macht um der Macht willen
						war ihm völlig fremd. Nicht so Stalin. Psychologisch war für ihn die Macht
						immer etwas von dem Ziel, dem sie angeblich diente, Unterschiedenes. Der
						Wunsch, seinen Willen zu gebrauchen, wie der Athlet seine Muskeln gebraucht, um
						sich anderen überlegen zu zeigen – das ist die Grundtriebkraft seiner
						Persönlichkeit. So erwarb sein Wille eine sich ständig steigernde
						zusammengeballte Kraft, schwoll an Angriffslust, Tatendrang, Zielsetzung und
						machte vor nichts mehr Halt. Je öfter sich Stalin selbst davon überzeugen
						mußte, daß ihm die meisten Voraussetzungen für die Eroberung der Macht fehlten,
						um so heftiger bemühte er sich, jeden dieser Mängel zu kompensieren, um so
						geschickter gab er allen diesen Mängeln eine Form, die sie unter bestimmten
						Umständen zu Vorzügen machen mußten.
						
						Der übliche offizielle Vergleich Stalins mit
						Lenin ist einfach ungehörig. Wenn Individualität die Vergleichsgrundlage ist,
						ist es überhaupt nicht einmal möglich, Stalin neben Hitler und Mussolini zu
						stellen. So mager die »Ideen« des Faschismus sind – die beiden siegreichen
						Führer der Reaktion, der Italiener wie der Deutsche, entfalteten von Anbeginn
						ihrer Bewegungen an eigene Initiative, führten Massen zur Tat und fanden im
						politischen Dschungel neue Wege. Nichts dergleichen kann
						von Stalin gesagt werden. Die bolschewistische Partei ist von Lenin geschaffen
						worden. Stalin ist aus dem Apparat dieser Partei hervorgegangen und von ihm
						untrennbar geblieben. Zwischen ihm und den Massen, den historischen
						Ereignissen, stand immer der Apparat. In der ersten Periode seines Aufstiegs
						zur Macht war er von seinem Erfolg selbst überrascht. Sein Schritt war
						unsicher, er blickte nach links und nach rechts und über seine Schultern, stets
						bereit, zurück und in Deckung zu gehen. Als Gegengewicht gegen mich wurde er
						von Sinowjew und Kamenew gehalten und ermutigt, auch, in geringerem Maße, von
						Rykow, Bucharin und Tomsky. Keiner von ihnen glaubte damals, daß Stalin eines
						Tages über ihre Häupter hinwegschreiten würde. Im ersten Triumvirat behandelte
						ihn Sinowjew mit behutsamer Bevormundung, Kamenew mit einem Schuß von Ironie.
						
						Die Beziehungen zwischen Lenin und Stalin werden
						offiziell als eine enge Freundschaft dargestellt. In Wirklichkeit trennte die
						beiden Männer ein weiter Abstand, der nicht nur von dem Altersunterschied von
						zehn Jahren herrührte, sondern von dem ganzen Format ihrer Persönlichkeit. Ein
						Gefühl von der Art der Freundschaft konnte es zwischen ihnen nicht geben.
						Zweifellos hatte Lenin an Stalin die Fähigkeiten geschätzt, die dieser als
						praktischer Organisator in der schwierigen Periode der Reaktion von 1907 bis 1913
						bewiesen hatte. In der Zeit des Sowjetregimes jedoch erschien ihm Stalins
						Grobheit mehr und mehr als unerträglich, und sie verhinderte eine
						vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihnen. Hauptsächlich deswegen betrieb
						Stalin seine heimliche Opposition gegen Lenin weiter. Neidisch und
						widerspenstig, konnte Stalin nur um so störrischer werden, je mehr er in jedem
						Augenblick Lenins erdrückende intellektuelle und moralische Überlegenheit zu
						fühlen bekam. Solcherart waren die Beziehungen zueinander, und so blieben sie
						bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lenin ernsthaft erkrankte und wo sie in offenen
						Kampf umschlugen, dessen Höhepunkt der schließliche Bruch wurde.
						
						Schon anläßlich des fünfzigsten Geburtstages von
						Lenin im Frühling 1920 getraute sich Stalin eine Rede über Lenins »Irrtümer« zu
						halten. Was ihn dazu trieb, ist schwer zu sagen. Jedenfalls schien diese Rede
						allen so deplaciert, daß »Prawda« und »Iswestija« am
						nächsten Tage, dem 24. April, in ihrem Bericht über die Feier lediglich
						anführten, »der Genosse Stalin« habe »verschiedene Episoden ihrer gemeinsamen
						Arbeit vor der Revolution in Erinnerung gerufen«, ohne Kommentar. Zur selben
						Zeit und aus dem gleichen Anlaß wollte Stalin in einem Artikel »Lenin als
						Organisator und Führer der russischen Kommunistischen Partei« zeigen, »was er
						von Lenin gelernt hatte und von ihm lernen wolle«. Es lohnt nicht, dieses Stück
						auf sein theoretisches oder literarisches Interesse hin zu untersuchen. Es
						genügt, den Anfang des Artikels wiederzugeben, der folgendermaßen lautet:
						
						»Während im Westen – in Frankreich und
						Deutschland – die Arbeiterpartei aus den Gewerkschaften hervorging, unter
						Bedingungen, die die Existenz von Gewerkschaften und Parteien ermöglichten ...
						fand im Gegensatz dazu in Rußland die Bildung der proletarischen Partei unter
						dem grausamsten Absolutismus statt ...«
						
						Diese Behauptung trifft zweifelsohne auf England
						zu, das er nicht als Beispiel bringt, während sie für Frankreich nicht stimmt
						und gänzlich falsch ist, wenn sie auf Deutschland angewendet wird, wo es die
						Partei war, die die Gewerkschaften praktisch aus dem Nichts heraus schuf.
						Heutigentags wie 1920 ist die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung für
						Stalin ein Buch mit sieben Siegeln, weshalb es ganz umsonst ist, von ihm auf
						diesem Gebiete einen theoretischen Lichtblick zu erwarten.
						
						Der Artikel gewinnt aber dadurch ein gewisses
						Interesse, daß Stalin hier nicht nur in der Überschrift, sondern auch im Inhalt
						Lenin einmal als Organisator und dann auch als politischen Führer feiert. »Das
						wichtigste, was dem Genossen Lenin zugeschrieben werden muß«, war »sein
						stürmischer Angriff auf die organisatorische Formlosigkeit bei den
						Menschewiki.« Lenin wird sein Organisationsplan deshalb gutgeschrieben, weil er
						»die Erfahrung der Organisationsarbeit der besten praktischen Parteiarbeiter
						meisterhaft verallgemeinerte«. Und weiter: »Nur in der Konsequenz einer solchen
						Organisationspolitik konnte die Partei diese innere Einheit herstellen, diese
						überwältigende Solidarität, die es ihr ermöglichte, sich mühelos aus der
						Kerensky- und der Julikrise herauszuarbeiten, die Oktoberrevolution auf ihren
						Schultern zu tragen, die Periode der Brest-Litowsker Krise zu überwinden, ohne
						auseinanderzufallen, und den Sieg über die Entente zu organisieren.«
						
						Erst nach
						diesem Absatz sagt Stalin: »Aber der organisatorische Wert der russischen
						Kommunistischen Partei stellt nur eine Seite der Frage dar« und geht dann über
						zum politischen Inhalt der Parteiarbeit, zum Programm und zur Taktik der
						Partei. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu sagen, daß kein anderer
						Marxist, auf alle Fälle kein russischer Marxist, eine Würdigung Lenins
						auf diese Weise konstruiert hätte. Organisatorische Fragen sind ganz gewiß
						nicht die Grundlage der Politik, sondern folgen vielmehr der Kristallisierung
						der Theorie, des Programms und der Praxis nach. Es ist aber kein Zufall, daß
						Stalin den organisatorischen Hebel für grundlegend hält; alles, was mit dem
						Programm und der Politik zusammenhängt, war für ihn immer nur ein Ornament für
						die organisatorische Grundlage.
						
						Im gleichen Artikel formulierte Stalin zum
						letzten Mal und ziemlich korrekt die seinerzeit recht neue bolschewistische
						Konzeption von der Rolle der proletarischen Partei unter den Bedingungen der
						bürgerlich-demokratischen Revolutionen unserer Zeit. Stalin machte sich über
						die Menschewiki lustig und schrieb, es schiene all denjenigen, die sich die
						Geschichte der voraufgegangenen Revolutionen nicht genügend zu eigen gemacht
						hätten,
						
						daß das Proletariat nicht auf die Hegemonie in
						der russischen Revolution Anspruch machen kann; die Führung muß der russischen
						Bourgeoisie angeboten werden, derselben Bourgeoisie, die sich der Revolution
						entgegengestellt hat. Ebenso muß die Bauernschaft unter die Vormundschaft der
						Bourgeoisie gestellt werden, während sich das Proletariat auf die Rolle einer
						Opposition auf der äußersten Linken beschränken müsse. Dieses ekelhafte Echo
						des widerlichen Liberalismus wurde von den Menschewiki als das letzte Wort des
						echten Marxismus hingestellt.
						
						Bemerkenswert ist, daß Stalin drei Jahre später
						eben diese Konzeption der Menschewiki Wort für Wort und Buchstaben für
						Buchstaben auf die chinesische bürgerlich-demokratische Revolution anwandte und
						später mit noch weitaus stärkerem Zynismus auf die spanische Revolution von
						1936-1939. Eine so monströse Wendung wäre gänzlich ausgeschlossen gewesen,
						hätte sich Stalin wirklich die leninistische Konzeption von der Revolution
						angeeignet. Aber was sich Stalin angeeignet hat, das ist lediglich die
						leninistische Konzeption vom Apparat einer zentralisierten Partei. Sobald er
						diese verwirklicht sah, vergaß er, daß sie theoretischen Erwägungen entsprang;
						ihre programmatische Grundlage verlor für ihn jede Bedeutung, und er ging ganz
						natürlicherweise, im Einklang mit seiner eigenen Vergangenheit, seiner sozialen
						Herkunft, seiner Erziehung, zu einer kleinbürgerlichen Konzeption
						über, zum Opportunismus, zum Kompromiß. 1917 war es ihm nur deshalb nicht
						gelungen, die Vereinigung mit den Menschewiki zu verwirklichen, weil Lenin es
						ihm nicht gestattet hatte. In der chinesischen Revolution praktizierte er die
						menschewistische Konzeption unter dem Banner des Bolschewismus; er wandte
						strikt das menschewistische Programm an, aber mit bolschewistischen Methoden,
						das heißt mittels eines zentralisierten politischen Apparats, der für ihn die
						Quintessenz des Bolschewismus ist. Mit sehr viel mehr Folgerichtigkeit und in
						tödlich wirkender Vollendung machte er dieselbe Politik in der spanischen
						Revolution.
						
						Wenn also der Artikel Stalins über Lenin, der oft
						und in allen Sprachen nachgedruckt worden ist, nur eine banale
						Auseinanderlegung seines Objekts war, so liefert er uns doch den Schlüssel zum
						Verständnis der politischen Natur unseres Verfassers. Er enthält sogar Stellen,
						die in gewisser Hinsicht autobiographisch sind: »Öfter als einmal kam es vor,
						daß unsere eigenen Genossen (nicht nur die Menschewiki), den Genossen Lenin
						beschuldigten, in seinem unversöhnlichen Kampf gegen die Versöhnler übertrieben
						stark zu Polemiken und zu Spaltungen zu neigen ... Kein Zweifel, daß zuzeiten
						das eine wie das andere vorkam ...« 1920 hielt Stalin Lenin für übertrieben
						stark zu Polemiken und zu Spaltungen geneigt, wie er das auch 1913 geglaubt
						hatte. Und er rechtfertigte diese Tendenz Lenins, ohne die Unrichtigkeit der
						gegen Lenin seines »Extremismus« wegen vorgebrachten Beschuldigungen
						nachzuweisen.
						
						(Als Lenin seinen ersten Anfall erlitt, glaubte
						das Publikum in der Welt mit Einschluß von Sowjetrußland, daß seine Krankheit
						nicht ernst wäre und er seine Arbeit bald wieder aufnehmen könne: er war zähe
						wie eine Bulldogge und hatte gerade erst die Fünfzig überschritten. Anfangs
						teilten die Mitglieder des Politischen Büros aufrichtig diese Überzeugung. Sie
						taten nichts, um die Öffentlichkeit, wenigstens die sowjetischen Arbeiter und
						Bauern oder die Mitglieder der Partei, zu informieren, als nachher klar wurde,
						daß diese Überzeugung unberechtigt und die Krankheit ernsthaft war. Es wurde
						für selbstverständlich gehalten, daß das Politbüro während der Krankheit Lenins
						seine Aufgabe weiter verfolgte. Obwohl für die Öffentlichkeit im allgemeinen
						Trotzky der gegebene Nachfolger Lenins zu sein schien und obwohl die jüngeren
						Mitglieder der Partei diese Auffassung teilten, sahen die »Deichselpferde« des
						Apparats den Nachfolger weder in Trotzky noch in
						irgendeinem anderen Mitglied des Politischen Büros. Die einzig mögliche Lösung
						schien ihnen die Bildung eines Direktoriums aus den Führern der Partei und den
						Voll- und Ersatzmitgliedern des Politischen Büros.)
						
						(Dieser Plan wurde jedoch geändert. Die Nachfolge
						ging an ein Triumvirat über. Dessen Leiter wurde Sinowjew, Kamenew wurde der
						zweite Mann, Stalin kam erst an dritter Stelle. Sinowjew wurde so der
						tatsächliche Nachfolger Lenins. Er verfügte über die aktive Hilfe Kamenews und
						Bucharins, die widerwillige Stalins und die passive Unterstützung durch
						Tomski.)
						
						(Wen hat Lenin als seinen Nachfolger bevorzugt?
						Bis zum zweiten Anfall am 16. Dezember 1922 hoffte er durchaus noch,
						wiederhergestellt zu werden und die Leitung wieder übernehmen zu können. Bis
						dahin faßt er die Frage der Nachfolge nicht ernsthaft ins Auge. Sein einige
						Tage später verfaßtes Testament drückte offensichtlich den Wunsch aus, das
						Zentralkomitee vor den Gefahren eines Bruchs zu warnen; eine solche Stellung
						einzunehmen, lag ihm näher, als selbst durch ein Diktat zu entscheiden. Eben
						weil ihm sein außergewöhnliches Prestige die Macht dazu verschaffte,
						widerstrebte es ihm, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen. Deshalb beschränkte
						er sich darauf, seine Meinung über die führenden Persönlichkeiten zu
						präzisieren und Empfehlungen zu geben, unter denen die dringendste die
						Entfernung Stalins – wegen »Grobheit« und »Unredlichkeit« – vom Posten des
						Generalsekretärs war. Zwei Monate danach hielt er es aber für unerläßlich, eine
						nicht wieder rückgängig zu machende Entscheidung zu treffen: den endgültigen Abbruch
						der kameradschaftlichen Beziehungen mit dem einen seiner Stellvertreter, mit
						Stalin. Dieser Bruch fand während der Vorbereitungen zum Zwölften Parteitag
						statt, an dem Lenin, durch einen dritten Anfall gelähmt, nicht teilnehmen
						konnte. Es war dies der erste Parteitag ohne Lenin, und auch der erste, der mit
						vom Generalsekretär ausgesuchten Delegierten angefüllt war. Er bezeichnete den
						Anfang vom Ende des Leninschen Regimes und das Heraufdämmern des Stalinismus
						als neuer politischer Orientierung.)
						
						(Der Bruch zwischen Lenin und Stalin wurde erst
						vollzogen, nachdem Lenin vergebliche Anstrengungen gemacht hatte, ihn zu
						vermeiden.) Als Sinowjew und seine Verbündeten auf dem Elften Parteitag Ende
						März 1922 Stalins Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs in der
						Hoffnung unterstützten,, des letzteren Feindschaft gegen mich für ihre eigenen
						Zwecke ausnützen zu können, blieb Lenin reserviert und
						zögernd. »Dieser Koch wird uns nur scharfe Suppen kochen«, sagte er in einem
						privaten Gespräch. Lenin fürchtete, wieder krank zu werden und war bemüht, die
						Zwischenzeit bis zu einem nächsten Anfall, der fatal werden konnte, zur
						Herstellung einer harmonischen gemeinsamen Leitung durch gegenseitiges
						Einverständnis auszunutzen.
						
						Der einzige ernsthafte Beitrag an marxistischer
						Literatur, den Stalin jemals für das Arsenal der bolschewistischen Theorie
						geliefert hat, war der über die nationale Frage. Das lag so weit zurück wie das
						Jahr 1913. Diese Schrift war zweifellos die »Summe« seiner eigenen
						Beobachtungen im Kaukasus, das Resultat praktischer revolutionärer Arbeit und
						gewisser historischer Verallgemeinerungen, die er, wie wir schon ausgeführt
						haben, Lenin entnommen hatte. Stalin hatte sie übernommen, indem er sie seinen
						eigenen Schlußfolgerungen angepaßt hatte, ohne sie aber vollständig zu verdauen
						und ganz gewiß ohne sie wirklich zu assimilieren.
						
						Das wurde vollauf klar, als in der Zeit des
						Sowjetregimes die auf dem Papier gelösten Probleme in der Form von höchst
						wichtigen Verwaltungsaufgaben wieder auftauchten. Gerade dabei stellte sich
						heraus, daß das viel gerühmte völlige Einverständnis zwischen Lenin und Stalin
						in allen Dingen, besonders in der nationalen Frage – wofür die Broschüre aus
						dem Jahre 1913 garantierte – in hohem Maße auf Einbildung beruhte.
						
						Auf dem Zehnten Parteitag im März 1921 hatte
						Stalin wieder einmal seinen unvermeidlichen Bericht über die nationale Frage
						erstattet. Wie das bei ihm infolge seines Empirismus immer der Fall war, zog er
						seine Verallgemeinerungen nicht aus der lebendigen Materie, aus den Erfahrungen
						des Sowjetsystems, sondern aus untereinander nicht zusammenhängenden und
						miteinander nicht in Zusammenhang gebrachten Abstraktionen. 1921 wiederholte er
						wie 1917 das allgemeine Argument, daß die bürgerlichen Nationen ihre nationale
						Frage nicht lösen könnten, während das Sowjetland über alle Mittel dazu
						verfügte. Der Bericht rief Unzufriedenheit und Überraschung hervor. Im Verlauf
						der auf ihn folgenden Debatten formulierten die an ihm am meisten
						interessierten Delegierten, vor allem die Vertreter der Parteien der nationalen
						Minderheiten, ihre Kritiken. Selbst Mikojan, schon damals einer der nächsten
						politischen Verbündeten Stalins und später einer seiner ergebensten Lakaien,
						stellte fest, daß die Partei Instruktionen brauche über »die
						Änderungen, die am Regime vorzunehmen sind und über den Typus des
						Sowjetregimes, der in den Grenzländern errichtet werden muß ... was uns der
						Genosse Stalin nicht gesagt hat«.
						
						Prinzipien haben für Stalin niemals gezählt – und
						in der nationalen vielleicht noch weniger als in irgendeiner anderen Frage. Die
						unmittelbaren Verwaltungsaufgaben erschienen ihm immer wichtiger als alle
						Gesetze der Geschichte. 1905 hatte er die ansteigende Massenbewegung nur mit
						Erlaubnis seines Parteikomitees zur Kenntnis genommen. In der Reaktionszeit
						hatte er die Untergrundbewegung verteidigt, weil sie ihrer Natur nach einen
						zentralisierten politischen Apparat erforderte. Nach der Februarrevolution, als
						dieser Apparat ebenso zerschlagen war wie die Untergrundbewegung, verlor er den
						Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus aus dem Gesicht und war
						bereit, sich mit der Partei Tseretellis zu vereinigen. 1917 schließlich, nach
						der Machteroberung, wurden alle Aufgaben, alle Probleme, alle Perspektiven den
						Bedürfnissen dieses Apparates der Apparate untergeordnet: dem Staat. Als
						Nationalitäten-Kommissar ging Stalin an die nationale Frage nicht mehr vom
						Gesichtspunkt der Gesetze der Geschichte aus heran – einem Gesichtspunkt, dem
						er 1913 seinen Tribut gezahlt hatte –, sondern vom Gesichtspunkt der
						Bequemlichkeit der Büros. So mußte er notwendigerweise mit den Forderungen der
						zurückgebliebenen und unterdrückten Völkerschaften in scharfen Konflikt geraten,
						während er dem bürokratischen großrussischen Imperialismus übertriebene
						Vorrechte zuerkannte.
						
						Das georgische Volk, das fast völlig aus Bauern
						und Kleinbürgern bestand, widersetzte sich der Sowjetisierung seines Landes
						aufs energischste. Doch wurden die daraus resultierenden großen Schwierigkeiten
						beträchtlich durch die militaristische Willkür mit ihren Prozeduren und
						Methoden erhöht, der Georgien unterworfen wurde. Unter diesen Umständen mußte
						die führende Partei den georgischen Massen gegenüber doppelt behutsam vorgehen.
						Eben hier liegt die Ursache für die tiefgehende Uneinigkeit, die sich zwischen
						Lenin und Stalin entwickelte. Lenin bestand auf einer äußerst schmiegsamen,
						vorsichtigen und geduldigen Politik gegenüber Georgien und besonders
						Transkaukasien. Stalin ging davon aus, daß unsere Position gesichert sei, da
						sich der Staatsapparat in seinen Händen befinde. Stalins Agent im Kaukasus war
						Ordschonikidse, der unduldsame Eroberer Georgiens, der jede
						Regung von Widerstand für eine persönliche Beleidigung hielt. (Stalin schien
						vergessen zu haben, daß es nicht sehr lange her war), daß wir Georgiens Unabhängigkeit
						anerkannt und einen Vertrag mit ihm unterzeichnet hatten. (Das war am 7. Mai
						1920 gewesen. Am 11. Februar 1921 aber) waren Abteilungen der Roten Armee auf
						Befehl Stalins in Georgien eingedrungen und hatten uns vor vollendete Tatsachen
						gestellt. Stalins Jugendfreund Iremaschwili schreibt darüber:
						
						Stalin war gegen den Vertrag. Er wollte nicht,
						daß sein Geburtsland außerhalb des russischen Staates bleibe und unter der
						freien Regierung der Menschewiki lebe, die er haßte. Sein Ehrgeiz drängte ihn
						zur Herrschaft über Georgien, dessen friedfertige und denkfähige Bevölkerung
						seiner destruktiven Propaganda mit kaltem Gleichmut widerstand ... Der Drang,
						seinen Rachedurst an den menschewistischen Führern zu stillen, die sich stets
						geweigert hatten, seinen utopischen Plänen zuzustimmen und die ihn aus ihren Reihen
						ausgeschlossen hatten, ließ ihm keine Ruhe. Gegen den Willen Lenins, auf seine
						eigene eitle Initiative hin, vollführte Stalin die Bolschewisierung oder
						Stalinisierung seines Geburtslandes ... Stalin organisierte in Moskau den
						Einfall nach Georgien und leitete ihn von dort aus. Mitte Juni 1921 zog er als
						Sieger in Tiflis ein.
						
						Stalin besuchte Georgien im Jahre 1921, und zwar
						in einer recht anderen Eigenschaft als der, in der man ihn in seinem Lande zu
						sehen gewohnt gewesen, als er noch Sosso und später Koba war. Jetzt kam er als
						Vertreter der Regierung, des allmächtigen Politbüros, des Zentralkomitees.
						Jedoch sah niemand in Georgien in ihm einen Führer, vor allem niemand in den
						oberen Schichten der Partei, wo man ihn nicht als Stalin, sondern als
						Angehörigen der höchsten Parteiinstanz empfing, das heißt, nicht kraft seiner
						Persönlichkeit, sondern seiner Funktion nach. Seine ehemaligen Kameraden in der
						illegalen Arbeit hielten sich für mindestens ebenso kompetent in den
						georgischen Angelegenheiten wie ihn; sie gaben den Meinungsverschiedenheiten,
						die sie mit ihm hatten, unumwunden Ausdruck und unterwarfen sich nur wider
						Willen, wenn sie gezwungen waren, sich zu unterwerfen, ohne mit schärfster
						Kritik zu sparen und nicht ohne damit zu drohen, daß sie vom Politbüro
						verlangen würden, das ganze Problem neu aufzurollen. Stalin war noch kein
						Führer, selbst nicht in seinem Geburtsland. Das bekümmerte ihn tief. Er hielt
						sich über die Georgien betreffenden Fragen für besser informiert als alle
						übrigen Mitglieder des Zentralkomitees. Bezog er in Moskau seine Autorität aus
						der Tatsache, daß er ein mit den lokalen Bedingungen vertrauter Georgier war,
						so versucht er in Georgien, wo er als der von nationalen Vorurteilen und lokalen Sympathien freie Vertreter Moskaus auftrat, sich
						so zu benehmen, als ob er nicht Georgier sei, sondern eben ein von Moskau
						delegierter Bolschewik, der Nationalitäten-Kommissar, und als ob die Georgier
						für ihn gerade eine der vielen nationalen Minderheiten wären. Im Hinblick auf
						die nationalen Besonderheiten Georgiens spielte er den Unwissenden – eine Art
						von Kompensation für die stark nationalistischen Gefühle seiner eigenen
						Jugendzeit. (Er betrug sich wie ein Großrusse und trat die nationalen Rechte
						seines eigenen Volkes mit Füßen.) Das war es, was Lenin unter »ausländischen
						Russifizierern« verstand – und was sowohl auf Stalin wie auch auf Dzerschinsky,
						diesen zum »Russifizierer« gewordenen Polen, zutraf. (Iremaschwili nach, der
						offensichtlich übertreibt), »betrachteten die georgischen Bolschewiki, die
						anfänglich in die russische stalinistische Invasion verwickelt waren, als ihr
						Ziel eine unabhängige Sowjetrepublik von Georgien, die nichts mit Rußland
						gemein haben würde als die bolschewistischen Auffassungen und die politische
						Freundschaft. Es gab noch Georgier, denen die Unabhängigkeit ihres Landes
						wichtiger war als alles andere ... Dann aber kam Stalins Kriegserklärung, die
						eine loyale Unterstützung bei den russischen Rotgardisten und der Tscheka fand,
						die er nach Georgien geschickt hatte«.
						
						Weiter sagt uns Iremaschwili, daß Stalin in
						Tiflis auf allgemeine Feindschaft stieß. Während einer von den Tifliser
						Sozialisten einberufenen, im Theater stattfindenden Versammlung fanden
						Kundgebungen gegen Stalin statt. Es ist wahrscheinlich, daß der alte Menschewik
						Iremaschwili die Versammlung beherrschte und Stalin offen anschuldigte; auch
						wird gesagt, daß andere Redner Stalin gleichfalls angriffen. Ein
						stenographischer Bericht ist leider nicht aufbewahrt worden – und folgenden
						Abschnitt aus Iremaschwilis Memoiren ganz wörtlich zu nehmen, sind wir wohl
						nicht verpflichtet: »Stalin war gezwungen, seinen Gegnern stundenlang
						schweigend zuzuhören und ihre Anklagen einzustecken. Nie zuvor, noch jemals
						späterhin, hat Stalin eine solche mutig geäußerte, offene Entrüstung über sich
						ergehen lassen müssen.«
						
						(Die spätere Entwicklung braucht nur kurz
						gestreift zu werden.) Stalin beging Lenin gegenüber abermals einen
						Vertrauensbruch. Um sich für seine eigenen Zwecke in Georgien einen soliden
						politischen Stützpunkt zu verschaffen, stiftete er dort hinter dem Rücken
						Lenins und des Zentralkomitees, mit Hilfe Ordschonikidses und
						nicht ohne Dzerschinskys Unterstützung, eine regelrechte »Revolution« gegen die
						besten Parteimitglieder an, wobei er sich unberechtigterweise hinter der
						Autorität des Zentralkomitees versteckte. Er schlug einen Vorteil daraus, daß
						Lenin an den Zusammenkünften mit den georgischen Genossen nicht teilnehmen
						konnte und ließ Lenin falsche Informationen zukommen. Lenin ahnte nichts Gutes
						und beauftragte seine Privatsekretärin, eine umfassende Dokumentation über die
						georgische Frage anzulegen. Nachdem Lenin die Dokumente durchgearbeitet hatte,
						entschloß er sich zum offenen Kampf. Es ist schwer zu sagen, was ihn am meisten
						empörte – Stalins persönliche Unredlichkeit oder seine chronische Unfähigkeit,
						das Wesen der bolschewistischen Nationalitätenpolitik zu erfassen;
						wahrscheinlich beides.
						
						(Tastend fand der bettlägerige Lenin die
						Wahrheit. Er diktierte ein Programm in Form eines Briefes, das die
						Grundposition in der nationalen Frage festlegen sollte, um keine
						Mißverständnisse über seine eigene Stellungnahme in den zur Diskussion
						stehenden Fragen unter den Genossen aufkommen zu lassen. Am 30. Dezember
						diktierte er folgende Mitteilung:)
						
						»Ich glaube, daß die Übereile und die aufgeregten
						Verwaltungsmaßnahmen Stalins eine schädliche Rolle gespielt haben, ebenso wie
						seine Mißachtung des ›sozialen Nationalismus‹. Mißachtung spielt im allgemeinen
						die schlimmste Rolle in der Politik.«
						
						(Am nächsten Tage machte er zu dem Programmbrief
						folgenden Zusatz:) »Natürlich ist es notwendig, Stalin und Dzerschinsky für
						diese ganze großrussisch-nationalistische Kampagne zur Verantwortung zu
						ziehen.«
						
						(Lenin war auf dem richtigen Wege. Sah er den
						ganzen Ernst der Situation, so war die abschwächende Charakterisierung, deren
						er sich befleißigte, um so erstaunlicher. Denn was hinter seinem Rücken
						vorging, war, wie Trotzky acht Jahre später darlegte, daß) die Stalinfraktion
						die Fraktion Lenins im Kaukasus verjagte. Das war der erste Sieg der
						Reaktionäre in der Partei. Er eröffnete das zweite Kapitel der Revolution: das
						der stalinistischen Konterrevolution.
						
						(Lenin sah sich schließlich gezwungen, am 6. März
						1923 an die georgischen Oppositionellen zu schreiben:)
						
						An die Genossen Mdiwani, Macharadse und andere
						(Abschrift für die Genossen Trotzky und Kamenew).
						
						Werte Genossen, ich stehe in dieser Angelegenheit
						mit ganzem Herzen bei Euch. Ich bin empört über die Arroganz Ordschonikidses
						und Stalins sträfliches Einverständnis. Ich bereite
						Schriftstücke und eine Rede zu Eurer Verteidigung vor.
						
						Mit Hochschätzung, Lenin.
						
						Am vorhergehenden Tage hatte er folgende an mich
						gerichtete Mitteilung diktiert:
						
						Werter Genosse Trotzky, ich bitte Sie dringend,
						die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im Zentralkomitee der Partei zu
						übernehmen. Sie wird jetzt von Stalin und Dzerschinsky ›verfolgt‹, so daß ich
						nicht auf Unparteilichkeit rechnen kann. Wahrhaftig, ganz im Gegenteil! Wenn
						Sie bereit sind, die Verteidigung zu übernehmen, würde ich zufrieden sein. Wenn
						Sie aus irgendeinem Grunde nicht bereit sind, wollen Sie mir bitte die
						Dokumente wieder zukommen lassen. Ich würde das als ein Zeichen dafür ansehen, daß
						Sie nicht einverstanden sind. Mit besten kameradschaftlichen Grüßen,
						
						Lenin.
						
						(Lenin sandte ferner zwei seiner
						Privatsekretärinnen, Glasser und Fotjewa, mit einem Schriftstück zu Trotzky, in
						welchem er Trotzky unter anderem bat, die georgische Frage auf dem
						bevorstehenden Zwölften Parteitag im Auge zu behalten.) Die Glasser bemerkte
						dabei: »Als Wladimir Iljitsch Ihre Briefe gelesen hat, hat sich sein Gesicht
						aufgehellt. Jetzt wird die Sache besser gehen! Und er hat mich beauftragt,
						Ihnen alle Manuskripte zu übergeben, die er zur Herstellung seiner ›Bombe‹ für
						den Zwölften Parteitag brauchte.« Ich war durch Kamenew davon unterrichtet
						worden, daß Lenin soeben einen Brief geschrieben hatte, in dem er alle
						kameradschaftlichen Beziehungen zu Stalin abbrach, so daß ich äußerte – Kamenew
						sollte am gleichen Tage nach Georgien abreisen, um dort an einer
						Parteikonferenz teilzunehmen –, es würde angebracht sein, Kamenew den in Rede
						stehenden Programmbrief über die nationale Frage zu unterbreiten, damit er in
						der Lage sei, alles Nötige zu veranlassen. Die Fotjewa antwortete mir: »Ich
						weiß nicht. Wladimir Iljitsch hat mich nicht beauftragt, den Genossen Kamenew
						von dem Brief in Kenntnis zu setzen, ich kann ihn aber danach fragen.« Einige
						Minuten später kam sie zurück und sagte zu mir: »Auf keinen Fall. Lenin sagt,
						daß Kamenew den Brief Stalin zeigen würde, der dann ein faules Kompromiß macht,
						um uns später reinzulegen.« »Die Dinge sind also soweit gediehen, daß Lenin es
						nicht mehr für möglich hält, mit Stalin selbst auf einer richtigen Linie ein
						Kompromiß zu schließen?« »Das stimmt. Iljitsch traut Stalin nicht. Er will sich
						vor der ganzen Partei offen gegen ihn aussprechen. Er bereitet eine Bombe vor.«
						
						Lenins Absichten waren durchaus klar. Indem er
						die Politik Stalins zum Beispiel nahm, wollte er vor der Partei (und ohne
						irgendwelche Rücksichten) die Gefahren der bürokratischen Umwandlung der Diktatur aufzeigen. Die Fotjewa kam kurze Zeit später mit
						einer anderen Botschaft Wladimir Iljitschs zurück, der – wie sie sagte –
						entschlossen war, sofort zu handeln und die – oben zitierte – Mitteilung an
						Mdiwani und Macharadse selbst geschrieben habe.
						
						»Wie erklären Sie sich diese Veränderung?« fragte
						ich die Fotjewa.
						
						»Sein Zustand wird von Stunde zu Stunde
						schlimmer«, antwortete sie, »und er will sich beeilen, noch zu tun, was er tun
						kann.«
						
						(Zwei Tage später hatte Lenin seinen dritten
						Anfall.)
						
						Auf dem Parteitag erklärte Stalin am 23. April am
						Schluß seiner Ausführungen über die nationale Frage: »Hier ist viel von
						Mitteilungen und Artikeln Wladimir Iljitschs gesprochen worden. Ich will meinen
						Lehrmeister, den Genossen Lenin, nicht zitieren, denn er ist nicht anwesend und
						ich müßte befürchten, daß ich mich nicht in korrekter und exakter Weise auf ihn
						beziehe ...«
						
						Das ist zweifellos ein Schulbeispiel
						unerhörtester Jesuiterei. Stalin wußte sehr wohl, daß Lenin über seine
						Nationalitätenpolitik empört war und nur schwere Krankheit den »Lehrmeister«
						hinderte, den »Schüler« gerade wegen dieser nationalen Frage an die Luft zu
						setzen.
						
						 
 
