Leo Trotzki: Stalin. Zwölftes Kapitel: Der Weg zur Macht
Portraits
Leo Trotzki
Lev Dawidowitsch Bronstein
Stalin
Eine Biographie
(Übersetzung N. N.)
Zwölftes
Kapitel.
Der Weg zur Macht
In der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten
Krankheitsanfall konnte Lenin nur die Hälfte seiner früheren Energie für die
Arbeit aufwenden. Sein Arteriensystem war ständigen Erschütterungen ausgesetzt,
die geringfügig zu sein schienen, in Wirklichkeit aber bedrohlich waren. Als er
sich einmal auf einer Sitzung des Politischen Büros erhob, um jemand einen
Zettel zu überreichen, taumelte er leicht. Ich bemerkte es nur, weil gleich
darauf sein Gesicht förmlich einfiel – abermals eine der zahlreichen Warnungen,
die ihm seine Lebenszentren schickten.
Lenin machte
sich keine Illusionen. Seine Hauptsorge war damals die Zukunft der Partei: wie
würde die Arbeit ohne ihn und nach ihm weitergehen? Zu jener Zeit schon formte
er im Geiste das Dokument, das später als sein Testament bekannt geworden ist.
Zur selben Zeit, einige Wochen vor dem zweiten
Anfall, hatte ich mit ihm eine bedeutsame Unterredung. Wegen der politischen
Wichtigkeit der Unterredung berichtete ich mehreren meiner Freunde von ihr; das
ist einer der Gründe dafür, daß mir das, was Lenin sagte, sehr genau in
Erinnerung geblieben ist.
Lenin hatte mich gebeten, ihn in seinem Zimmer im
Kreml zu besuchen. Er hatte, als er seine Tätigkeit wieder aufnahm,
festgestellt, daß der Bürokratismus in unserem Sowjet-»Apparat« in
erschreckendem Maße gewachsen war; dem mußte dringend Einhalt geboten werden.
Er schlug die Bildung einer besonderen Kommission des Zentralkomitees vor und
bat mich, an ihr aktiv teilzunehmen. Ich antwortete:
»Wladimir Iljitsch, ich bin überzeugt davon, daß
wir bei dem Kampf gegen den Sowjetbürokratismus nicht eine Erscheinung
übersehen dürfen, die die allgemeine Lage kennzeichnet: in der Hauptstadt und
in den Provinzen, auch in den örtlichen Parteistellen, wird eine ganz besondere
Auslese von Funktionären und Spezialisten, von Parteimitgliedern und
Parteilosen vorgenommen, die auf der Ergebenheit gegenüber gewissen
Persönlichkeiten, die in der Partei eine beherrschende Stellung einnehmen, und
gegenüber gewissen Gruppen innerhalb des Zentralkomitees selbst, basiert.
Jedesmal, wenn man einen kleinen Sekretär angreift, stößt man auf einen hohen
Parteiführer ... Ich kann also unter den gegebenen Umständen nicht an der
Kommission, von der Sie sprechen, mitarbeiten.«
Lenin blieb einen Augenblick lang nachdenklich
und sagte dann – ich zitiere ihn wörtlich –: »Mit anderen Worten, ich schlage
einen Feldzug gegen den Bürokratismus im Sowjetapparat vor und Sie schlagen mir
vor, ihn zu verbreitern und ihn auch gegen den Bürokratismus im
Organisa-tionsbüro der Partei zu führen?«
Das kam mir so unerwartet, daß ich lachen mußte:
»Nehmen wir an, es sei so!«
»Also gut«, antwortete Lenin, »ich schlage Ihnen
einen ›Block‹ vor!«
»Es ist ein Vergnügen, mit einem braven Mann
einen ›Block‹ zu bilden«, sagte ich.
Wir kamen
überein, daß Lenin die Anregung zur Schaffung einer Kommission des
Zentralkomitees vorbringen sollte, einer Kommission für den Kampf gegen den
Bürokratismus »im allgemeinen« und den des Orgbüros im besonderen. Daraufhin
trennten wir uns. Zwei Wochen vergingen. Lenins Gesundheitszustand
verschlechterte sich. Daraufhin brachten mir seine Sekretärinnen die Entwürfe
und den Brief über die nationale Frage. Dann lähmte ihn die Arterienverkalkung
monatelang, und für unsern »Block« gegen die Parteibürokratie konnte nichts
getan werden. Es ist klar, daß Lenins Plan vor allem gegen Stalin gerichtet
war, obwohl dessen Name nicht erwähnt wurde; das lag in der Linie der Gedanken
und Besorgnisse, die Lenin in seinem Testament ausdrücklich formulierte.
(Während Stalin zu jener Zeit die Zentrale
Kontrollkommission, das Organisationsbüro und das Parteisekretariat in seinen
Händen hielt, verfügte Sinowjew über die Mehrheit im Politischen Büro und im
Zentralkomitee, was ihm den ersten Platz im Triumvirat sicherte. Der Kampf
zwischen ihm und Stalin, der sich im Verborgenen abspielte, aber
nichtsdestoweniger sehr heftig war, hatte die Eroberung der Mehrheit auf dem
Parteitag zum Gegenstand. Sinowjew kontrollierte die Petrograder Organisation
völlig, sein Partner Kamenew die von Moskau. Die zwei stärksten Parteizentren
brauchten also nur die Unterstützung von einigen wenigen andern, um die
Mehrheit auf dem Parteitag zu erhalten. Diese Mehrheit war notwendig für die
Wahl des Zentralkomitees und die Annahme der für Sinowjew günstigen
Resolutionen. Sinowjew brachte jedoch diese Mehrheit nicht auf; die meisten
Parteiorganisationen, außer Moskau und Petrograd, standen unter der straffen
Kontrolle des Generalsekretärs.
Sinowjew erhob nichtsdestoweniger auf dem
Zwölften Parteitag den Anspruch, Lenins Platz einzunehmen und offen die Rolle
von Lenins Nachfolger zu spielen, indem er gleich auf der Eröffnungssitzung das
politische Referat hielt. Während der Vorbereitungen zum Parteitag war die
umstrittenste Frage die, wer dies Hauptreferat halten würde; seit der Gründung
der Partei war das immer das Vorrecht Lenins gewesen. Als sie vor dem Politbüro
gestellt wurde, sagte Stalin als erster: »Das politische Referat muß natürlich
vom Genossen Trotzky gehalten werden.«
Das konnte ich nicht annehmen, denn es hätte
meiner Auffassung nach bedeutet, daß ich mich anschickte, Lenins Nachfolge in
dem Augenblick anzutreten, wo Lenin schwer krank daniederlag.
Ich antwortete ungefähr folgendermaßen: »Es handelt sich um ein Interim; wir
hoffen, daß Lenin bald wieder hergestellt sein wird. In der Zwischenzeit muß
das Hauptreferat vom Generalsekretär gehalten werden. Das entspricht seiner
Funktion und das wird allen leeren Spekulationen den Boden entziehen. Übrigens
gibt es zwischen Ihnen und mir ernsthafte Meinungs-verschiedenheiten, besonders
in den ökonomischen Fragen, und ich bin in der Minderheit.« »Und wenn wir
annehmen würden«, fragte Stalin, »es gäbe keine Meinungsverschiedenheiten?«, um
zu verstehen zu geben, daß er bereit wäre, Konzessionen zu machen, das heißt,
ein faules Kompromiß zu schließen. Kalinin griff in das Zwiegespräch ein. »Was
für Meinungs-verschiedenheiten?«, fragte er mich; »Ihre Vorschläge werden vom
Politbüro immer angenommen.« Ich bestand weiter darauf, daß Stalin den
politischen Bericht gäbe. »Auf keinen Fall«, entgegnete er mit demonstrativer
Bescheidenheit, »das würde die Partei nicht verstehen. Das Hauptreferat muß vom
populärsten Mitglied des Zentralkomitees gehalten werden.«
(Die Frage wurde schließlich vom Zentralkomitee
entschieden, in dem Sinowjew die Mehrheit hatte. Damit sah jedes Parteimitglied
klar, daß Sinowjew nunmehr Lenins Platz an der Spitze der Partei einnahm. Der
Generalsekretär hatte nun alle Eile, seinem Mit-Triumvirn einen Knüppel
zwischen die Beine zu werfen, und Sinowjew wurde nicht mit dem üblichen Beifall
empfangen – drückendes Schweigen lastete während seiner ganzen Rede auf der
Versammlung. Das Verdikt der Delegierten war klar: Sinowjew wurde in seiner neuen
Rolle als ein Usurpator betrachtet.
(Der Zwölfte Parteitag – der eine Woche dauerte,
vom 17. bis zum 23. April 1923 – hob Stalin vom Stande der Unterordnung auf den
ersten Platz im Triumvirat. Sinowjews Mehrheit im Zentralkomitee und im
Politbüro wurde umgestoßen, Stalin gewann die Kontrolle des einen wie des
anderen. Seine Hauptleistung betraf jedoch die Zentrale Kontrollkommission und
das Netz der Kontrollkommissionen in den Provinzen. Auf dem Elften Parteitag
war Stalin der geheime Herr und Meister der Zentralen Kontrollkommission geworden,
deren Mitglieder in der Mehrzahl seine Leute waren, doch entgingen ihm die
örtlichen und Provinzkommissionen, von denen viele erst gewählt wurden, nachdem
er Generalsekretär geworden war. Stalin ging in der für ihn bezeichnenden Weise
an das Problem heran. Unter irgendeinem Vorwand wurden
solche Angelegenheiten, die der Regelung durch ihm feindliche
Kontrollkommissionen unterstanden, einfach, sobald sie an die Interessen des
Sekretariats rührten, der Zentralkommission übertragen; außerdem wurden –
überall, wo das möglich war, ohne viel Aufsehen zu erregen – diese Kommissionen
kurzerhand durch Beschluß der Zentralkommission abgeschafft.
Der auf dem Zwölften Parteitag geschlagene
Sinowjew wollte seine politische Stellung mit einem Kuhhandel wieder
aufrichten. Er schwankte zwischen zwei Plänen: erstens dem, das Sekretariat der
Partei wieder auf das alte Statut zurückzubringen, das es vom Politbüro
abhängig machte und es all der Vorrechte beraubte, die er, Sinowjew, sich
zugebilligt hatte; zweitens demjenigen, innerhalb des Sekretariats ein drei
Mitglieder starkes Sonderkollegium zu bilden, das die höchste Autorität
besitzen sollte, wobei die drei Mitglieder Stalin und Trotzky sein sollten und
entweder Kamenew, Bucharin oder Sinowjew. Eine solche Kombination sei nötig,
glaubte er, um den übermäßigen Einfluß Stalins zu mindern.
Er begann mit seinen Machenschaften in Kislowodsk
im September 1923. Woroschilow, der damals in Rostow war, erhielt eine
telegrafische Einladung. Ebenso Stalins Freund Ordschoni-kidse. Die anderen
anwesenden führenden Persönlichkeiten waren Sinowjew, Bucharin, Laschewitsch
und Jewdokimow. Sinowjew, der ein Résumé der auf der Konferenz geäußerten
Ansichten verfaßte, schrieb, daß »der Genosse Stalin mit einem Telegramm in
grobem, aber freundschaftlichem Ton antwortete ... Er traf etwas später ein,
und wir hatten mehrere Unterhaltungen. Schließlich wurde beschlossen, daß an
das Sekretariat nicht gerührt werden sollte, daß wir aber, um die
Organisationsarbeit und die politische Arbeit zu koordinieren, drei Mitglieder
des Politbüros ins Orgbüro entsenden würden. Dieser nicht sehr praktische
Vorschlag wurde vom Genossen Stalin gemacht, und wir nahmen ihn an ... Die drei
Mitglieder des Politbüros waren Trotzky, Bucharin und ich. Ich nahm an den
Sitzungen des Orgbüros, glaube ich, ein- oder zweimal teil; Bucharin und Trotzky
erschienen kein einziges Mal. Bei der ganzen Sache kam nichts heraus ...«
(In dieser Zeit spitzte sich die revolutionäre
Lage in Deutschland zu. Die Triumvirn waren aber viel zu sehr mit dem Kampf
gegen Trotzky und mit den Rivalitäten unter sich selbst beschäftigt, als daß sie dieser lebenswichtigen Frage – die damals allen
anderen voranstand – genügend Aufmerksamkeit hätten schenken können. Im
erweiterten Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, das Sinowjew
vom 12. bis zum 24. Juni in Moskau versammelte, um in der großen Linie die
künftige Tätigkeit und die Rolle festzulegen, die jeder Sektion der
Kommunistischen Internationale darin zukam, waren die Diskussionen und
Konklusionen so wirr, daß die Teilnehmer selbst nicht imstande waren anzugeben,
was für Beschlüsse gefaßt worden waren, und daß alle Beschlüsse verschieden
ausgelegt wurden. Daß die Verwirrung unter den Teilnehmern nur die
widerspiegelte, die unter den Triumvirn herrschte, wurde klar, als folgender,
am 7. August 1923 geschriebener Brief Stalins veröffentlicht wurde:)
Sollen wir Kommunisten (in der gegenwärtigen
Phase) versuchen, ohne die Sozialdemokraten die Macht zu ergreifen? Sind wir
reif genug dafür? Das ist nach meiner Ansicht die ganze Frage. Als wir die
Macht übernahmen, hatten wir in Rußland als Reserven: a) das Brot, b) konnten
wir den Bauern das ganze Land geben, c) unterstützte uns die überwiegende
Mehrheit der Arbeiterklasse, d) sympathisierten die Bauern mit uns. Die
deutschen Kommunisten haben im gegenwärtigen Augenblick nichts dergleichen.
Gewiß, sie haben in ihrer Nachbarschaft die Sowjetnation, was wir nicht hatten,
aber was können wir ihnen im gegenwärtigen Augenblick bieten? Wenn die Macht
heute in Deutschland sozusagen fallen würde und die deutschen Kommunisten sie
aufnähmen, würden sie mit Krach durchfallen. Das im ›günstigsten‹ Falle. Im
schlimmsten Fall werden sie in Stücke gehauen und zurückgeworfen werden. Die
Sache ist nicht, daß Brandler ›die Massen erziehen‹ will, die Sache ist, daß
die Bourgeoisie, und mit ihr die rechten Sozialdemokraten, bestimmt den
Unterricht – die Demonstration – in eine allgemeine Schlacht umwandeln (im
gegenwärtigen Augenblick sind alle Chancen auf ihrer Seite) und sie vernichten
werden. Gewiß, die Faschisten schlafen nicht, aber wir haben ein Interesse
daran, daß sie als erste angreifen: das wird die ganze Arbeiterklasse um die
Kommunisten scharen (Deutschland ist nicht Bulgarien). Übrigens sind unseren
Informationen nach die Faschisten in Deutschland schwach. Meiner Ansicht nach
müssen wir die Deutschen zurückhalten und sie nicht anspornen.
(Dieses jämmerliche Dokument, in dem jede Zeile
von krasser Ignoranz zeugt, stellt den Beginn von Stalins Teilnahme an den
Arbeiten der Kommunistischen Internationale dar; er hatte an keinem der
Kongresse der Internationale teilgenommen, und es ist leicht zu verstehen,
warum die Leitung der russischen Kommunistischen Partei ihn davon ferngehalten
hatte.
Daß eine unter solchen Bedingungen unternommene
revolutionäre Aktion mit einer Niederlage endete, ist nicht erstaunlich. Die
Triumvirn, die die volle Verantwortung dafür trugen, hatten jedoch keine
größere Sorge als die, einen Sündenbock zu finden und alle
Kritik von sich abzulenken. Sie brandmarkten den Mann, der damals an der Spitze
der deutschen kommunistischen Partei stand, Brandler, als »Rechten« und ließen
ihn von allen Sektionen der Kommunistischen Internationale, in der sich der »Monolithismus«
breitzumachen begann, verurteilen.
Der deutsche Fehlschlag hatte seine unmittelbaren
Nachwirkungen innerhalb der kommunistischen Partei der Sowjetunion. Die
aufrichtigen Bolschewiki waren beunruhigt, viele von ihnen verlangten mehr als
nur einen rein formalen Bericht über die Haltung, die die Parteiführer bei
dieser Gelegenheit eingenommen hatten; sie wollten die öffentliche Diskussion
dieser Probleme. Ihre erste Forderung war deshalb die Wiederherstellung des
Rechts zur Fraktionsbildung innerhalb der Partei, das 1921 vom Zehnten Parteitag
abgeschafft worden war. Die im Innern der Partei zutage tretende
Unzufriedenheit mit dem Triumvirat hatte seit dem Zwölften Parteitag
aufzuflackern begonnen; sie beschränkte sich nicht auf das Triumvirat, sie war
gegen das Zentralkomitee in seiner Gesamtheit gerichtet. Sechsundvierzig
hervorragende Bolschewiki, darunter Pjatakow, Sapronow, Serebrjakow,
Preobraschensky, Ossinsky, Drobnis, Alsky, W. M. Smirnow, veröffentlichten eine
Erklärung, in der es unter anderem hieß:)
Das Regime, das in der Partei errichtet worden
ist, ist absolut unerträglich. Es erdrückt jede Initiative im Innern der
Partei. Es ersetzt die Partei durch den Apparat ... der einigermaßen gut
funktioniert, solange alles gut geht, der aber unvermeidlicherweise in
Krisenperioden ins Schaukeln kommt und der droht, vollständigen Bankrott zu
machen, wenn er sich den schwerwiegenden Ereignissen gegenüber sehen wird, die
vor uns stehen. Die gegenwärtige Situation ergibt sich aus der Tatsache, daß
das Regime der Fraktionsdiktatur, das sich nach dem Zehnten Parteitag
entwickelte, die Periode seiner Nützlichkeit überdauert hat..
(Die Sechsundvierzig gaben sich nicht zufrieden
mit den leeren Gesten der September-Vollsitzung, die in der Partei »die
Demokratie erweitern« sollte. Es wurden Protestversammlungen organisiert, und
gegen das bürokratische Regime wurde nicht nur innerhalb der
Sowjetinstitutionen offen bemerkbar agitiert, sondern sogar in den
Parteiorganisationen. Bemüht, die wachsende Protestbewegung, die sich zu einer
vereinten Linksopposition zu entwickeln drohte, zum Scheitern zu bringen,
veröffentlichte Sinowjew im Namen des Triumvirats in der »Prawda« vom 7.
November zum Sechsten Jahrestag der bolschewistischen Revolution einen Artikel,
der die Diskussion freigab und in dem auch behauptet wurde,
in der Partei existiere eine »Arbeiterdemokratie«. Gleichzeitig mündeten die
Debatten unter den Führern schließlich in eine Resolution, die sich das
Zentralkomitee am 5. Dezember 1923 zu eigen machte, in der die Bürokratie,
besondere Vorrechte usw., verurteilt und in der die Wiederherstellung des
Rechts auf Kritik sowie einwandfreie Wahlen auf allen Gebieten feierlich
versprochen wurden. Trotzky, seit Anfang November krank und infolgedessen nicht
imstande, an der allgemeinen Diskussion teilzunehmen, fügte seine Unterschrift
zu denen der übrigen Mitglieder des Zentralkomitees.
Der interne Kampf spielte sich so vollständig im
geheimen ab, daß die Partei in ihrer Gesamtheit nicht das geringste von ihm
wußte; außer einer Handvoll Eingeweihter hielten alle Mitglieder der Partei
Trotzky für einen Verteidiger des herrschenden Systems. Deshalb entschloß sich
Trotzky, nachdem er die Resolution vom 5. Dezember unterzeichnet hatte, eine
Erklärung zu veröffentlichen, worin er seine eigene Stellungnahme präzisierte,
offen seine Befürchtungen im Hinblick auf die bürokratische Gefahr wie die Möglichkeit
einer Entartung der bolschewistischen Bewegung darstellte und die Jugend
aufrief, passiven Gehorsam, Strebertum und Servilität mit Verachtung zu
strafen.
Dieser Brief rief bei den Spitzenfunktionären
einen Entrüstungssturm hervor. Am wütendsten war Sinowjew, der, wie Bucharin
vier Jahre später enthüllte, darauf bestand, daß Trotzky verhaftet und des
Hochverrats angeklagt würde. Darüber hinaus arbeitete die Zentrale
Kontrollkommission ohne Unterbrechung weiter, obwohl die Diskussion gestattet
worden war. Die Dreizehnte Parteikonferenz, die vom 16. bis 19. Januar tagte,
um den Dreizehnten Parteitag vorzubereiten, der im Mai stattfinden sollte,
nahm, gestützt auf einen Bericht Stalins, eine Resolution an, die die
Diskussion um die Demokratie im Innern der Partei und das Auftreten Trotzkys
verurteilte, und zwar mit folgenden Worten:)
»Die von Trotzky geleitete Opposition stellt das
Losungswort auf: ›Der Parteiapparat muß zerschlagen werden!‹, und sie versucht,
das Schwergewicht des Kampfes gegen die Bürokratie im Staatsapparat auf den
Kampf gegen die ›Bürokratie‹ im Apparat der Partei zu übertragen. Solche jeder
Grundlage entbehrende Kritik und der direkte Versuch, den Parteiapparat zu
diskreditieren, können objektiv nur dazu führen, daß der Staatsapparat dem
Einfluß der Partei entzogen wird.«
(Schließlich
wurde dem immer noch kranken Trotzky vom Politbüro befohlen, sich zu einer Kur
in den Kaukasus zu begeben. Auf der Reise dorthin erhielt er ein Telegramm von
Stalin mit der Mitteilung, daß Lenin, dessen Gesundheitszustand sich erst
kürzlich noch gebessert hatte, plötzlich gestorben war.)
Politisch hatten Stalin und ich lange Zeit in
einander unversöhnlich gegenüberstehenden Lagern gestanden. In gewissen Kreisen
ist es nun aber zur Regel geworden, von meinem »Haß« gegen Stalin zu sprechen
und a priori geltend zu machen, daß alles, was ich nicht nur über den
Diktator von Moskau, sondern auch über die Sowjetunion schreibe, von diesem
Gefühl inspiriert sei. Während der zehn Jahre meines jetzigen Exils haben sich
die schreibenden Agenten des Kreml mit der allzubequemen Anspielung auf meinen
»Haß« gegen Stalin systematisch der Notwendigkeit entzogen, sachlich auf das zu
antworten, was ich über die UdSSR sage. Freud hat diese billige Sorte von
Psychoanalyse entschieden zurückgewiesen. Haß ist schließlich und endlich eine
Spielart von persönlicher Bindung. Stalin und ich aber sind durch Ereignisse
voneinander getrennt worden, die alles, was es an Persönlichem zwischen uns
gegeben haben könnte, vernichtet und zu Asche zerrieben und keinen wie immer
gearteten Rest hinterlassen haben. Im Haß steckt ein Stück Neid. Für mich
bedeutet, geistig und gefühlsmäßig, Stalins beispielloser Aufstieg den
allertiefsten Sturz. Stalin ist mein Feind. Aber Hitler ist auch mein Feind und
ebenso Mussolini und ebenso viele andere. Heute hasse ich Stalin so wenig, wie
ich Hitler, Franco oder den Mikado hasse. Ich bemühe mich vor allem darum, sie
zu verstehen – um für den Kampf gegen sie besser gerüstet zu sein. Allgemein
gesprochen ist in historisch bedeutenden Fragen der persönliche Haß ein
minderwertiges und verächtliches Gefühl. Es degradiert nicht nur, es macht
blind. Im Lichte der Ereignisse, die sich neuerdings in der Welt und auch in
der Sowjetunion abgespielt haben, haben sich selbst viele meiner Gegner davon
überzeugen müssen, daß ich so blind nicht war: diejenigen meiner Voraussagen,
die am wenigsten plausibel schienen, haben sich als richtig herausgestellt.
Diese einführenden Zeilen pro domo sua
sind um so notwendiger, als ich nunmehr zu einem besonders heiklen Thema komme.
Ich bin bemüht gewesen, die für Stalin allgemein charakteristischen Züge auf
der Grundlage aufmerksamer Beobachtung und peinlich genauen Studiums seiner
Biographie aufzuzeigen. Ich leugne nicht, daß das Porträt,
das dabei zustande kam, düster und sogar furchtbar ist. Ich fordere jedoch
jedermann auf, ein anderes an die Stelle dieses Porträts zu setzen, ein
menschlicheres Antlitz hinter den Dingen zu finden, die das
Vorstellungsvermögen der Menschheit in den eben vergangenen Jahren verletzt
haben, hinter den Massen-»Säuberungen«, den beispiellosen Anklagen, den
phantastischen Prozessen, der Ausrottung einer ganzen Generation von
Revolutionären und schließlich den kürzlichen Machenschaften in der
Weltpolitik.
Ich werde jetzt recht außergewöhnliche Tatsachen
beibringen sowie Gedanken und Vermutungen, die zu ihnen gehören – zum Thema:
Wie ein Provinzrevolutionär Diktator eines großen Landes wurde. Die Gedanken
und Vermutungen sind mir nicht mit einem Schlage gekommen. Sie sind langsam
gereift, und jedesmal wenn sie mir in vergangenen Zeiten in den Sinn kamen,
habe ich sie als das Produkt übertriebenen Mißtrauens zurückgewiesen. Aber die
»Moskauer Prozesse« – die ein diabolisches Knäuel freilegten von Intrigen, Erdichtungen,
Fälschungen, Vergiftungen und Morden, ausgegangen vom Kreml-Diktator – haben
auf die früheren Jahre einen düsteren Schein geworfen. Ich begann mich mit
wachsendem Nachdruck zu fragen: Was war Stalins wirkliche Rolle zur Zeit von
Lenins Krankheit? Hat der »Schüler« nichts getan, um des »Lehrers« Tod zu
beschleunigen?
Von der Ungeheuerlichkeit eines solchen Verdachts
lege ich mir besser als irgendjemand sonst Rechenschaft ab. Was aber tun, wenn
er aus den Umständen, aus Tatsachen, aus Stalins eigenem Charakter aufsteigt?
Lenin hatte, seinen Befürchtungen Ausdruck gebend, 1922 gewarnt: »Dieser Koch
wird nur scharfe Suppen kochen!« Die Suppen sollten aber nicht nur scharf
gewürzt sein, sondern vergiftet, und das nicht nur im übertragenen, sondern im
wörtlichen Sinn. 1937 schrieb ich zum erstenmal Tatsachen nieder, die zu ihrer
Zeit (1923 – 1924) nur sieben oder acht Personen, und auch nur teilweise,
bekannt waren. Von diesen Leuten befinden sich außer mir selbst nur noch Stalin
und Molotow unter den Lebenden. Die beiden letzteren aber – vorausgesetzt, daß
Molotow unter den Eingeweihten war, wessen ich nicht sicher bin – haben keinen
Grund, sich zu dem zu bekennen, was ich jetzt berichten will. Ich muß noch
hinzufügen, daß jede von mir erwähnte Tatsache, jeder Hinweis, jedes Zitat,
entweder durch offizielle sowjetische Veröffentlichungen bestätigt werden kann
oder durch Dokumente, die in meinen Archiven aufbewahrt
werden. Ich habe Gelegenheit gehabt, mündliche und schriftliche Erklärungen vor
der von John Dewey präsidierten Untersuchungskommission über die Moskauer
Prozesse abzugeben, und nicht eins von den Hunderten von Dokumenten und
Zitaten, die ich vorgelegt habe, ist jemals angefochten worden.
Die in den letzten Jahren angefertigte
Ikonographie, reich an Quantität (über die Qualität wollen wir schweigen),
zeigt beständig Lenin in Gesellschaft Stalins. Sie sitzen, einer des anderen
Rat hörend, Seite an Seite, und sehen einander freundschaftlich an. Dies
aufdringliche Motiv, in der Malerei, in der Bildhauerei, auf der Kinoleinwand
immer wieder dargeboten, entspringt dem Wunsch, die Tatsache vergessen zu
machen, daß die letzte Lebensperiode Lenins unter dem Zeichen eines heftigen
Konfliktes zwischen ihm und Stalin stand, eines Konfliktes, der mit dem
vollständigen Bruch endete. Wie immer war auch hier absolut nichts Persönliches
in der Feindschaft Lenins gegen Stalin. Lenin schätzte gewisse Züge Stalins
sicher hoch ein, so seine Entschlossenheit, seine Hartnäckigkeit und selbst
Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit – in Kämpfen unentbehrliche und deshalb
dem Hauptquartier der Partei nutzbringende Eigenschaften. Mit der Zeit aber zog
Stalin wachsenden Vorteil aus den günstigen Gelegenheiten, die sein Posten für
die Rekrutierung ihm persönlich ergebener Männer bot, um sich an seinen Gegnern
zu rächen. 1919 war ihm die Leitung des Kommissariats der Arbeiter- und
Bauerninspektion übertragen worden – Stalin wandelte sie nach und nach in ein
Instrument der Günstlingswirtschaft und der Intrigen um. Aus dem
Generalsekretariat der Partei machte er eine unerschöpfliche Quelle für
Begünstigungen und Pfründen. In gleicher Weise mißbrauchte er seine Stellung
als Mitglied des Organisationsbüros und des Politischen Büros für persönliche
Zwecke. In allen seinen Handlungen war ein persönliches Motiv zu erkennen. Nach
und nach überzeugte sich Lenin davon, daß gewisse Züge Stalins, durch den
Parteiapparat multipliziert, direkt schädlich waren. So reifte sein Entschluß,
Stalin aus dem Apparat zu entfernen und ihn wieder zu einem einfachen Mitglied
des Zentralkomitees zu machen. Nichts ist heute in der Sowjetunion in höherem
Maße tabu, als die Briefe Lenins aus jener Zeit. Glücklicherweise habe ich von
einer gewissen Anzahl davon Durchschläge und Fotokopien in meinen Archiven;
einige habe ich schon veröffentlicht.
Lenins
Gesundheitszustand verschlimmerte sich plötzlich gegen Ende 1921. Den ersten
Anfall erlitt er im Mai des folgenden Jahres. Zwei Monate lang war er nicht
imstande, sich zu bewegen, zu sprechen oder zu schreiben. Anfang Juli begann
langsam die Genesung. Als er im Oktober in den Kreml zurückkehren und seine
Arbeit wieder aufnehmen konnte, war er förmlich erschüttert über das Ausmaß,
das Bürokratie, Willkür und Intrigantentum in den Partei- und
Regierungskörperschaften angenommen hatten. Im Dezember eröffnete er das Feuer
gegen Stalin wegen der Verfolgungen, denen die nationalen Minderheiten
ausgesetzt waren und besonders wegen der Politik, die Stalin Georgien gegenüber
durchsetzen wollte, wo der Autorität des Generalsekretärs öffentlich die Stirn
geboten wurde. Er griff Stalin in der Frage des Außenhandelsmonopols an und
bereitete, für den nächsten Parteitag eine Rede vor, die seine Sekretärinnen,
seinen eigenen Worten zufolge, als »eine Bombe gegen Stalin« bezeichneten. Am
23. Januar legte er zum großen Schrecken des Generalsekretärs ein Projekt zur
Schaffung einer Arbeiter-Kontrollkommission vor, die der Allmacht der
Bürokratie ein Ende bereiten sollte. »Sprechen wir frei und offen«, schrieb
Lenin am 2. März, »das Kommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion genießt
heute nicht die geringste Autorität ... Es gibt bei uns keine schlimmere
Institution als die Arbeiter- und Bauerninspektion.« An der Spitze dieser
Inspektion aber stand Stalin. Er wußte, was solche Sprache zu bedeuten hatte.
Mitte Dezember 1922 verschlechterte sich Lenins
Gesundheitszustand von neuem. Er konnte an den Konferenzen nicht teilnehmen,
blieb aber mit dem Zentralkomitee durch schriftliche Mitteilungen und
Telefongespräche in Verbindung. Stalin nützte die Situation sogleich aus, indem
er einen großen Teil der im Parteisekretariat zusammenlaufenden Informationen
Lenin vorenthielt. Er unternahm alles, um Lenin zu isolieren und die ihm
Nahestehenden nicht zu ihm gelangen zu lassen. Die Krupskaja tat, was sie
konnte, um den Kranken vor diesen feindseligen Machenschaften zu schützen.
Lenin war jedoch imstande, sich einen Gesamtüberblick über die Lage mit Hilfe
bloß zufälliger und kaum wahrnehmbarer Anzeichen zu verschaffen. »Bewahren Sie
ihn vor allen Sorgen!«, betonten die Ärzte. Das war leichter gesagt als getan.
Ans Bett gefesselt und von der Außenwelt abgeschnitten, wurde Lenin ein Opfer
der Besorgnis und des Unwillens, deren Hauptursache Stalin war, der sich um so
schamloser aufführte, je beunruhigender die ärztlichen Bulletins
wurden. In diesen Tagen war Stalin mürrisch, die Tabakpfeife fest zwischen die
Zähne geklemmt, einen düsteren Schimmer in den gelblichen Augen, brummend statt
antwortend. Sein Schicksal stand auf dem Spiel. Er war entschlossen, alle
Hindernisse zu überwinden. Damals fand der endgültige Bruch zwischen Lenin und
ihm statt.
Der Stalin sehr freundlich gesonnene ehemalige
Diplomat Dmitrijewsky berichtet, was man in der Umgebung des Generalsekretärs
über diese dramatische Episode sagte: »Als ihm die Krupskaja, deren ständige
Beschwerden ihn ärgerten, wieder einmal telefonierte, um eine Information zu
erhalten ... antwortete Stalin mit beleidigenden Ausdrücken. Die Krupskaja
lief, mit Tränen in den Augen, sofort zu Lenin, um sich zu beschweren. Lenin,
dessen Nerven durch die Intrigen schon aufs höchste gespannt waren, konnte nicht
mehr an sich halten. Krupskaja schickte den Brief, der den Bruch vollzog,
gleich an Stalin. ... ›Sie kennen doch aber Wladimir Iljitsch‹, sagte die
Krupskaja triumphierend zu Kamenew, ›er wäre nie bis zum Abbruch aller
persönlichen Beziehungen gegangen, hätte er nicht geglaubt, daß es notwendig
sei, Stalin politisch zu vernichten‹«
Was hier wiedergegeben ist, hat die Krupskaja
tatsächlich gesagt, aber keineswegs in triumphierendem Ton; im Gegenteil, diese
stets aufrichtige und fein empfindende Frau war voller Kummer und
Befürchtungen. Auch ist nicht richtig, daß sie sich über Stalin »beschwerte«,
sie war im Gegenteil stets nach Kräften bemüht, als »Puffer« zu dienen. Sie
konnte jedoch Lenin auf seine dringlichen Fragen nicht mehr antworten, als ihr
der Generalsekretär hatte mitteilen wollen, und der hielt die wichtigsten
Informationen zurück. Der den Bruch vollziehende Brief oder vielmehr die wenige
Zeilen lange Mitteilung vom 6. März, die einer vertrauenswürdigen Sekretärin
diktiert worden war, kündigte in dürren Worten den Abbruch »jeder persönlichen
und kameradschaftlichen Beziehung mit Stalin« an. Dieser kurze Brief ist Lenins
letzter Text und auch die Endsumme seiner Beziehungen zu Stalin. Dann kam der
schlimmste Anfall und der Verlust des Sprachvermögens.
Ein Jahr später, als Lenin schon einbalsamiert in
seinem Mausoleum lag, wurde die Verantwortung für den Bruch, wie aus
Dmitrijewskys Bericht klar hervorgeht, offen der Krupskaja zugeschoben. Stalin
beschuldigte sie, gegen ihn »intrigiert« zu haben.
Jaroslawsky, der für gewöhnlich die zweifelhaften Aufträge Stalins übernahm,
sagte im Juli 1926 auf einer Sitzung des Zentralkomitees: »So tief sind sie
gesunken, daß sie nicht davor zurückschreckten, den kranken Lenin aufzuregen
mit ihren Jeremiaden, daß sie von Stalin beleidigt worden wären. Welche
Schande, persönliche Dinge mit politischen Angelegenheiten von entscheidendster
Bedeutung zu vermengen!« »Sie«, das war die Krupskaja. So rächte man sich an
ihr für Lenins Affront gegenüber Stalin. Sie sprach mir zu verschiedenen Malen
von dem tiefen Mißtrauen, das Lenin in den letzten Monaten seines Lebens Stalin
gegenüber hatte: »Wolodja sagte zu mir, ›er‹ (seinen Namen sprach sie nicht
aus, sondern deutete mit dem Kopf in die Richtung der Wohnung Stalins) sei bar
der elementarsten Ehrlichkeit, der einfachsten menschlichen Ehrlichkeit ...«
Lenins »Testament« – das heißt, seine letzten
Ratschläge für die Zusammenstellung der Parteiführung – wurde an zwei
verschiedenen Tagen während der zweiten Krankheitsperiode niedergeschrieben, am
25. Dezember 1922 und am 4. Januar 1923. »Dadurch, daß Stalin Generalsekretär
geworden ist«, heißt es im Testament, »hat er in seinen Händen eine gewaltige
Macht konzentriert, und ich bin nicht davon überzeugt, daß er von ihr immer mit
genügender Vorsicht Gebrauch machen wird.« Zehn Tage später erschien Lenin diese
reservierte Formulierung als nicht ausreichend, und er fügte ein Postskriptum
hinzu: »Ich schlage den Genossen vor, einen Weg zu finden, um Stalin von diesem
Posten zu entfernen und statt seiner einen Mann zu ernennen, der dem Genossen
Stalin in jeder Beziehung überlegen ist, das heißt, der geduldiger ist,
loyaler, höflicher und aufmerksamer den Genossen gegenüber, weniger launisch
usw.« Lenin war bemüht, seine Einschätzung Stalins in möglichst inoffensiven
Worten auszudrücken, aber er unterstrich die Notwendigkeit, ihn von dem
einzigen Posten zu entfernen, der ihm außergewöhnliche Machtbefugnisse verlieh.
Nach allem, was in den voraufgegangenen Monaten
geschehen war, konnte das »Testament« für Stalin keine Überraschung bedeuten.
Nichtsdestoweniger traf es ihn wie ein furchtbarer Schlag. Als er diesen Text –
den ihm die Krupskaja für den bevorstehenden Parteitag übermittelt hatte – zum
erstenmal las, und zwar in Gegenwart seines Sekretärs Mechlis, des späteren
politischen Leiters der Roten Armee, und eines anderen führenden
Parteimitglieds, Syrtsow, der inzwischen von der Bildfläche verschwunden ist, brach er in unflätige Verwünschungen aus, die seine
wahren Gefühle für den »Lehrer« aufdeckten. Bajanow, ein anderer ehemaliger
Sekretär Stalins, hat die Sitzung des Zentralkomitees beschrieben, auf der
Kamenew das Testament verlas: »Eine schreckliche Verlegenheit lähmte alle
Anwesenden. Stalin, der auf den Stufen der Rednertribüne saß, fühlte sich klein
und elend. Ich beobachtete ihn aufmerksam. Trotz seiner Kaltblütigkeit und
äußerlichen Ruhe sah man ihm an, daß er wußte, daß es jetzt um sein Schicksal
ging ...« Radek, der auf dieser denkwürdigen Sitzung neben mir saß, neigte sich
zu mir und sagte: »Jetzt wird man nichts mehr gegen Sie zu unternehmen wagen!«
Er dachte an zwei Stellen im Testament, eine, in der ich als der »fähigste Mann
im gegenwärtigen Zentralkomitee« bezeichnet wurde und die, die Stalins
Entfernung vom Posten des Generalsekretärs verlangte, wegen seiner Grobheit,
seiner Unaufrichtigkeit und seiner Neigung, die Macht zu mißbrauchen. Ich
antwortete Radek: »Im Gegenteil, jetzt werden sie aufs Ganze gehen wollen und
sogar so schnell wie möglich.« In der Tat setzte das Testament dem internen
Kampf kein Ende – wie Lenin das gewollt hatte –, sondern steigerte ihn bis zum
höchsten Grade. Stalin konnte nicht mehr daran zweifeln, daß es den politischen
Tod des Generalsekretärs bedeutete, wenn Lenin je seine Tätigkeit wieder
aufnehmen würde. Umgekehrt, nur Lenins Tod konnte den Weg für Stalin freilegen.
Auf einer Sitzung des Politischen Büros, gegen
Ende Februar 1923 als Lenin das zweite Mal krank war – und an der Sinowjew,
Kamenew und der Verfasser dieser Zeilen teilnahmen, sagte uns Stalin, nach
Weggang des Sekretärs, Lenin habe ihn plötzlich rufen lassen und Gift von ihm
verlangt. Lenin hatte abermals das Sprachvermögen verloren, er hielt seinen
Zustand für hoffnungslos, sah einen neuen Anfall kommen und traute seinen
Ärzten nicht, die er des öfteren bei Widersprüchen ertappt hatte. Bei völliger
geistiger Klarheit litt er unerträgliche Schmerzen. Mir war es möglich, die
Entwicklung von Lenins Krankheit von Tag zu Tag zu verfolgen, da wir denselben
Arzt hatten, den mit unserer Familie befreundeten Dr. Guétier.
»Ist es möglich, Fedor Alexandrowitsch, daß es zu
Ende geht ?«Beklommen stellten meine Frau und ich wieder und wieder diese
Frage.
»Das ist unmöglich zu sagen. Wladimir Iljitsch
kann wieder auf die Beine kommen. Er hat eine glänzende Konstitution.«
»Und seine geistigen Fähigkeiten?«
»Im
wesentlichen werden sie intakt bleiben. Nicht jeder seiner Sätze wird die
frühere Reinheit haben, aber der Virtuose bleibt ein Virtuose.«
Wir hofften weiter. Mit einem Mal stand ich nun
ganz unerwarteterweise der Eröffnung gegenüber, daß Lenin, die Inkarnation des
Willens zum Leben, Gift für sich verlangte. Was für innere Kämpfe hatte er
durchstehen müssen!
Ich entsinne mich, wie sehr mir Stalins
Gesichtsausdruck ungewöhnlich, rätselhaft und durchaus nicht den Umständen
entsprechend vorkam. Das Verlangen, das er uns übermittelte, war tragisch;
dennoch klebte ein unreines Lächeln an seinem maskenhaften Gesicht. Solch
Mißverhältnis zwischen seinen Worten und dem, was seine Züge ausdrückten, war
uns an ihm nicht neu; diesmal aber war es einfach unerträglich. Das
Widerwärtige an dieser Diskrepanz wurde noch dadurch gesteigert, daß sich
Stalin jeder Meinungsäußerung über Lenins Verlangen enthielt, als wolle er
abwarten, was die anderen sagen würden: wollte er erst sehen, wie unsere
Reaktion sein würde, ohne selbst Stellung zu nehmen, oder hatte er seine
Hintergedanken? ... Ich sehe noch Kamenew vor mir, bleich und schweigend – er
schätzte Lenin aufrichtig – und Sinowjew, bestürzt, wie immer in schwierigen
Augenblicken. Hatten sie schon vor der Sitzung etwas gewußt? Oder präsentierte
Stalin seine trübe Nachricht den Verbündeten vom Triumvirat ebenso überraschend
wie mir?
»Schon der bloße Gedanke daran, dies Verlangen zu
erfüllen, ist unzulässig!«, rief ich aus.
»Guétier hat nicht alle Hoffnung
aufgegeben. Lenin kann wiederhergestellt werden.«
»Das alles habe ich ihm gesagt«, antwortete
Stalin mit einem gewissen Widerwillen, »aber er wollte nichts davon hören. Der
Alte leidet. Er muß das Gift in Reichweite haben ... nehmen wird er es nur,
wenn er überzeugt davon ist, daß sein Zustand hoffnungslos ist.«
»Das kommt auf keinen Fall in Frage«, betonte
ich, und wurde diesmal, glaube ich, von Sinowjew unterstützt; »er könnte einer
vorübergehenden Krise nachgeben und einen nicht wieder gutzumachenden Schritt
tun.«
»Der Alte leidet«, wiederholte Stalin; er starrte
blicklos über unsere Köpfe hinweg und sprach sich wie zuvor weder in dem einen
noch in dem anderen Sinne aus. Sein Gedankengang folgte offenbar einer Linie,
die mit der unserer Unterhaltung parallel lief, ohne aber mit ihr
übereinzustimmen.
Es ist
zweifellos möglich, daß die späteren Ereignisse gewisse Details meiner
Erinnerungen beeinflußt haben, obschon ich mich im allgemeinen auf mein
Gedächtnis verlassen kann. Dieser Auftritt jedoch hat in mir einen
unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. In meiner Wohnung angekommen, beschrieb
ich ihn in allen Einzelheiten meiner Frau. Und so oft ich ihn mir seither
wieder vor Augen geführt habe, konnte ich nicht umhin, mir zu sagen: Stalins
Verhalten, seine ganze Art, war beunruhigend und unheilkündend. Was wollte
dieser Mensch? Warum dieses hinterlistige Lächeln auf seinem Gesicht? Ein
Beschluß wurde, da es sich nicht um eine regelrechte Sitzung, sondern um eine
Privatbesprechung handelte, nicht gefaßt, doch gingen wir in schweigendem
Einverständnis darüber auseinander, daß selbst der Gedanke, Lenin Gift zu
übergeben, aus unserem Gedächtnis zu löschen sei.
Hier stellte sich natürlich eine Frage: wieso und
warum wandte sich Lenin, der Stalin zu der Zeit aufs äußerste mißtraute, an ihn
mit einem Verlangen, das schon als solches größtes persönliches Vertrauen
voraussetzte? Einen Monat vorher hatte Lenin das unerbittliche Postskriptum
unter sein Testament gesetzt. Und einige Tage nach Stalins Besuch bei ihm brach
er alle Beziehungen zu ihm ab. Stalin wird nicht umhin gekonnt haben, sich
selbst zu fragen: warum wendet sich Lenin gerade an mich? Die Antwort ist einfach:
Lenin sah in Stalin den einzigen, der ihm diese tragische Bitte erfüllen würde,
weil er ein direktes Interesse daran hatte, es zu tun. Mit seinem untrüglichen
Instinkt erriet der Kranke, was innerhalb und außerhalb der Kremlmauern vorging
und was Stalins wirkliche Gefühle ihm gegenüber waren. Lenin brauchte nicht
erst die Reihe seiner nächsten Kampfgenossen durchzugehen, um davon überzeugt
zu sein, daß auch nicht einer, Stalin ausgenommen, ihm diese »Gunst« erweisen
würde. Gleichzeitig ist möglich, daß er Stalin auf die Probe stellen wollte,
daß er wissen wollte, inwieweit der Koch der scharfen Suppen von der
Gelegenheit Gebrauch machen würde. Lenin dachte in diesen Tagen nicht nur an
den Tod, sondern auch an das Schicksal der Partei. Seine revolutionäre Ader
hörte unzweifelhaft als letzte zu pulsen auf.
Als noch sehr junger Mensch hatte Koba im
Gefängnis in hinterhältiger Weise hitzköpfige Kaukasier gegen seine Widersacher
aufgehetzt: gewöhnlich endete so etwas mit einer Schlägerei, einmal
sogar mit einem Mord. Mit der Zeit hatte er seine Technik vervollkommnet. Der
allmächtige Parteiapparat, kombiniert mit der totalitären Staatsmaschine,
eröffnete ihm Möglichkeiten, die sich selbst sein Vorläufer Cäsar Borgia nicht
hätte träumen lassen. Das Büro, in dem die Untersuchungsrichter der GPU ihre
inquisitorischen Verhöre vornehmen, ist durch ein Mikrophon mit Stalins Büro
verbunden. Der unsichtbare Josef Dschugaschwili, die Pfeife zwischen den
Zähnen, folgt eifrig dem von ihm selbst vorbereiteten Dialog, reibt sich die
Hände und lächelt schweigend. Mehr als zehn Jahre vor den berüchtigten Moskauer
Prozessen hatte er Kamenew und Dzerschinsky an einem Sommerabend in den Ferien,
bei einer Flasche Wein, anvertraut, daß es seine höchste Freude im Leben wäre,
einen Feind auszuwählen, alles sorgfältig vorzubereiten, um unbarmherzige Rache
zu üben und dann schlafen zu gehen. So sollte er sich später an einer ganzen
Generation von Bolschewiki rächen! Es erübrigt sich, hier auf die Gerichts- und
Polizeikomplotte von Moskau zurückzukommen – das Urteil, das seinerzeit über sie
gefällt worden ist, war sowohl maßgeblich wie erschöpfend. Siehe: »The Case of
Leon Trotsky«, Report of Hearings on the Charges Made Against Him in the Moscow
Trials, by the Preliminary Commission of Inquiry, John Dewey, Chairman, and
others. Harper and Brothers, New York and London, 1937, Seite 617 ff.
»Not Guilty«, Report of the Commission of Inquiry Into the Charges made against
Leon Trotsky in the Moscow Trials, by John Dewey, Chairman and others. Harper
and Brothers, New York and London, 1938, Seite 422 ff. Für das Verständnis des
wirklichen Stalin und seines Verhaltens in den Tagen von Lenins Krankheit und
Tod ist es aber erforderlich, hier einige Episoden des letzten der großen
Prozesse, der im März 1938 begann, zu beleuchten.
Einen besonderen Platz auf der Anklagebank nahm
Heinrich Jagoda ein, der sechzehn Jahre lang in der Tscheka und der GPU
gearbeitet hatte, zuerst als Chef-Stellvertreter, später als Oberster Leiter –
stets in engstem Kontakt mit dem Generalsekretär, der in ihm seinen
zuverlässigsten Gehilfen im Kampf gegen die Opposition fand. Das System der
Geständnisse von Verbrechen, die nie begangen worden sind, ist von Jagoda
ausgearbeitet, wenn auch nicht von ihm ausgedacht worden. 1933 belohnte Stalin
ihn, indem er ihn mit dem Lenin-Orden dekorierte, 1935 verlieh er ihm den Rang
eines Generalkommissars für Staatssicherheit, das heißt, den eines Marschalls
der Politischen Polizei, zwei Tage nur nachdem der brillante Tuchatschewsky zum
Marschall der Roten Armee aufgestiegen war. In der Person Jagodas war eine Null
befördert worden, jedem als solche bekannt und von allen
verachtet; die alten Revolutionäre werden empörte Blicke gewechselt haben.
Selbst innerhalb des diensteifrigen Politbüros wurde der Versuch gemacht, dagegen
zu opponieren. Doch Stalin war an Jagoda durch einige Geheimnisse gebunden, und
zwar, so schien es, für immer. Das mysteriöse Band riß jedoch auf mysteriöse
Weise. Bei der großen »Säuberung« entschloß sich Stalin, zugleich den Komplicen
zu liquidieren, der zuviel wußte. Im April 1937 wurde Jagoda verhaftet. Wie
immer war Stalin darauf bedacht, sich mehrere zusätzliche Vorteile zu sichern:
gegen das Versprechen einer Begnadigung willigte Jagoda ein, auf dem Prozeß die
Verantwortung für die Verbrechen zu übernehmen, die das Gerücht Stalin
zugeschrieben hatte. Natürlich wurde das Versprechen nicht gehalten: Jagoda
wurde hingerichtet, damit auch der rechte Beweis dafür geliefert würde, daß
Stalin und Moral miteinander unvereinbar sind. Doch gelangten auf dem Prozeß
höchst aufschlußreiche Umstände an die Öffentlichkeit. Der Zeugenaussage seines
Sekretärs und Vertrauten Bulanow nach, besaß Jagoda einen besonderen
Giftschrank, welchem er gegebenenfalls die kostbaren Phiolen entnahm, um sie
mit den entsprechenden Instruktionen seinen Agenten anzuvertrauen. Als früherer
Apotheker interessierte sich das Oberhaupt der GPU für Gifte ganz besonders; er
hatte mehrere Toxikologen in seinen Diensten, für die er ein besonderes
Laboratorium eingerichtet hatte und die unkontrolliert über unbegrenzte Mittel
verfügten. Es ist natürlich ausgeschlossen, daß Jagoda ein solches Unternehmen
nur für seine persönlichen Zwecke gründen konnte. Im Gegenteil! Hier wie in
anderen Fällen übte er lediglich seine offiziellen Funktionen aus. Als
Giftmischer war er bloß instrumentum regni, so wie es die alte Lokusta
an Neros Hof gewesen war – mit dem Unterschied, daß er seine Vorgängerin im
Technischen weit hinter sich ließ.
An der Seite Jogadas saßen die vier Kremlärzte
auf der Anklagebank, die des Mordes an Maxim Gorki und an zwei
Regierungsmitgliedern beschuldigt wurden. »Ich gestehe, daß ... ich Arzneien
verschrieben habe, die bei dieser Krankheit unangebracht sind ...« Also: »Ich
bin verantwortlich für den vorzeitigen Tod von Maxim Gorki und Kuibyschew.« In
den Tagen, als sich dieser Prozeß abspielte, dessen Untergrund aus Fälschungen
bestand, erschien mir alles, die Anklage wie das Geständnis, den alten und
kranken Schriftsteller vergiftet zu haben, als phantastisch. Spätere
Informationen und eine aufmerksamere Analyse der Umstände
bewogen mich, mein Urteil zu ändern. Alles an diesem Prozeß war nicht Lüge. Es
gab Vergiftete und Giftmischer, und alle Giftmischer saßen nicht auf der
Anklagebank. Der Hauptgiftmischer leitete telefonisch den Prozeß.
Gorki war weder ein Konspirator noch ein
Politiker. Er war ein weichherziger alter Mann, ein Verteidiger der
Erniedrigten, ein sentimentaler Protestler. Das war seine Rolle in den ersten
Tagen der Oktoberrevolution gewesen. In der Zeit der Hungersnot während des
ersten und des zweiten Fünfjahrplans war die Unzufriedenheit außerordentlich,
und die Unterdrückung kannte keine Grenzen. Die Höflinge protestierten. Selbst
Stalins Frau, die Allilujewa, protestierte. In solcher Atmosphäre war Gorki
eine ernstliche Gefahr. Er korrespondierte mit europäischen Schriftstellern,
Ausländer kamen zu ihm zu Besuch, die Opfer wandten sich an ihn, er formte die
öffentliche Meinung. Noch weit unmöglicher wäre es Gorki aber gewesen, der
Ausrottung der alten Bolschewiki zuzustimmen, die Stalin vorbereitete; Gorki
hatte zu den alten Bolschewiki jahrelang in nahen Beziehungen gestanden. Ein
öffentlicher Protest Gorkis gegen die Polizeikomplotte hätte in den Augen der
ganzen Welt sofort den hypnotischen Zauber der Stalinschen Justiz gebrochen.
Ihn zum Schweigen zu veranlassen, daran war nicht
zu denken. Ihn zu verhaften, auszuweisen, gar ihn hinzurichten, war noch
weniger vorstellbar. Die Idee, sein Ende mit Hilfe Jagodas und »ohne
Blutvergießen« zu beschleunigen, mußte dem Diktator vom Kreml als der unter den
gegebenen Umständen einzig mögliche Ausweg erscheinen. Stalins Gemüt ist so
beschaffen, daß sich ihm solche Entschlüsse mit der Durchschlagskraft von
Reflexen aufdrängen. Nachdem er den Auftrag übernommen hatte, wandte sich
Jagoda an seine »eigenen« Mediziner. Er riskierte nichts. Eine Weigerung hätte,
Dr. Lewins Worten nach, »den Ruin für mich und meine Familie bedeutet«.
Außerdem »ist es vollständig ausgeschlossen, Jagoda zu entkommen. Er ist ein
Mensch, der vor nichts zurückschreckt. Der kriegt einen, und wenn man sich
unter der Erde versteckt«.
Warum aber beschwerten sich die autorisierten und
respektierten Kremlärzte nicht bei den Mitgliedern der Regierung, die sie alle
gut kannten, waren es doch ihre Patienten? Allein auf der Liste Dr. Lewins
stehen vierundzwanzig Funktionäre von höchstem Rang, darunter Mitglieder des
Politischen Büros und des Rates der Volkskommissare. Die Antwort lautet, daß
Dr. Lewin genau so gut wußte, wie jeder andere innerhalb
und außerhalb des Kremls, wessen Agent Jagoda war. Dr. Lewin unterwarf sich
Jagoda, weil er gegen Stalin machtlos war.
Was Gorkis Unzufriedenheit betrifft, seine
Bemühungen um eine Reise ins Ausland, Stalins Weigerung, ihm einen Paß
ausstellen zu lassen – so war das bekannt und wurde im Flüsterton diskutiert.
Gleich nach dem Tode des großen Schriftstellers tauchte der Verdacht auf, daß
Stalin den zerstörerischen Kräften der Natur Vorschub geleistet habe. Einer der
Gründe für den Prozeß war, Stalin von diesem Verdacht reinzuwaschen. Daher die
wiederholten Bekundungen Jagodas, der Ärzte und der anderen Angeklagten, daß Gorki
»ein intimer Freund Stalins« gewesen sei, »ein zuverlässiger Freund«, »ein
Stalinist«, daß er die Politik des »Führers« vollkommen gebilligt und »mit
ungewöhnlichem Enthusiasmus« von Stalins Rolle gesprochen habe. Wenn nur die
Hälfte davon wahr wäre, hätte Jagoda es nie auf sich genommen, Gorki
umzubringen und noch viel weniger hätte er gewagt, einen Kremlarzt mit einem
solchen Werk zu beauftragen, der sich seiner hätte mit einem einfachen Anruf
bei Stalin entledigen können.
Das ist nur ein »Detail« aus einem einzigen
Prozeß. Und es gab viele Prozesse und zahlreiche »Details«. Alle tragen sie den
unverwischbaren Stempel Stalins. Im Grunde ist alles sein Werk. In seinem Büro
auf und ab wandernd, studiert er aufs genaueste die verschiedensten Pläne, mit
denen er irgendeinen, der ihm mißfällt, auf die unterste Stufe der Demütigung
hinunterbringen kann, zur verlogenen Denunziation seiner besten Freunde, zum
schrecklichsten, zum Selbstverrat. Für den, der trotz alledem widersteht, ist
immer eine kleine Phiole bereit. Nur Jagoda ist verschwunden, sein Giftschrank
ist geblieben.
In dem Prozeß von 1938 klagte Stalin ganz
nebenbei Bucharin an, im Jahre 1918 ein Attentat auf Lenin geplant zu haben.
Der naive und feurige Bucharin verehrte Lenin, liebte ihn, wie ein Kind seine
Mutter liebt, und bewahrte, wenn er mit ihm polemisierte, stets die kniefällige
Haltung des Schülers. Bucharin, »weich wie Wachs«, um Lenins Ausdruck zu
gebrauchen, hatte und konnte keine persönlichen Ambitionen haben. Wenn jemand
vor der Stalinschen Ära vorausgesagt hätte, daß ein Tag kommen würde, wo
Bucharin des Mordversuchs an Lenin angeklagt werde, dann hätten wir alle
gelacht und Lenin mehr als jeder andere – er hätte vorgeschlagen, einen solchen
Propheten ins Irrenhaus zu stecken. Warum also greift
Stalin zu einer so ganz offensichtlich absurden Anschuldigung? Die Vermutung,
die die höchste Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist, daß eben das Stalins
Antwort auf Bucharins unvorsichtigerweise geäußerten Verdacht gegen Stalin
selbst war. Ganz allgemein sind die Anklagen nach diesem Modell zugeschnitten.
Die wesentlichen Elemente der Stalinschen Polizeikomplotte sind keine reinen
Phantasieprodukte; sie sind der Wirklichkeit entnommen – meist Handlungen oder
Plänen des »Kochs« selbst. Derselbe defensiv-offensive »Stalin-Reflex«, der
sich im Falle von Gorkis Tod so klar gezeigt hat, zeigt sich ebenfalls mit all
seiner Gewalt im Falle von Lenins Tod. Im ersten Falle hat Jagoda mit seinem
Leben gebüßt, im zweiten – Bucharin.
Ich stelle mir vor, daß die Dinge etwa
folgendermaßen verliefen. Lenin bat Ende Februar 1923 um Gift. Anfang März war
er noch gelähmt. Die ärztliche Prognose war zu diesem Zeitpunkt mit Vorbehalt
ungünstig. Stalin fühlte sich selbstsicherer und begann so zu handeln, als sei
Lenin schon tot. Der Kranke spielte ihm aber einen Streich. Sein kräftiger
Organismus, von einem unbeugsamen Willen gehalten, behauptete sich. Gegen den
Winter zu begann sich Lenins Zustand langsam zu bessern und erlaubte ihm, sich
freier zu bewegen, sich vorlesen zu lassen und selbst zu lesen; das
Sprachvermögen kehrte zurück. Der ärztliche Befund gab mehr und mehr Hoffnung.
Lenins Wiederherstellung hätte natürlich nicht verhindern können, daß die
Revolution der bürokratischen Reaktion Platz machte; die Krupskaja hatte ihre
guten Gründe, als sie 1926 sagte: »Wenn Wolodja lebte, würde er jetzt im
Gefängnis sitzen!«
Für Stalin ging es nicht um den allgemeinen Kurs
der Revolution, sondern vielmehr um sein eigenes Geschick: entweder konnte er
sofort, an diesem Tage noch, so manöverieren, daß er Herr des politischen
Apparats und damit der Partei und des Landes wurde, oder aber er wurde für den
Rest seines Lebens auf einen drittrangigen Platz verwiesen. Stalin wollte die
Macht, alle Macht, was da auch kommen mochte: schon hielt er sie fest in der
Hand, das Ziel war nahe, aber die von Lenin drohende Gefahr war noch näher. In
diesen Tagen muß Stalin klar geworden sein, daß unverzügliches Handeln geboten
war. Er hatte überall Komplicen, die auf Gedeih und Verderb mit ihm verbunden
waren. Der Apotheker Jagoda stand bereit. Ob Stalin Lenin das Gift zukommen
ließ, indem er darauf anspielte, daß die Ärzte alle
Hoffnung aufgegeben hätten, oder ob er mehr direkte Mittel anwandte, das weiß
ich nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß Stalin da nicht untätiger
Zuschauer bleiben konnte, wo sein Lebensschicksal auf dem Spiel stand und die
Entscheidung abhing von einer kleinen, sehr kleinen Bewegung seiner Hand.
Kurz nach Mitte Januar 1924 reiste ich nach
Suchum im Kaukasus ab, um zu versuchen, dort von einer hartnäckigen,
mysteriösen Infektion geheilt zu werden, deren Natur meinen Ärzten bis heute
ein Rätsel geblieben ist. Die Nachricht von Lenins Tod erreichte mich auf der
Fahrt. Einer weitverbreiteten Auffassung nach habe ich die Macht verloren, weil
ich bei den Trauerfeierlichkeiten nicht zugegen war. Das erklärt wohl kaum
ernstlich etwas. Doch hat die Tatsache meiner Abwesenheit bei der
Trauerkundgebung für Lenin bei vielen meiner Freunde schwere Besorgnis
hervorgerufen. In dem Schreiben meines damals knapp achtzehn Jahre zählenden
ältesten Sohnes lag ein Gran jugendlicher Verzweiflungsstimmung: Ich hätte um
jeden Preis kommen sollen! Das war gewiß auch meine Absicht. Das
Chiffretelegramm mit der Nachricht vom Tode Lenins erreichte meine Frau und
mich auf dem Bahnhof von Tiflis. Ich sandte sofort eine chiffrierte Note an den
Kreml: »Ich halte es für notwendig, nach Moskau zurückzukommen. Wann findet die
Trauerfeier statt?« Eine Stunde später traf die Antwort aus Moskau ein: »Die
Trauerfeier findet am Sonnabend statt. Sie werden nicht rechtzeitig zurück sein
können. Das Politbüro meint, daß Sie wegen Ihres Gesundheitszustands Ihre Reise
nach Suchum fortsetzen müssen – Stalin.«
Ich glaubte nicht, nur meinetwegen einen Aufschub
der Feierlichkeiten verlangen zu können. Erst in Suchum, als ich in Decken
gehüllt auf der Veranda eines Sanatoriums lag, erfuhr ich, daß sie auf Sonntag
verlegt worden waren. Die ganzen Umstände der Festsetzung des Datums der
Trauerfeier und deren späterer Verschiebung sind so verwickelt, daß sie nicht
in wenigen Zeilen klargelegt werden können. Stalin manöverierte und täuschte
nicht nur mich, sondern anscheinend auch seine Verbündeten vom Triumvirat. Zum
Unterschiede von Sinowjew, der jede Frage vom Standpunkt der unmittelbaren
Agitationswirkung aus sah, ließ sich Stalin bei seinen gewagten Manövern von
viel handgreiflicheren Erwägungen leiten. Er mag gefürchtet haben, daß ich
einen Zusammenhang zwischen Lenins Tod und dem Gespräch über das Gift im
vergangenen Jahr herstellte, daß ich die Ärzte darüber
befragte, ob eine Vergiftung vorliegen könne, daß ich eine spezielle Autopsie
verlangte. Es war also in jeder Beziehung sicherer, mich fernzuhalten, bis der
Körper einbalsamiert, die inneren Organe dem Feuer überantwortet und eine
Untersuchung post mortem nicht mehr möglich war.
Als ich später in Moskau die Ärzte nach der
unmittelbaren Ursache von Lenins Tod fragte, der für sie überraschend gekommen
war, wußten sie darauf nichts Rechtes zu antworten. Die Krupskaja, die mir in
wärmsten Worten nach Suchum geschrieben hatte, wollte ich mit Fragen über diese
Dinge nicht peinigen. Mit Sinowjew und Kamenew knüpfte ich persönliche
Beziehungen erst wieder zwei Jahre später an, nachdem sie mit Stalin gebrochen
hatten. Sie vermieden augenscheinlich jede Diskussion über die Umstände von Lenins
Tod, antworteten einsilbig und wichen meinen Blicken aus. Wußten sie etwas oder
hatten sie nur einen Verdacht? Auf jeden Fall waren sie in den vergangenen drei
Jahren mit Stalin zu eng verbunden gewesen, um nicht befürchten zu müssen, daß
auch auf sie ein Schatten von Verdacht fallen würde.
Über Lenins Sarg verlas Stalin den auf ein Stück
Papier geschriebenen Schwur, das Vermächtnis des Lehrers treu zu hüten, in
jenem Predigtstil verfaßt, den er im Tifliser Theologenseminar erlernt hatte.
Seinerzeit wurde dieser Schwur kaum beachtet. Heute steht er in allen
Schulbüchern und nimmt den Platz der Zehn Gebote ein.
Die Namen Neros und Cäsar Borgias sind anläßlich
der Moskauer Prozesse und der letzten internationalen Ereignisse öfter als
einmal genannt worden. Wenn schon die Gespenster der Vergangenheit wieder
heraufbeschworen werden, dann scheint es mir angemessen, nunmehr von einem
Über-Nero und Über-Borgia zu sprechen, so bescheiden und so fast naiv
erscheinen uns heute die Verbrechen jener Epochen, verglichen mit den Großtaten
unserer Zeit. Immerhin ist es möglich, in solchen bloßen Personalanalogien eine
tiefere geschichtliche Bedeutung zu entdecken. Die das zerfallende römische
Imperium kennzeichnenden Gebräuche bildeten sich während des Übergangs von der
Sklaverei zum Feudalismus heraus, des Übergangs vom Heidentum zum Christentum.
Die Epoche der Renaissance bezeichnet den Übergang von der feudalen zur
bürgerlichen Gesellschaft, vom Katholizismus zum Protestantismus und
Liberalismus. In beiden Fällen war die alte Moral
ausgehöhlt, bevor sich die neue gebildet hatte.
Wir leben abermals im Übergang von einem System
zu einem andern, in einer Epoche der tiefsten gesellschaftlichen Krise, die wie
immer von einer Krise der Moral begleitet ist. Die alte Moral ist in ihren
Grundfesten erschüttert. Die neue hat kaum begonnen zu erscheinen. Wenn das
Dach eingestürzt ist und Türen und Fenster aus den Angeln sind, dann ist das
Haus traurig und das Leben in ihm hart. Heute fegt ein scharfer Wind über den
ganzen Planeten. Alle traditionellen Grundsätze der Moralität werden mehr und mehr
entwertet, nicht nur die, die Stalins Praxis herabgewürdigt hat.
Aber eine historische Erklärung ist keine
Rechtfertigung. Auch Nero war ein Produkt seiner Epoche. Nichtsdestoweniger
wurden, als er verschwunden war, seine Statuen zerbrochen und sein Name überall
ausgelöscht. Die Rache der Geschichte ist schrecklicher als die des mächtigsten
Generalsekretärs. Ich wage zu glauben, daß das tröstlich ist.