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Kristian Kühn: Blütenstaub - Fersenstaub

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Blütenstaub – Fersenstaub
(Gedanken zu Ann Cottens Streitschrift „Groszbuchstaben“)



Gleich zu Anfang ihrer Kritik an Craussens Essay über „SCHÖNHEIT“ der Satz: „Die alte Tradition des Sinns, der Bewertung nach Qualität durch zeternde Greise, ihre Schreie ersticken in meinem Fersenstaub!

Ann Cotten hat nicht nur die (bisher siebenbändige, bzw. achtbändige
¹) Poeticon-Reihe im Verlagshaus J. Frank gelesen, bevor sie gegen GROSZBUCHSTABEN, wie sie ihren Aufsatz nennt, als apodiktisches Mittel zuschlägt, vielmehr auch Novalis studiert – überall in ihrem ausgeuferten „Rezensionstagebuch“ nicht bloß Attacken, obendrein Anspielungen zum Traditionsverlauf der Literatur, zitatähnliche Referenzen, nicht leicht zu entdecken, wie bei einer lyrischen Schnitzeljagd. Zum Beispiel gleich zu Anfang die erstickten Schreie „in meinem Fersenstaub!“- ein bisschen Lenau ist also auch dabei:

„Schnell hinter seiner Ferse Staub im Trab?“, der vierte Vers des Gedichts, das „Scherz nach einer zufällig aufgeschlagenen Bibelstelle“
² heißt.  Ein Fächer an Wissen, wie üblich bei Cotten. Noch bevor sie mit Crauss abrechnet, (der sich ja „CRAUSS.“ schreibt, mit Punkt und in Großbuchstaben,) fügt sie ein:

Freilich messen sich diese kleinen Fibeln dadurch mit anderen Miniaturausgaben: Kapital, Koran, Bibel. Es gibt Ähnlichkeiten - auch in letzteren beiden steht viel Blödsinn drin. Das ist auch das erste, was mir bei Crauss' Aufsatz "SCHÖNHEIT" auffällt.“

Ann Cotten, das fällt ebenfalls auf, hat Humor, viel Humor. Komischerweise, schreibt sie, gehe mit ernsten Abhandlungen zum Thema Poesie „oft eine Humorlosigkeit sondergleichen einher“ – allein das sei schon ein Zeichen von „selbstverschuldeter Isolation“. Sie beginnt mit korrektem Genderismus, um ihren Standpunkt vorzuführen, indem sie zunächst brav von „Lyriker-TheoretikerInnen“ spricht, dann fast wahllos mal die männliche oder weibliche Form der Angesprochenen wählt, um plötzlich Verballhornungen einzuflechten wie:  „Sowohl Verfassernenni als auch Lesernenni haben besseres zu tun als schlechte Essays.“ Schließlich stellt sie auf ihre Weise, an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfend, klar: „Ein Text wird sich immer irgendwo im Bereich des Machbaren zwischen der natürlichen Hermetik jeder Person und der "natürlichen" Kommunikationsorientiertheit der Sprache abspielen, es ist dann eine bloß relative Frage, wieviel Mühe er verlangt, ob er sie verlangen darf, und aus welchen Gründen; ob die Leserin verlangen darf, dass jeder Text gefällig um seine Gunst buhlt, oder derie Autinor [!] verlangen darf, dass man sich bemüht, sich seiihrnen [!] Manövern hinzugeben.

Großbuchstaben trennen voneinander ab und legen fest: Gedichte von der prosaischen Welt. Männer von Frauen, sexuell polar, – zementieren den Dualismus der Welt, sind Sinnbild von Prinzipien, der alten pythagoreischen Gegensatzpaare wie Hoch und Tief, Männlich und Weiblich, Grenze und Unbegrenztes. (Zehn Polaritäten sind es laut den Pythagoreern,
³ die die alte Welt manifestieren und zusammenhalten – ohne sie hätte ein Kosmos der Alten keinen Bestand gehabt und wäre vaporisiert – doch Mutter Natur, die Weltseele, hat ihn aufrecht gehalten.)

Immer wieder befasst sich Cotten mit diesem Dualismus, würde ihn am liebsten überwinden. Gleich zu Anfang spricht sie diesbezüglich von einem „neuen Klassizismus“ und warnt vor Abgrenzungen: „Keep it simple, innocent, Männer und Frauen sind einfach, wie sie sind. (Bezeichnenderweise hat sich dabei der Jahrtausendealte Dualismus der Geschlechter durchgesetzt und nicht die aus den 1980er Jahren stammende Idee vom Menschen mit unisexy Minishorts.)

Wir waren bei ihrem Humor und ihrer Beschäftigung mit Novalis, dessen Poetisieren als Weltmission, auf den ja der Werbeslogan des Verlagshauses J. Frank, „poetisiert euch“, zurückgreift. Und Novalis sagt dazu in „Blütenstaub“ (63) voll romantischer Ironie: „Menschheit ist eine humoristische Rolle.

Doch verweilen wir kurz beim Unisex, der in seiner romantischen Verheißung des Androgynen auch zu dieser humoristischen Seite des Menschseins gehört, solange man nicht in die Tiefen mystischer Alchemie eindringen will bzw. kann. In dem Poeticon-Heftchen „Geschlecht“ von Swantje Lichtenstein, das Cotten zunächst kritisiert, weil sie mit ihm nicht zurechtkommt (dazu mehr, wenn es um die Postmoderne im Gegensatz zur Tradition geht), in diesem Heftchen hat sie zunächst nicht beachtet, aber schließlich erwogen, die Sätze: „Das Geschlecht hat keine Intelligenz. Das Gedicht schon. Es schreibt sich in Großbuchstaben: GEDICHT.“ Was Lichtenstein damit wohl meine, will Cotten im Ausklang ihres Rezensionstagebuchs wissen. Wen fragen? Lichtenstein (S. 39/40): „Das Selbst. Es ist verwunderlich und vertreibt sich am Beifahrersitz die Zeit.

Hier mischt Cotten Zitat mit Interpretation. Lichtenstein schreibt (S. 39): „Ein Gedicht ist eine Skulptur. Mein Skulpturselbst verpacke ich in Watte.“ Dann aber proagiert dieses Selbst bei Lichtenstein, es vertreibt sich nicht die Zeit (wie bei Cotten) am Beifahrersitz, sondern es „skulpturiert einen Schädel, der sich mit all jenen allegorischen Wendungen verdingt, die mir zuträglich sein könnten. Und meinem Selbst. Ich baue mir eine Lade (Lady!) und das ergibt einen Bausinn.“ Das Selbst baut also bei Lichtenstein in die Dingwelt hinein ein Abbild, ein Ich – einen Leib als Lady Swantje, als Lady Ann. Das ist Mysteriensprache, ähnlich verbrämt wie Cotten ihre literarischen Schnitzel verteilt – da haben sich zwei gefunden, die sich mal austauschen sollten. An dieser Stelle, die Cotten manipuliert, S. 40, steht nämlich was ganz anderes: „Sie setzt sich auf den Beifahrersitz des Selbst und liest.“ Man kann es aber auch – mit Cottens Humor – andersherum sehen. Wie bei Platon: Das Selbst, solange es in der (noch nicht geöffneten) Schale der Auster eingesperrt bleibt, leidet und langweilt sich, greift aber selten ins Steuerrad.


Das Gegenwärtigmachen des Nichtgegenwärtigen

Cotten verteilt in viele Richtungen – wie bei einer Generalabrechnung, die zugleich auf die Notwendigkeit des Innehaltens, einer Inventur, anspielt. Um Cottens Angriffe, ihren Rundumschlag, besser zu verstehen, müssen wir die Allgegenwart des im Raum stehenden Novalis einschieben. Zum einen, weil das „POETISIERT EUCH“ letztlich auf ihn zurückgeht, zum anderen, weil Ann Cotten in ihrem Universalanspruch der Romantik, zumindest in Punkten, nahesteht, Novalis aber in ihrem Rezensionstagebuch, was den Sinn des Poetisierens betrifft, in Frage gestellt wird.

Zunächst, Novalis‘ Geschichtsauffassung ist triadischer Struktur, er sucht für sich, für die Welt und Poesie eine Urheimat, die als „Vorzeit“ auf den Beginn aller Geschichte hinweist und zugleich als „Endzeit“ das Ziel aller Geschichte sein wird.
Die „höhere Welt“, das Geistige, sieht Novalis allein in der Vergangenheit und in der Zukunft repräsentiert. Deshalb ist es die Erinnerung, die Menschen mit der Poesie verbindet. Durch ihre Hoffnung auf das Kommende können sie auf ein goldenes Endzeitalter warten. In der Gegenwart jedoch ist die ursprüngliche und die kommende Einheit des Lebens zerfallen und feindselig in gegenständliche Teilbereiche zersplittert:

„Das Paradies ist gleichsam über die ganze Erde verstreut – und daher so unkenntlich etc. geworden – Seine zerstreuten Züge sollen vereinigt – sein Skelett soll ausgefüllt werden. Regeneration des Paradieses“.


Diese „Vorstellungen der Vorzeit“ und der Zukunft sollen den Leser aus der Gegenwart reißen, einer Welt des zweckgerichteten Verstandes, der prosaischen Welt des Aufklärungsgeistes, der alles Wunderbare und Geheimnisvolle aus der Natur und den menschlichen Seelen vertrieben hat. In einem Blütenstaub-Fragment (109) hat Novalis das Doppelte dieser poetischen Existenz im Zusammenhang des historischen Entwicklungs-schemas (Urzeit, Gegenwart, Paradies) deutlich zum Ausdruck gebracht:

Nichts ist poetischer als Erinnerung und Ahndung oder Vorstellung der Zukunft. Die Vorstellungen der Vorzeit ziehn uns zum Sterben, zum Verfliegen an. Die Vorstellungen der Zukunft treiben uns zum Beleben, zum Verkörpern, zur assimilierenden Wirksamkeit. Daher ist alle Erinnerung wehmütig, alle Ahndung freudig. Jene mäßigt die allzugroße Lebhaftigkeit, diese erhebt ein zu schwaches Leben. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit und Zukunft durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung Kristallisation. Es gibt aber eine geistige Gegenwart, die beide durch Auflösung identifiziert, und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters.

Dieser Wechsel von Erinnerung und Ahndung, von Herbst- und Frühlingsstimmung, von Sterben und Erwachen durchzieht das ganze Werk bei Novalis. Ihm liegt ein zyklisches Zeit- und Geschichtsempfinden zugrunde, wie es seit Hesiod im Westen unter Orphikern gelehrt wurde, und das dazu geführt hat, dass bei Novalis niemals die Klage über das Verlorene aufkommt. Im Gegenteil, seine mythischen Bilder weisen vorwärts, über die Verneinung der Gegenwart hinweg, in eine glückverheißende Zukunft, in der dann jene absolute Einheit des Getrennten – eben als goldenes Zeitalter – sichtbar nach außen treten wird. „In ihm sind alle Zustände und Veränderungen unsers empirischen Ich simultan …“ (III, 159)

Dieses Simultane aller Zustände und Veränderungen sichtbar zu machen, ist die Aufgabe des Dichters bei Novalis. Eine Weltmission der Poesie, das Sichtbarmachen des noch nicht Gegenwärtigen.

In die Stille geplaudert

Kein Wunder, dass sich die belesene Ann Cotten über den Slogan „poetisiert euch!“ nun aufregt, der auch die Poeticon-Reihe bewirbt, Poeticon = Technik des Dichtens, eine Gebrauchsanweisung zur Erstellung von Poesie.

Vor allem wendet sie sich gegen das Oberflächliche. In den Essays falle ihr die Stille auf, in die sie hineinplaudern: „Es plätschert "ich finde", "meine liebsten", "wie ich immer so" dahin, als schlenderte Ötzi mit seiner Kollektion von Bookmarks durch die Eiszeit.“ Ohne Kenntnisse der Tradition und ihrer Zusammenhänge bis heute. "SCHÖNHEIT", "TANZEN", "FILM", "SCHREIBEN" tun so, schreibt sie, als wären sie „Einträge im Ersten Kinderlexikon der Welt.“ Wobei „SCHREIBEN“ ja ein leeres Schreibheftchen ist mit dem Aufruf, selber zu schreiben, statt zu lesen, sich schreibend zu poetisieren.

Man solle sich bloß unter „ihrer kleinen Fahne“ (im Gegensatz zu den Großbuchstaben der Ansprüche) versammeln. Und schon die nächste Attacke, indem sie die Heftchen vor den Mitmenschen verschämt versteckt:  „Es dampft aus meiner Tasche: "Ja, ich schreibe auch! Das machen Spackis seit Jahrtausenden - ich, erstmals, deklariere und ironisiere es zugleich!

Bertram Reineckes Beitrag zur „GRUPPENDYNAMIK“ kommt bei ihr gut weg, weil er „nicht sichtlich für Idioten geschrieben“ sei. Auch die ruhigen, belesenen Töne Jan Kuhlbrodts zur „GESCHICHTE“ nimmt sie wohlwollend auf. Was ärgert, was verletzt sie sehr? Zunächst die mangelnde Bildung, dann fehlender Geschmack in Lyrikkreisen, und vor allem, dass „LyrikerInnen weniger Interesse an der Herausarbeitung einer gemeinsam benutzbaren Sprache hatten
als an der gewohnten individuellen Profilierung mitsamt Abgrenzung und Originalitätsproduktion.“ Also das fehlende gemeinsame Erarbeiten, wie etwa bei dem Band „Helm aus Phlox“, und stattdessen Abgrenzung der Autoren untereinander, ein Profilierungs- und Originalitätsbestreben.

Auch der Zusammenhang von „Triebabfuhr und Weltverbesserung“, also das Pädagogische, das sich in „autistischer“ Bescheidenheit übt und das „du darfst“ und „du darfst nicht“ – als Selbstzweck. Das sei kein „Stil für einen als maßgeblich hingeknallten Essay.“ Weil es persönlicher Rückzug sei, Einmauerung des eigenen Standpunktes in Form von Psychologismen: „Aber auch die können nerven, die selbst glauben, offen zu sein, und bei denen eine nicht in ihr Konzept passende Antwort auf der Oberfläche Stocken und Ratlosigkeit hervorruft, in der Tiefe Hass, der umso stärker ist, je weniger sie sich erlauben, zuzugeben, dass sie die Störung stört.

Die Postmoderne und ihr schwaches Denken

Cotten ruft – fast wie in einem Manifest – plötzlich („Schweig, Griffel!“), zum Ende der Postmoderne auf. Dabei würde ich ihre poetologische Gemeinschaftsarbeit „Helm aus Phlox“, aus dem Jahre 2011, durchaus der sog. Postmoderne zurechnen wollen. Aber das waren noch andere Zeiten, und zugleich wurde diese Poetik „Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs“ untertitelt. Nun fordert sie Klarheit ein.

Die aber könnten postmoderne Werke kaum liefern. Gianni Vattimo, der in Turin Philosophie und Ästhetik lehrt(e) und als Philosoph der Postmoderne gilt, für den theoretische Arbeiten nur als Dialog mit der Zeitströmung denkbar sind, hat die „Ontologie des Verfalls“ geschrieben, darin traditionelle Begriffe wie Subjekt, Sinn und Wahrheit zum abgelaufenen Verfallsdatum konstatiert. Er propagiert in diesem Zusammenhang ein „schwaches Denken“, das ohne Manifeste auskommt, dafür aber einiges dessen indirekt an den Rändern zulässt, was zuvor schon ad acta gelegt worden war. Eine Vielfalt an Meinungen, an „schwacher“ Lesart.

Bis auf Reineckes Aufsatz zur Gruppendynamik wertet Cotten die anderen Beiträge der Poeticon-Reihe diesem schwachem Denken und der Postmoderne zu. Sie moniert das einfache Drauflosschreiben, „als wäre niemand da, außer den von ihm [in diesem Falle Crauss] selbst herbeigeschaffen[en] Werken und Worten. Kein lebender Leser, keine Vorgängerinnen im Thema, kein Diskurs.“ Da passe gut die Werbung des Verlags zu: „Fragen sind gefragt, Gedanken gesucht: Haben Verse ein Geschlecht? Was ist das für eine Natur, von der die sogenannte Naturlyrik spricht? Kann sich Gewalt in Gedichten freisetzen? Schreibt Geschichte Gedichte oder machen Gedichte auch Geschichte? Was hat Lyrik mit Identität, was mit Chemie zu tun? Wie denkt man poetisch? Ist jemand da?“ Dazu fällt Cotten auf, „wie eindeutig unbeliebt Antworten in der Moderne sind. Antworten sind etwas für Sektenanhänger, scheint der allgemeine Konsens zu sein – zumindest in intellektuellen Kreisen.

Sie ärgert sich über stattdessen Sammlungen exzentrischer Details, das Schreiben, „ganz im Trend oder unter der Fuchtel der Postmoderne, will sich nicht als normativ verstehen, sondern wählt den Weg der Ergänzung eines nicht näher besprochenen Kanons durch interessante Nebenschauplätze - Off-Szene.“

Und tatsächlich fehlen bei Craussens „Schönheit“ antike Begriffseinordnung, der Weg der Tradition hin zum Wandel des Begriffs mit beginnender Moderne – aber dazu später. Stattdessen wird, moniert Cotten, ein Lebensraum abgesteckt, werden ältere Aussagen zu derzeitigen nebeneinandergestellt, verglichen ohne Fazit. Martina Hefter bringe es (TANZEN, S. 13) auf den Punkt: „fröhlich (…) darüber, was sich da einer getraut hat.“ Immer wieder quäle, etwa bei Hefter zum Tanzen, „in der Postmoderne das Motiv der Überwindung des eigenen Genres. Hefter schreibt, das Schreiben überwinden zu wollen, und erwähnt Wilhelm Forsythes Versuch, das Tanzen zu überwinden.

Beide wählen, so Cotten, die Methode der Freiwilligkeit und Mitarbeit des Publikums. Auch es soll sich poetisieren und nicht mehr bloß Publikum sein. Es soll selbst in Aktion treten. Cotten vergleicht diesen Vorgang des Übergebens mit dem Kotzen eines Künstlers, denn „dieses Übergeben seiner Selbstquälereien an die Außenwelt erlöst das Subjekt; jemand anderer muss das Gift und die Materie der Transaktion aufputzen.

Ich bin da nicht ganz ihrer Meinung – wir haben Ende der Sechziger als Aussteller in einer Studentenkneipe auch Packpapier an die Wände geheftet, statt einen Künstler „aufzuhängen“, und Farben und Pinsel verteilt an das verblüffte Publikum und es zur Eigenkreativität aufgefordert: „Do it now“ hatten wir als Motto gewählt – auf die Idee „Poetisiert euch selbst!“ sind wir nicht gekommen. Aber Joseph Beuys ließ damals schon grüßen. Er kam sogar einmal zu einer Ausstellung und signierte kleine Holzkästchen, in die man seine Wunde tun sollte – damals in Göttingen.

Maßlosigkeit mache die Sache ideologisch, sagt Cotten. Das Publikum funktioniere ja weniger gut als der Künstler; sowas sei nur sinnvoll, wenn es nicht um Kunst, sondern um ein Statement gehe: „Quasi Künstlerstreik, bei weiter laufendem Entlohnungsbetrieb.“ Zugegeben, bei uns damals war es zunächst nur ein Flitz, dann haben wir uns einfach notgedrungen getraut, als kurzfristig einer dieser damals aktuellen Popkünstler abgesagt hatte.

Möglicherweise aber geht es darum, das sonst so überhebliche Publikum spüren zu lassen, wie wenig es selbst zur jeweiligen Kunst imstande wäre: "Machs doch selber besser!"

Was die Kunst betrifft, erwartet Cotten Leistung: „Nur in der Therapie und im Kindergarten macht es Sinn, schon den Versuch an sich zu loben. Erwachsene, vernunft- und urteilsbegabte Wesen können sich ruhig bemühen, Sachen wirklich gut zu machen. Dazu braucht es dann ein Gerüst an verbindlichen Begriffen, damit die Kritik nicht als ein rein arbiträrer Psychoterror herumfuhrwerkt, der einen vor Schmerzen den Kindergarten zurückwünschen lässt.

Also gegen den Diskurs, wie er heute geführt wird, schludrig, egoistisch, aufgrund kaum vorhandener Einnahmen ohne großen zeitlichen Einsatz.
Meine Identität ist radikal und unbezahlbar. Doch seit dem Einbruch des Diskurses weiß man ja nicht mehr, wer eigentlich spricht, ob zitiert wird, ironisch oder sarkastisch eine feindliche Position vorgeführt wird oder geschrieben, was die Verfasserin wirklich für wahr hält.“ Meint sie sich auch selbst damit? Gemeinsame Begriffsklärung also?

Auch Swantje Lichtensteins Essay über das Geschlecht wird anfangs auf Distanz betrachtet. Ihre assoziative Art, den Aufsatz wie ein langes Gedicht in Prosaform zu schreiben und darin Ausdrücke der tradierten Mysteriensprache
zu collagieren, macht Cotten stutzig: „Als wäre der Text für ein anders als linear lesendes Bewusstsein geschrieben.

Aber sie traut sich nicht heran, gibt zu, damit Schwierigkeiten zu haben. „Es ist genau die Richtung, in die ich nicht gehen will in meinem Leben - ich halte es nicht aus.“

Da zeigt sich Cotten von ihrer biederen Seite, ob Metaphern Mehrwert seien, auch dann noch, wenn die Metaphernfolge keine Bilder mehr erzeuge bzw. zur Entfaltung bringe. Und sie kontert mit einem Romantiker, einem Zeitgenossen des Novalis, William Wordsworth, dessen Antiheld in der langen Ballade „Peter Bell“ eine Primel als Emblem für schlichte Philosophie einschätzt.

Nun ja, gehen wir der Frage nach, inwieweit sich Ann Cotten der Tradition zugewandt hat, zumindest fordert sie ein belesenes Publikum, einen Sinn für Vergleiche durch die Poetik der Jahrhunderte.

Die alte Tradition des Sinns, der Bewertung nach Qualität durch zeternde Greise, ihre Schreie ersticken in meinem Fersenstaub! Dass ich überflügle, steht außer Frage, sonst wäre ich nicht so gut gelaunt.“ Das klingt, von ihrer humorvollen (romantischen) Ironie abgesehen, nicht sehr positiv, und dennoch siegesgewiss.

Filtern wir aus dem Aufsatz ihren Standpunkt heraus, so findet man Zwiespältiges, Doppelzüngiges: „Die Luftleere liegt nicht am Inhalt. Crauss' Essay wartet von Anfang an mit Wurstplatten von Lieblingsnamen auf. Die Würste sind auch nicht Goethe-Extra, Bennaufstrich und Schiller-Gauda, sondern erlesene Delikatessen, bei denen der Autor davon ausgeht, dass sie wenig bekannt sind, etwa der umschwärmte Kröhnke, den Crauss als eine Art essayistisches Mayröcker-Pendant vorstellt.“ Und das nicht sorgfältig, moniert sie. Sondern im Plauderton. Daraus ergebe sich eine „Atmosphäre von Ignoranz“, und zwar stilistisch, was jedoch auch eine Frage der inneren Einstellung sei: Cotten vermisst Respekt „im oder aus dem Hintergrund. Die Scham und Vorsicht, die man beim Schreiben empfindet, weil man weiß, dass es Leute lesen. Leute, deren Urteil man vielleicht respektiert, eventuell sogar fürchtet.
Es fehlt ihr „die imaginäre Akademie“, die „Peer-Review-Sauna“, also das Gutachten Gleichrangiger, ein Kreuzgutachten zur Qualitätssicherung. Der Verfasser hefte sich bloß, „in immer hektischerem Exzess wie in der Isolation einer psychischen Störung“, eigene Empfehlungen und Schwärmereien an die Brust. Aber es gehe doch stattdessen um die gemeinsame Pflege der „virtuellen Bibliothek der Szene, wo Diskussion Sinn macht, wo Ergänzungen und Korrekturen angebracht, Ordnungen und Assoziationen im Austausch erprobt werden.

Und warum, letztlich „weil man, da man keine Normen anerkennt, keine Richtlinien mehr hat, was richtig wäre, was eine Abweichung, was eine richtige Abweichung - je banaler die Fragen, desto unmöglicher zu entscheiden ...“
 
Und deshalb lobt sie Bertram Reineckes Essay zur Gruppendynamik, nicht zuletzt auch, weil er genau das Thema bearbeitet, wie Austausch erprobt werden kann: „Reinecke schreibt intelligent und subtil im Vergleich zu den bisher gelesenen Aufsätzen. Nicht fängt er wie Tobias Roth [über TRADITION] an, indem er einen dämlichen Spruch ernst nimmt,
¹⁰ um von dort aus, fernab vom Leid der Leser, weiterzuplappern. Reinecke fühlt mit. Dass man so grundlegende Dinge überhaupt loben muss! Er schreibt so, dass die Ideale, die Vorsätze und die Wirklichkeit alle drei mitbedacht sind – mühelos! Es ist also doch nicht so schwer, einen sinnvollen Aufsatz im Bereich der Poetik zu schreiben und nicht bloß ein nutzloses Traktat hinzulegen über falsche Ideen und unrealistische Einbildungen, die eh kaum jemand hat.“

Nun zu Roths Aufsatz: „Tradition ist eine Öffnung des Horizonts, S. 9. Jawohl.“ Den festen Ton findet sie gut. Aber es werde immer wieder, in leichten Variationen, zwischen einer fruchtbaren Beschäftigung mit der Vergangenheit und „steriler Kopie unterschieden“ – Roth erinnere sie „an den ägyptischen Baumeister aus Asterix und Obelix. Er ist zu ungeschickt für seine ausgefallenen Metaphern, verliert andauernd die Aussage aus dem Blick und übt (menschlich wie wir alle) Kritik an Klischees, denen er an anderer Stelle frönt.“ Statt „schnell mit dem Körper das gesamte Labyrinth der Aufgabenstellung zu überblicken und den effizientesten Weg durch ihn zu ermitteln“, verfange er sich in „typisch geisteswissenschaftlicher Lernresistenz gegenüber den eigenen Thesen: Er macht, ganz wie die Tradition, immer wieder dieselben Fehler.

Liebe Ann, in diesem Zusammenhang nicht über Schullehrer (als „zeternde Greise“) und ihre Unzulänglichkeiten der Traditionsvermittlung schimpfen! Vermittlung, Novalis würde sie „Übersetzung“ nennen, soll doch nicht allein an Unzulänglichkeiten der Kommunikation scheitern, oder?

Ich will mal so entgegnen: Robertson Davies hat in seinem Roman „Die rebellischen Engel“, der vom kanadischen Universitätsbetrieb handelt, einen gewissen Aussteiger beschrieben, Dr. John Parlabane, einen widerlichen, hässlichen Ex-Professor und Mönch, der ausreichend Energie hat, die ganze Universität von Toronto durch seine plötzliche Rückkehr auf den Kopf zu stellen. Ein zerstörerischer Dämon ist in ihm, und er will seine Kontrahenten in den Schmutz ziehen und verhöhnen, sobald sie sich unterkriegen lassen. Und warum hat er versagt und aufgegeben? Er kommentiert das Scheitern (seiner akademischen Laufbahn) mit der Begründung, dass es ihm nicht gelungen ist, das alte und das neue Wissen miteinander zu verbinden. Ob das an seinem Charakter liege? will die Begleiterin, die ihn zum Essen eingeladen hat, wissen. Parlabane nimmt ihre Hand und erklärt, dass das, was uns wirklich forme und gestalte, jemand sei, dem nur wenige ins Angesicht zu schauen wagen, das Kind nämlich, das man war, dieses ungeduldige, unersättliche Kind.

Für Novalis, um bei ihm und komparativ zu bleiben, ist Poesie immer Übersetzung. Auch die eigene. Am 30. November 1797 schreibt er an August Wilhelm Schlegel: „Am Ende ist alle Poesie Übersetzung“ -  Diskurse aus den verschiedensten Zeiten, Räumen, Disziplinen müssen abgetastet, umgeschrieben und auf einen einzigen Kanal gelegt werden.“ Den eigenen.

Hier als Anregung für einen möglicherweise folgenden Disput (bzw. Diskurs)  noch eine längere Sequenz aus seinem „Blütenstaub“, 68:
„Eine Übersetzung ist entweder grammatisch, oder verändernd, oder mythisch. Mythische Übersetzungen sind Übersetzungen im höchsten Stil. Sie stellen den reinen, vollendeten Charakter des individuellen Kunstwerks dar. Sie geben uns nicht das wirkliche Kunstwerk, sondern das Ideal desselben. Noch existiert, wie ich glaube, kein ganzes Muster derselben. Im Geist mancher Kritiken und Beschreibungen von Kunstwerken trifft man aber helle Spuren davon. Es gehört ein Kopf dazu, in dem sich poetischer Geist und philosophischer Geist in ihrer ganzen Fülle durchdrungen haben. Die griechische Mythologie ist zum Teil eine solche Übersetzung einer Nationalreligion. Auch die moderne Madonna ist ein solcher Mythus.
Grammatische Übersetzungen sind die Übersetzungen im gewöhnlichen Sinn. Sie erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähigkeiten.
Zu den verändernden Übersetzungen gehört, wenn sie echt sein sollen, der höchste poetische Geist. Sie fallen leicht ins Travestieren, wie Bürgers Homer in Jamben, Popens Homer, die französischen Übersetzungen insgesamt. Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der Tat der Künstler sein, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können.“

Poesie als Lebensform / Poetisiert euch

Außen die Verachtung, innen der Stolz – wir wissen, wie es um die Lyrik steht. Kunst als Schicksal des Menschen. Anselm Kiefer hielt 2011 eine Vorlesung am Collège de France in Paris und nannte Osama bin Laden einen bildenden Künstler, angesichts des von ihm geschaffenen Werks, der Zerstörung der Twin Towers. Jonathan Meese erklärt seinen Hitlergruß zur Kunst, zuvor hatte schon Kiefer in der Bildfolge „ACHT MAL HITLERGRUß“ sich so abgebildet. Ein paar Monate, bevor er in Paris über die Trümmer bin Ladens als Kunstwerk sprach, hatte er gesagt: „Die Kunst geht knapp nicht unter“ – so der Titel seiner Vorträge zum Thema Theorie – das hat in der Kunstszene Tradition, schon Joseph Beuys wollte die Mauer zu einem Kunstwerk machen, was damals die BILD-Zeitung maßlos ärgerte. Es wäre ihm lieber, wenn sie noch ein bisschen aufgestockt werden würde, und zwar um fünf Zentimeter, weil sie dann (aus welchem Grund auch immer – in ihren Proportionen?) dem goldenen Schnitt entspräche. So überliefert beim Festival der Neuen Kunst in Aachen, 1964.

Kunst provoziert – kein Wunder, dass Houellebecq seinen Islamisierungsroman „Unterwerfung“ nennt (Islam heißt ja übersetzt Unterwerfung). Es geht immer auch um die eigene Unterwerfung, die Einbindung in das eigene Selbst. Sonst würde man lügen. Kein Wunder, dass Kiefer in seinen Vorlesungen auf Rimbaud zu sprechen kam und auf Jean Genet. Nun sind indes beide Dichter längst nicht mehr „tabu“ – doch einen gewissen Reiz üben sie in ihrer Lebenshaltung bis heute aus. Erst nach dem Tod Anerkennung zu finden, früh zu sterben – zum romantischen Kunstverständnis gehört dieses Klischee nach wie vor.

Georg Lukácz schrieb schon 1907 in seinem Aufsatz „Novalis“, dass dennoch etwas Ruchloses, „Verfemtes“ im Ganzen liege: „Der Egoismus der Romantiker hat eine starke soziale und gesellschaftliche Färbung. Sie hofften: gerade die heftigste Entfaltung der Persönlichkeit werde letzten Ende die Menschen einander wirklich nahe bringen; sie selbst suchten ja darin die Rettung aus der Einsamkeit und aus dem Chaos. Sie waren tief überzeugt, daß eben ihre kompromißlos eigenwillige Art des Schreibens die richtige und notwendige Gemeinschaft von Autoren und Lesern hervorbringen und jene Popularität ins Leben rufen werde, die das stark betonte Ziel von ihnen war. Sie sahen klar, daß nur das Fehlen einer solchen Gemeinschaft die Ursache war, daß die herrlichen Kraftentfaltungen ihrer Zeit nicht zu Kulturtaten reiften. Eine solche Gemeinschaft wollten sie aus ihrem kleinen, geschlossenen Kreis heraus entwickeln und sie erreichten es auch – innerhalb dieses Kreises und für die Dauer von wenigen Jahren. Solange sie, die aus den verschiedensten Richtungen kamen und ganz verschiedene Richtungen verfolgten, dennoch den gleichen, großen Weg zu gehen schienen, wollten sie jede Divergenz  nur als eine Äußerlichkeit ansehen und für wichtig nur das Gemeinsame halten; dieses sollte aber auch bloß der Vorläufer kommender, echterer Zusammenhänge sein.“ (Novalis, III)

Und heute? Über die Schönheit der Bilder vom 11. September könne man sprechen, sagte Kiefer. „Aber sicherlich werde ich nicht akzeptieren, einen terroristischen Akt als Kunst zu bezeichnen.“

Also Trennstrich zwischen Kunst und Leben? Seine Werke würden erst durch den Betrachter vollendet, erklärt Kiefer, als denke er wie ein Postmoderner, ohne Verantwortung dem Selbst gegenüber. Nur kunstvolle Veräußerlichung. Das ärgert Ann Cotten, dieser Zeitgeist, „der im Kook-Slogan "Poesie als Lebensform" wie auch in dem Spruch "poetisiert euch" gemeint sein dürfte: Es geht um Verwirklichung, um ein schönes Leben und darum, herauszufinden, was das ist.“

Dann kommt sie auf das Leerheftchen mit der Aufschrift SCHREIBEN zu sprechen. Das gehe schon in die Art „witziger T-shirt-Aufschriften, He/She-Handtücher und mit den Wochentagen beschrifteter Socken und Unterhosen.“ Wie arrogante Sprüche auf Jutesäckchen, führt sie ihre Überlegungen fort: „Großes Maul, schlechtes Material. Das könnte eine Formel für Frechheit und Jugend sein. In diese Mode fügt sich die Reihe wohl ein.“ Ist jemand da?, steht auch auf diesem leeren Schreibheft.

Wer sollte besser wissen, dass jemand da ist, als der Verlag, der in einer Nischensparte auf Masse macht und alle verlegt, die nicht bei drei auf den Bäumen sind?“ Eine Attacke gegen das Verlagshaus, die so nicht stimmt. Zwar werden Debütbände herausgebracht, aber in Maßen, wie bei allen Verlagen. Und dennoch wird, im Vergleich zur Größe der Lyrikszene, auch bei den Kleinen viel gedruckt, ganz auch gegen die Anzahl der Lesenden. Manchmal habe ich das Gefühl, dieser Aufruf, mitzumachen, auch zu schreiben, (wörtlich ja: sich zu verdichten) verschiebt die Proportionen. Wenn mich dieses Gefühl beschleicht, denke ich an David Bowies „Heroes“ – dann sind wir Dichter für einen Tag.

Schon kursieren Cottens Gedankengänge um einen Satz bei Hefter: „Was mich noch mehr interessiert als Tanzen und Schreiben: das gute Leben.“ (S. 15)

Letztlich fordert das ja auch unverblümt die nachwachsende Jugend, die sich zu sog. Jungen Lesereihen zusammenschließt und vernetzt.
¹¹ Das „Poetisiert euch“ trägt also Früchte. Die ersten sind, dass – trotz Kommunikation und Vernetzung kaum noch jemand alle Namen aufnimmt, geschweige denn die Lyrik. Aber dafür gibt es ja die vielen Lesungen – man hört sich gegenseitig zu, statt zu lesen (kaufen).

In Wien nervt Cotten der Slogan "Vermehrt Schönes”, auf Stickern und Taschen in hoher Auflage im Rahmen eines Kultursponsoring-Programms von einer Bank verteilt. Und sie sieht „darin vor allem eine Maximierung von Irrelevantem“ – „so klingt es jedenfalls für mein Ohr: "Bildet Häkelkreise!" und insgesamt wird da, bloß durch die Aussparung aller expliziten Ideologie, zur aktiven Verhübschung einer strukturell gewalttätigen Grundsituation aufgerufen.

Es werden also immer mehr, die schreiben. Aber ist das eine bedrohliche Situation? Bis jetzt wurde selten selektiv gedacht, bestenfalls bei Lyrikpreisen – was jedes Mal Kritik mit sich zog, an der jeweiligen Jury, am allgemeinen Geschmack, an torkelnden Kriterien der Auswahl und Begründung. Aber es hieß immer begütigend, nur ein bisschen warten und überall einreichen, dann bist automatisch auch du mal dran. Nun aber wird es enger und ungemütlich. Erste Auseinandersetzungen liegen in der Luft, sind mit der Wahl Jan Wagners in Leipzig, mit David Krause in Darmstadt bereits da.

Geht es dabei vor allem um die Existenzberechtigung der (aller) drei von Novalis damals genannten (aber heute noch darin wiederzuerkennenden) Richtungen eines Übersetzens in Poesie: die grammatische, die verändernde, die mythische? Ich meine, es gibt keinen Verdrängungswettbewerb, auch wenn es manchmal so wirkt. Und dennoch verschiebt sich etwas, ein Gefälle entsteht, der Existenzkampf hat begonnen, eher innerhalb der Richtungen selber als gegeneinander. Gehört mit zum romantischen Erleben, zu diesem dichterischen Allgefühl. Als Synthese-Erlebnis stellt es auch Forderungen an die Erlebenden, objektive Konsequenzen einem subjektiven Erleben gegenüber, sonst würde es nicht „Zusammensetzung“ bedeuten:
„Die Poesie will vorzüglich“, fuhr Klingsohr fort, „als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu sein. Ein Dichter muß nicht den ganzen Tag müßig umherlaufen, und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein reines offenes Gemüt, Gewandtheit im Nachdenken und Betrachten, und Geschicklichkeit alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Tätigkeit zu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst.“
¹²

Auch Cotten zieht einen ähnlichen Schluss: Von dem Proaktiven, dem schnellen just to do der Titel der Poeticon-Reihe komme „man nicht unbedingt auf den Vorwurf des Eskapismus.“ „Es gehört sicherlich mit zur Philosophie, die Forderung an sich selbst und an alle, sich den Härten der Wirklichkeit zu stellen und sich in dieser, der ganzen, brutalen, hässlichen Welt zu poetisieren.

Ein Poetisieren ohne Konsequenzen bedeute, wirft Cotten hin, recht eigentlich nur, mit einer Illusion Zeit zu schinden, Lebenszeit, statt dass man „wirklich etwas erforschen, produzieren, klären oder bewegen will. Ist es besser, erreichbare oder unerreichbare Ziele anzustreben?

Novalis drückt das in „Die Christenheit oder Europa“ so aus: „das Weltliche hat die Oberhand gewonnen, der Kunstsinn leidet sympathetisch mit, nur selten, daß hie und da ein gediegener, ewiger Lebensfunke hervorspringt, und eine kleine Gemeinde sich assimiliert. Er verlischt und die Gemeinde fließt wieder auseinander und schwimmt mit dem Strome fort.“

Cotten ahnt und fürchtet, dass – vorausgesetzt, es würde, was Crauss auf S. 41 seines Artikels über Schönheit fordert, tatsächlich geschehen, „nämlich das Novaliswort alles muss poëtisch seyn von mir als forderung poetisiert euch! unter zwei gesprochene lieder gestellt,“
¹³ (das Verlagshaus J. Frank hat das Motto also von ihm übernommen) – es würde tatsächlich umgesetzt, was Crauss damit einfordert, dann stünde uns ein neues Biedermeier bevor, wie Cotten es interpretiert „dass jeder sich auf die Widergabe [!] von Sinneseindrücken verlegen möge, die Wahrnehmung des Kleinen, Nebensächlichen. "es ist ein anfang", schreibt er. Hoffentlich nicht!

Schluss also mit einem Poetisieren, dass Kunst und Leben voneinander trennt? Nein, oder doch? scheint sich Cotten unsicher zu sein,  „das ist genau die entscheidende Frage: Besteht wirklich Gefahr, dass das Gewerbe in sich zusammenfallen würde, wenn alles nur vorgeblich Individuelle, was einer seriösen funktionalistischen poetologischen Begriffsreform im Weg steht, weggekürzt würde? Wenn klarer würde, was am jeweils Idiosynkratischen wirklich problematisch zu integrieren ist, was bloß eine übliche Schablone mit neuen Namen?

Cotten unterstellt den Lyrikern, so wie sie sie erlebt, „Wirrköpfe“ zu sein. Auch Novalis hielt nicht viel von den Kollegen seiner damaligen Gegenwart:  „Die Schriftsteller sind so einseitig, wie alle Künstler Einer Art – und nur noch hartnäckiger. Unter den Schriftstellern von Profession gibt es gerade <auffallend> wenig liberale Menschen, besonders, wenn sie gar keine andere Subsistenz als ihre Schriftstellerei haben. <Von Schriftstellerei leben ist ein selbst für echte Geistesbildung und Freiheit höchst gewagtes Unternehmen.>“
¹⁴

Und:
„Leider ist das ganze Leben der bisherigen Menschheit Wirkung unregelmäßiger, unvollkommener Poesie gewesen.“
¹⁵

Schönheit – eine Tüte im Wind?

Woran liegt das, falls es stimmt? Platon hielt bekanntlich wenig von Literaten, weil sie – mit heutigen Worten gesprochen – nur eine Art geistige Umweltverschmutzung verursachen würden, indem sie zwar sich den Ideen näherten, diese aber unvollkommen und nur als verzerrte Abbilder wiedergeben könnten.¹⁶ Später änderte sich diese Ansicht bei den Platonikern, die ja das westliche Abendland in den Begriffsbildungen erheblich beeinflusst haben, vor allem Plotin relativierte diese Strenge, aber letztlich zieht sich die Kritik an der Divergenz zwischen Teilhabe an den noetischen (also nur auf der geistigen Ebene erlebbaren) Ideen und ihrer Übersetzung in ästhetische (also auch sinnlich wahrnehmbare) Abbilder bis heute hin.¹⁷

Gerade der Begriff „Schönheit“ verführt, sich dieser Schwelle zwischen geistiger und physischer Wahrnehmung zu nähern, zu erleben, ob und falls ja, inwieweit die eine in die andere dringt durch den Anblick von Schönheit und beide miteinander verwebt. Oder durch die Teilhabe an einem “wahren, schönen, guten“ Text, so wie sich die Klassik einen solchen vorstellte, was auch immer da von der Schule her bei uns in Erinnerung geblieben ist.

Zunächst, es gab zu jeder Zeit Texte und Abbilder, die als hässlich, unmoralisch oder unwahr angegriffen wurden. Oder verführerische Schönheit, luziferischen Glanzes, der mit dem Reich des Teufels oder der Verweltlichung oder mit dem Abgrund spielte, oft bewusst und willentlich (Lord Byron, Swinburne, Lautréamont, de Sade, Mallarmé – um nur wenige zu nennen, oft gerade Esoteriker, der Gnosis nahe, der englischen und französischen Romantik-Linie. Das Spiel mit dem Bösen infiziere, sagen die einen, es grenze ab zum Guten die andern, Milton, Klopstock, Rushdie).

Im Grunde setzt gerade hier die Aufklärung an. Sie versucht das Hässliche zu begründen. Und es sind meistens Aufklärer, die das Böse nicht tabuisieren oder gar verbieten, sondern einordnen und damit schwächen wollen. Die Romantik, an der Nahtstelle zur Moderne, ist mit ihrer magischen Evokation des Bösen auch eine Antwort auf die verstandes- und vernunftbezogene Literatur.

Wenn aber Ann Cotten sagt: „Ich sehe zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Entweder man vermehrt Schönes – dann fragt sich: aus dem Nichts (geht dann nicht irgendwo der Platz aus?) oder indem man dafür Unschönes zerstört? Und was ist dann das Kriterium für den Geschmack, der erlaubt, zu zerstören, was einem nicht gefällt? (Dann ist in der Tat die theoretische Definition der Schönheit eine hochbrisante dringliche Angelegenheit.)“, dann handelt es sich zunächst um viele Fragen, zum Teil wirr zusammengesetzt, die nicht auf einmal zu beantworten sind.

Beginnen wir mit Gegenfragen: lässt sich das Schöne als Begriff überhaupt vermehren? Oder können nur die Abbilder des Schönen verbessert werden, hin zu dem, was gerade heute, und vielleicht schon morgen nicht mehr, als ästhetisch schön angesehen wird, also operativ und nach Aspekten der jeweiligen Mode? Eine moderne Frage, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum jemand gestellt hätte. Aber zu Baudelaire und seiner Schönheitsdefinition, die er mit „Modernität“ verknüpft und damit einen der Schlüssel zur Poetik der sog. Moderne geliefert hat, zum Schluss.

Und was ist dann das Kriterium für den Geschmack, der erlaubt, zu zerstören, was einem nicht gefällt?“ Diese Frage Cottens stellt Kunst zu jeder Zeit (s. Kiefer, Meese, Houellebecq,) nur die Klassik nicht, sie handelt einfach. Vergleicht man Goethes Iphigenie mit dem ursprünglichen, antiken Mythos, so sieht man, wie sehr er ihn verschönt, (und damit fraglos) den Konflikt vereinfacht, indem er das Irrationale entfernt und die Katharsis der menschlichen Tragödie zu einer Reinigung hin zur Vernunft umschreibt, um die begleitende Erschütterung zu schwächen, wenn nicht zu eliminieren.
 
Also, liebe Ann, eine romantische Frage, synthetisch. Lässt sich das Schöne als Idee überhaupt zerstören? Ich glaube nicht, selbst moderne Dichter beschäftigen sich mit dem Begriff, zum Beispiel Nabokov: "Schönheit und Mitempfinden - näher können wir einer Definition dessen, was Kunst ist, nicht kommen.“
¹⁸
Oder Brecht: „Es wird sich herausstellen, daß wir nicht ohne den Begriff Schönheit auskommen. Es ist keine Schande, diesen Begriff zu benötigen, aber es macht doch verlegen. Denn es ist ein so vager, vieldeutiger Begriff, anscheinend ganz vom „Geschmack“ abhängig, der „bekanntlich“ individuell ist, so daß sich darüber „nicht streiten“ läßt.“ Und Brecht fährt in seinen Überlegungen dann fort: „Das kann durch eine Art Lernakt geschehen oder einfach, weil wir in andere Verhältnisse gekommen sind. Der Geschmack, auch der physiologische, kann sich entwickeln.“
¹⁹

Dieser hat sich in der Tat mehrfach im Laufe der Zeit geändert, wobei zur Klärung des Begriffs nicht nur die sinnlich wahrnehmbare Seite in die Diskussion einbezogen werden sollte. Sonst würde man die Tradition nicht verstehen. Am Anfang war im Westen die Schönheit stets mit dem Göttlichen verknüpft und sozusagen das, womit das Irdische zur „proaktiven“ Teilhabe an ihm aufgerufen wird.
²⁰

In der Antike war aus diesem Grund die Frage nach der Entscheidung für oder gegen das Schöne immer ethisch konnotiert. Platon zeigt das sehr deutlich in seinem Dialog „Menon“ (77 B) auf:
„Sokrates: Meinst du das so, dass, wer das Schöne begehrt, nach dem Guten begierig ist?
Menon: Sicherlich.
Sokrates: Etwa in der Meinung, dass es manche gibt, die das Schlechte, und wieder andere, die das Gute begehren? Sollten nicht alle, mein Bester, das Gute begehren? Glaubst du das nicht?
Menon: Nein.
Sokrates: Glaubst du vielmehr, dass manche das Schlechte begehren?
Menon: Ja.
Sokrates: Weil sie das Schlechte für gut halten. Das ist doch wohl deine Meinung. Oder begehren sie etwa das Schlechte trotz der Erkenntnis, dass es schlecht ist?
Menon: Beides, wie ich glaube.
Sokrates: Glaubst du wirklich, mein Menon, dass einer, der das Schlechte als Schlechtes erkennt, gleichwohl dasselbe begehre?
Menon: Ganz gewiss.
Sokrates: Worauf zielt denn das Begehren deiner Meinung nach ab? Doch wohl darauf, dass man der Sache teilhaftig werde?
Menon: Jawohl, denn worauf sonst?
Sokrates: Geschieht dies im Glauben, dass das Schlechte dem nütze, dem es zuteil wird, oder in der Erkenntnis, dass das Schlechte dem schadet, dem es sich beigesellt?
Menon: Bei manchen wohl in dem Glauben, das Schlechte nütze, bei anderen dagegen in der Erkenntnis, dass es schadet.
Sokrates: Meinst du auch, dass diejenigen, die glauben, das Schlechte nütze, die Erkenntnis haben, dass das Schlechte schlecht ist?
Menon: Nein, das scheint mir schlechterdings unmöglich.
Sokrates: Also ist es doch klar, dass diese Leute, diese Nichtkenner des Schlechten, nicht das Schlechte begehren, sondern dasjenige, was sie für gut halten, während es tatsächlich schlecht ist. Mithin begehren diejenigen, die es nicht kennen und es für gut halten, offenbar das Gute. Oder nicht?“

Und schon damals führte dieser Fragenkomplex, was gut, was schön sei, zu manchem Streit. Um bei Platon zu bleiben: „Sokrates: Vielleicht ist es dir nicht gegenwärtig; drum will ich es sagen, und du magst zusehen, ob es folgende Dinge sind: das Gerechte und das Ungerechte, das Schöne und das Hässliche, das Gute und das Böse. Sind das nicht die Gegenstände, bei denen Meinungsverschiedenheit und Unvermögen zu einer genügenden Entscheidung über sie zu kommen, dahin führen, dass wir einander feind werden, im Falle wir es werden, ich und du und alle anderen Menschen?“
²¹

Ist das Schöne ein Neutrum bezüglich der Moral, fragt Novalis.
²² Und was heißt eigentlich „schöne Seele“, will Ann Cotten wissen und vermisst die Antwort bei Crauss:
Der Begriff der "schönen Seele", diskutiert von Schiller et alii, ist auch ein scharfes Feld.“ Aber Crauss sei leider Dichter, nicht Philosoph, „die Zitate und Ideen somit bloßer Zierrat seiner persönlichen Leistungen, die einem gefallen können oder auch nicht. Mehr ist wohl nicht zu erwarten.

Seite um Seite steigt Ann Cottens Zorn über Craussens Text zur Schönheit, bis sie ausfällig wird, von eklen Männerfantasien spricht: „Der hässliche Eitle schreibt herbei, dass es keine Schönheit gibt, oder dass sie in der Hässlichkeit wohnt, oder dass sie um den Preis der Sprödheit, Dummheit und Vergänglichkeit existiere, ätsch.“

Crauss hat letztlich nicht unrecht damit, eine Vernetzung zwischen dem Schönen und Hässlichen aufzuzeigen, dazu ein kleiner Auszug aus einem alten Standardwerk, das in etwa zur gleichen Zeit verfasst wurde wie Baudelaires Neuansatz zur Schönheit, „Ästhetik des Häßlichen“ von Karl Rosenkranz, und zwar über das „Kunsthäßliche“:

„Weil das Häßliche an dem Schönen ist, so kann es als die Negation jeder seiner Formen sich sowohl vermöge der Nothwendigkeit der Natur als der Freiheit des Geistes erzeugen. Die Natur mischt Schönes und Häßliches nach der Zufälligkeit, wie Aristoteles sagen würde, zusammen. Die empirische Wirklichkeit des Geistes thut dasselbe. Um daher das Schöne an und für sich zu genießen, muß der Geist es hervorbringen und zu einer eigenthümlichen Welt für sich abschließen. So entsteht die Kunst. Aeußerlich knüpft auch sie an Bedürfnisse des Menschen an, allein ihr wahrhafter Grund bleibt doch die Sehnsucht des Geistes nach dem reinen, unvermischten Schönen.“
²³  

Schon Rosenkranz sieht allerdings in dem Hervorbringen des Hässlichen keinen Widerspruch zur Aufgabe der Kunst: „Wie kann nun die Kunst, deren Zweck nur das Schöne sein soll, dazu kommen, das Häßliche zu bilden? Der Grund muß offenbar tiefer liegen, als in jenem äußerlichen Reflexionsverhältniß. Er liegt im Wesen der Idee selber. Die Kunst hat zwar – und dies ist gegen die Freiheit des Guten und Wahren ihre Schranke – das sinnliche Element nothwendig, aber in diesem Element will und soll sie die Erscheinung der Idee nach ihrer Totalität ausdrücken. Es gehört zum Wesen der Idee, die Existenz ihrer Erscheinung frei zu lassen und damit die Möglichkeit des Negativen zu setzen.“
²⁴

In diesem Widerstreit, was man bei Dichtung zu beachten habe, wenn es um das Schöne geht, liegt Crauss indes nahe bei Platon
²⁵, wenn er sagt: „es reicht nicht aus zu behaupten, etwas – oder alles mögliche – sei von sich aus schön, ohne die anstrengung unternommen zu haben, es schön zu machen. Es kann nicht genügen, das banale aufzuladen, sodass es schwebt wie eine tüte im wind, in der letztlich nur luft ist.“ (Schönheit, 37)

Lob der Schminke

Charles Baudelaire schrieb 1863 über den Maler Constantin Guys einen nicht sonderlich beachteten Essay, der in deutschen Publikationen mal „Das Schöne, die Mode und das Glück“ heißt, mal „(Constantin Guys,) der Maler des modernen Lebens“. Und doch taucht hier erstmalig der Begriff der „Moderne“ auf – vor allem in Zusammenhang mit einer Neubestimmung des „Schönen“.

Er schreibt: „Die meisten Irrtümer bezüglich des Schönen entstammen der falschen Auffassung des achtzehnten Jahrhunderts bezüglich der Moral. Die Natur war in jener Zeit als Grundlage, Quelle und Typus jedes möglichen Guten und Schönen angenommen. Die Verneinung der Erbsünde hatte an der allgemeinen Verblendung in jenen Tagen einen nicht geringen Anteil.“ (Kap. 7)

Hier richtet sich Baudelaire ganz gegen den Geist der Aufklärung, bietet aber „eine rationelle und geschichtliche Theorie des Schönen“ (Kap. 1): „eine Gelegenheit, zu zeigen, dass das Schöne immer, unvermeidlich, aus zwei Elementen zusammengesetzt ist, obgleich es einen einheitlichen Eindruck erzeugt; denn die Schwierigkeit, die variablen Elemente des Schönen bei der Einheitlichkeit des Eindrucks zu sondern, schwächt in keiner Weise die Notwendigkeit der Varietät in seiner Zusammensetzung. Das Schöne wird aus einem ewigen, unveränderlichen Element gebildet, dessen Quantität außerordentlich schwierig zu bestimmen ist, und aus einem relativen, bedingten Element, das, wenn man will, um und um oder allzugleich, von dem Zeitabschnitt, der Mode, dem geistigen Leben, der Leidenschaft dargestellt wird. Ohne dieses zweite Element, als welches gleichsam der amüsante, glänzende Überguss ist, der den göttlichen Kuchen uns verdaulich macht, wäre das erste Element für die menschliche Natur unzuträglich, ungeeignet, unverdaulich.“ (Kap. 1)

In Kapitel 3 (Die Modernität) kommt er dann auf den modernen Künstler zu sprechen: „So geht er, läuft und sucht. Was sucht er? Ganz gewiß: dieser Mann, wie ich ihn dargestellt habe, dieser Einsiedler, der mit einer tätigen Imagination begabt ist, der immer durch „die große Menschenwüste“ reist, hat ein höheres Ziel als ein reiner Müßiggänger, ein anderes, umfassenderes Ziel, als das flüchtige Pläsier des Augenblicks. Er sucht jenes Etwas, das ich mit Verlaub als die »Modernität« bezeichnen will; denn es bietet sich kein besseres Wort, um die in Rede stehende Idee auszudrücken. Es handelt sich für ihn darum, von der Mode das loszulösen, was sie im Geschichtlichen an Poetischem, im Flüchtigen an Ewigem enthalten mag.“

Und: „Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.“

Dann kommt er auf die Natur zu sprechen und gewährt ihr das Recht, sich auf die äußere, vergängliche Schönheit (die Tüte im Wind bei Crauss) auszurichten, um sie zu erhalten, solange es geht:
²⁶ „Alles, was ich über die Natur als schlechte Beraterin auf dem Gebiete der Moral und über die Vernunft als wahrhafte Erlöserin und Erneuerin sage, läßt sich auf den Bereich des Schönen übertragen. Ich komme so dahin, den Schmuck als eins der Zeichen für den uranfänglichen Adel der menschlichen Seele zu betrachten. (…) Die Frau ist ganz in ihrem Recht, und sie erfüllt sogar eine Art Pflicht, wenn sie  das Bestreben hat, magisch und übernatürlich zu erscheinen; sie soll erstaunlich sein und voller Reiz; ein Götzenbild, muß sie mit Gold sich schmücken, auf daß sie angebetet werde. So muß sie denn allen Künsten die Mittel entleihen, sich über die Natur hinwegzuheben; denn um so leichter wird sie die Herzen unterjocht, wird sie die Geister jäh betroffen sehen.“


***


¹ Der achte Band ist ein Leerband, ein Schreibheft und trägt den Titel: SCHREIBEN.
²
Nikolaus Lenau: »Wie, wenn ich liefe auch dem Chusi nach, / Schnell hinter seiner Ferse Staub im Trab?«
³
Die zehn Prinzipien der gegensätzlichen Paare:

Grenze – Unbegrenztes
Ungerades – Gerades
Eines – Vielheit
Rechtes – Linkes
Männliches – Weibliches
Ruhendes – Bewegtes
Gerades – Krummes
Licht – Dunkel
Gutes – Schlechtes
Quadrat – Rechteck
(nach Aristoteles: Metaphysik A5, 986 a)

Phaidros 250 Bff (64 ff): „Die Schönheit aber strahlte uns einstmals in hellem Lichte, als wir mit dem seligen Reigen in Gefolgschaft des Zeus oder anderer Götter beglückende Gesichte sahen und betrachteten und eingeweiht wurden in die Weihen, die man als die beglückendsten preisen darf, um sie zu begehen im Zustand der Vollkommenheit und Unberührtheit durch all die Übel, die für die spätere Zeit unser warteten; heraustretend zu dem Geheimnis vollkommener und unverfälschter, wandelloser und seliger Erscheinungen, die sich uns enthüllten im reinen Lichte; rein und unbefleckt von dem was wir jetzt als unseren sogenannten Leib an uns tragen, in den wir eingesperrt sind wie die Auster in ihre Schale.“
Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Heidelberg (Carl Winter Universitätsverlag) 1965. S. 305.

Das Allgemeine Brouillon, 3, 929, 6ff.

Hier auch auf die Veranstaltungsreihe „Poesie und Begriff“ bezogen. Siehe dazu in den Signaturen die Briefrezension, Teil 1 – 8, von Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt. Teil 6 Cottens Beitrag.

Vgl. Rezension von Jan Kuhlbrodt.

Beispielsweise S. 17: „Das Gedicht verkleidet sich als dreckige Göre und versteckt sich unter einem Dreifuß. Dort murmelt es Orakelsprüche vor sich hin, wirft Knöchelchen als I-Ging (String-, Theorie, G-Punkte etc.) und legt Tarotkarten mit seinen kleinen schmutzigen Händchen für die Passanten aus.“
Oder S. 11: „Der Genius ist „geschlechtslos und doch von überweltlichem Geschlechte“ (Walter Benjamin: Einbahnstraße)“
Oder S. 25: „Die Zeugenschaft des Gedichts ist das Schweigen. Sprechen mag es nicht. Aussagen noch viel weniger.“
Oder S. 27: „Das Gedicht kann sich einigeln, kann sich kugelförmig zusammenrollen, allerdings nur, um seine spitzen Zeichen nach außen zu kehren. Es vermag wohl die Sprache zu reflektieren oder die Dichtung zur Sprache zu bringen; indes bezieht es sich nie auf sich selbst, aufgrund seines eigenen Antriebs, wie jene Maschinen, jene Apparate, jene Dinge, die den Tod bringen.“ (Jacques Derrida: Was ist Dichtung?)“

¹⁰
„Was ists das man gethan hat? Eben das man hernach wider thun wird und geschicht nichts newes unter der Sonnen […] und viel Bücher machens ist kein ende. KOHELET“.
¹¹  
Vgl. den Bericht über das Erste Treffen junger Lesereihen mit Lyrik-Schwerpunkt im Lyrik Kabinett:
„Dass auch der Privatraum für Lesungen genutzt wird und großen Zulauf verzeichnen kann, zeigt das Bedürfnis junger Leute nach einer gemütlichen Atmosphäre für die Präsentation von Lyrik.“
Sowie: „Die Kulturpolitik einer Stadt, so die Forderung, habe darauf achten, dass sich junge Autoren, der Nachwuchs, in den bestehenden Institutionen aufgenommen fühlten, inklusive der Freiheit, Eigenes zu schaffen und neue Konzepte zu entwickeln. Die Freiräume für Lyrik scheinen dabei unerschöpflich. Also sollte es auch im Sinne der Stadt sein, die kreativen Szenen zu fördern und ihnen dauerhaften Platz unter einem gemeinsamen Dach zu bieten. Dass sich ein Literaturhaus nur dem etablierten Literaturbetrieb verpflichtet fühle, sei befremdlich, zumal man so das junge Publikum, aber auch die jungen Lyriker verpasse. Kommunikation und Kooperation müssten unbedingt gefördert werden.“

¹²  Heinrich von Ofterdingen, Teil 1, Kap. 7.

¹³ Die zugehörige Anmerkung (110) besagt, dass es sich um zwei von ihm nachgedichtete Lieder (malin und masters of war (nach Bob Dylan) handelt. Darüber hinaus „findet sich der wahlspruch in meinen manuskripten und vorträgen bereits seit etwa 2007.“

¹⁴ Fragmente aus den Schlegel-Tieckischen Ausgaben, 250.
¹⁵  
Fragmente aus der Nachlese von Bülow, 17.

¹⁶ Z. B.: Der Staat, 377 C: „Sokrates: Ich meine den Fall, dass einer in seiner nachahmenden Darstellung das Wesen der Götter und Heroen ins Hässliche zieht, wie ein Maler, dessen Gemälde dem nicht gleicht, dessen Abbild er doch damit geben wollte.
Adeimantos: In der Tat, es ziemt sich durchaus, dergleichen Verfehlungen zu tadeln.“
Oder: Der Staat, 379: „Sokrates: Wir sind jetzt, mein Adeimantos, nicht Dichter, ich und du, sondern Gründer einer Stadt. Den Gründern aber liegt es ob, das Gepräge zu kennen, das für die Darstellungen der Dichter maßgebend sein muß, wenn sie überhaupt zugelassen sein wollen, selbst aber brauchen sie keine Erzählungen zu dichten.“

¹⁷
Beispiele zur Moderne: Hugo von Hofmannsthal: „Ein Brief“ (Chandos-Brief), das Manifest „Dichtung ist vertikal“, Bertolt Brecht: „Profane und pontifikale Linie der Lyrik“.
¹⁸
Vladimir Nabokov: Franz Kafka. Die Verwandlung. (in: Lectures on literature), 1982.
¹⁹ Anmerkungen zur literarischen Arbeit, 1935 – 1941, Lyrik und Logik.
²⁰
Platon: Das Gastmahl, 29: (211 E) (Diotima an Sokrates:) „Wer nämlich bis hierher gelangt ist als Zögling in der Liebeslehre, der wird bei wohlgeordneter und richtiger Betrachtung des mancherlei Schönen, endlich, am Ziele des zu dem Liebeswerten führenden Weges angelangt, plötzlich ein Schönes von wunderbarer Natur erblicken, eben das, mein Sokrates, auf das alle früheren Bemühungen hinzielten. Zum ersten ist es ein ewig Seiendes, weder entstehend noch vergehend, weder zunehmend noch abnehmend, sodann nicht in gewisser Beziehung schön, in anderer hässlich, auch nicht bald schön, bald wieder nicht, auch nicht beziehungsweise schön und beziehungsweise hinwiederum hässlich, auch nicht hier schön, dort hässlich, so dass es die einen schön, die anderen hässlich finden. Auch wird sich dies Schöne dem Beschauer nicht darstellen als ein Gesicht oder in der Gestalt von Händen oder von sonst etwas Körperhaftem, ebenso wenig aber auch als irgendeine Art von Rede oder wissenschaftlicher Erkenntnis, auch nicht als etwas, das in irgendeinem anderen ist, sei es in einem lebenden Wesen oder sei es auf Erden oder im Himmel oder sonst in irgendetwas anderem, sondern rein für sich und mit sich in unabänderlicher Daseinsform verharrend; alles andere Schöne aber nimmt an jenem in gewisser Weise teil, nämlich so, dass, während dies Andere entsteht und vergeht, jenes Urschöne keinerlei Wechsel unterworfen ist weder durch Zunahme noch durch Abnahme oder durch sonst irgendwelche Veränderung seines Zustandes.“
²¹ Euthyphron, 7 D.
²²
„Religiöse, moralische, geistige, poetische Verbrecher usw. … (Ist das Schöne ein Neutrum?)“ (Fragmente aus Studienheften, 51).
²³
Karl Rosenkranz: Aesthetik des Häßlichen. Königsberg 1853, S. 35.

²⁴ a.a.O. S. 38.

²⁵  „Athener: Muss nicht also, wer über irgend ein Erzeugnis sei es der Malerei sei es der Musik sei es sonst einer Kunst als verständiger Richter auftreten will, über folgende drei Punkte Bescheid wissen: erstens über das Wesen der nachgeahmten Sache, sodann über die Richtigkeit der Darstellung und drittens über ihren sittlichen Wert, wofür bei einem musikalischen Werk Text, Melodie und Rhythmus in Betracht kommen?“ Gesetze, 669 Af. (65).
²⁶
Kapitel 7: Lob der Schminke: „Wenn wir gleichwohl gewillt sind, uns einfach an die sichtbare Tatsache, an die Erfahrung aller Zeiten und an die „Gerichts-Zeitung“ zu halten, so werden wir einsehen, daß die Natur gar nichts oder so viel wie gar nichts lehrt, insofern sie nämlich den Menschen zwingt, zu schlafen, zu trinken, zu essen und, so gut oder schlecht es nun eben gehen will, sich gegen die feindlichen Einflüsse der Atmosphäre zu schützen. Sie ist es auch, die den Menschen dazu treibt, seinesgleichen zu töten, zu verzehren, einzusperren, zu foltern; denn sobald wir den Bereich der Notwendigkeiten und der Bedürfnisse verlassen, um in den des Luxus und der Genüsse einzutreten, sehen wir, daß die Natur nur zum Verbrechen raten kann. Diese unfehlbare Natur ist es, die den Verwandtenmord und die Menschenfresserei schuf und tausend andere Abscheulichkeiten, die aufzuzählen Scham- und Feingefühl uns verbieten. Die Philosophie (ich meine die gute) und die Religion befehlen uns, arme, schwächliche Verwandte zu ernähren. Die Natur (die nichts anderes ist als die Stimme unseres Interesses) gebietet uns, sie zu ermorden.“

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