Krachkultur, Nr. 20/2019
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
DIE PROGRAMMIERUNG DES SCHÖNEN
Krachkultur, Nr. 20/2019: Das Lyrik-Heft

Als der
Surrealist Raymond Quéneau im Jahr 1961 sein Projekt „Hunderttausend Milliarden
Gedichte“ startete, war diese Idee einer mathematisch regelgeleiteten
Programmierung des Schönen längst zum avantgardistischen Dauerbrenner geworden.
Quéneau hatte die schlichte Grundidee, aus zehn Sonetten durch unendlichen
Austausch und Neukombination der einzelnen Gedichtzeilen und Verselemente eine
unendliche Zahl von Gedichten zu generieren. Ein paar Jahre zuvor hatten in
Deutschland der Physiker und Sprachphilosoph Max Bense und seine Schüler die Grundlagen
einer „informationstheoretischen Ästhetik“ ausgebrütet. Auch hier wurden mehr
oder weniger brauchbare Konzepte für eine objektive poetische Kombinatorik aus
dem Geiste der Mathematik entworfen. Der Bense-Schüler Theodor Lutz ersann
„stochastische Gedichte“, die mit Hilfe eines arithmetischen Zufallsgenerators
erzeugt wurden. All diese Versuche, das ästhetisch Schöne einer Logik der
Algorithmen zu unterstellen, kehren dieser Tage wieder in den Manifesten einer
digitalen Literatur, die mit vermeintlich neuen, in Wahrheit jedoch uralten
Produktionsregeln auftrumpft.
Von den
Möglichkeiten und Grenzen einer solchen digitalen Ästhetik handeln die zwei
zentralen Essays im Jubiläumsheft (Nr. 20) der angriffslustigen Zeitschrift Krachkultur,
die sich – ansonsten eher mit provokativen Prosaautoren befasst – zum ersten
Mal an einer Positions-bestimmung der Gegenwartslyrik versucht. Und man darf
dieser Ausgabe der Krachkultur bescheinigen, dass sie sehr viele
Abweichwinkel der Gegenwartspoesie ausleuchtet und vor allem die
unterschiedlichsten Positionen und Konzepte zu Wort kommen lässt. 26
Dichterinnen und Dichter werden hier mit exemplarischen Gedichten vorgestellt,
und zwar sowohl fabelhafte Meisterstücke (wie die neuen Texte Marcel Beyers)
als auch schrille „Klappsmühlen-Gedichte“ des jungen, in Erlangen lebenden
Dichters Joseph Felix Ernst, der die Sprache mit heftigen Stauchungen und
Dehnungen bearbeitet und zu Anklagen des „schweine-/menschen“ nutzt.
Im Zentrum
des Heftes liefern sich die Essays von Ulla Hahn und Hannes Bajohr ein hübsches
Gefecht um die Frage, ob eine digitale Poesie, die durch ein endlos
fortsetzbares Spiel mit dem Repertoire der Computerlinguistik generiert wird,
als Bereicherung oder als Verfallserscheinung zu bewerten ist. Die lyrische
Traditionalistin Ulla Hahn stützt ihren Kulturpessimismus auf historische
Argumente. Die Vorstellung, dass Poesie einfach über einen „Great Automatic
Grammatizator“ entsteht, wie das bereits 1954 der Unterhaltungsschriftsteller
Roald Dahl alarmistisch beschwor, haben mittlerweile etliche literarische
Dystopien als Schreckensvision ausgemalt. Als dann Hans Magnus Enzensberger im
Jahr 2000 seinen „Poesieautomaten“ vorstellte, mit dem er Sechszeiler nach
sechs unabhängigen Variablen herstellen wollte, war das technisch nicht nur ein
bisschen veraltetet, sondern es klangen viele dieser zufallsgenerierten
Gedichte wie Enzensberger-Texte. Ulla Hahn insistiert gegen diese
computerlinguistischen Experimente auf dem politischen Kontext von Dichtung, der bei
zufallsgenerierter digitaler Poesie fehle: „Dichtung ist moralisch, ist human
oder keine Dichtung.“ Der Philosoph und digitale Poet Hannes Bajohr kontert in
der Krachkultur mit einer rein formalistischen Betrachtung der Elemente
des Poetischen. Lyrik sei zunächst nichts anderes, als „einer Reihe von Zeichen
eine gewisse Leseregel zu suggerieren, die nicht unmittelbar in diesen Zeichen
ausgesprochen ist“. Einer beliebigen
Zeichenkette könne stets der Bedeutungsüberschuss Lyrik unterschoben
werden. Um seinen heiteren Formalismus poetisch zu beglaubigen, stellt Bajohr
vier „Gedichte“ vor, die nach seinem kybernetischen Regelwerk funktionieren. In
einem „Gedicht“ hat er Christian Metz´ Studie „Poetisch denken“ ausgewertet und
mit den dort porträtierten Autoren Steffen Popp, Monika Rinck, Jan Wagner und
Ann Cotten einige computerlinguistische Spielchen getrieben. So hat er etwa aus
den am häufigsten vorkommenden Elementen dieser Gedichte „3-Gramme“ komponiert.
Das Ergebnis ist ein Werk von einiger Komik:
Poetisch denken (Digest)hört ihr dasso höhnen Honigprotokolleab und zuin der fernela la latch tch tchich ging hinausin der zeit(1. Strophe: Rinck; 2. Strophe: Wagner; 3. Strophe: Cotton; 4.Strophe: Popp)
Neben
diesem kleinen Gefecht um „Code Poetry“ enthält das neue Krachkultur noch
eine Menge weiterer Überraschungen. Kristin Schulz, die Dichterin und
Mitarbeiterin im Heiner Müller-Archiv in Berlin, kommentiert eine
handschriftliche Notiz Müllers zum legendären Chandos-Brief Hugo von
Hofmannsthals. Unter den abgedruckten Gedichten sind es Verena Stauffers Zyklus
„Hummingbird“ und Ulrich Kochs abgründige Erkundungen einer unentrinnbaren
Alltäglichkeit, die gleich auf Anhieb faszinieren. In Stauffers Zyklus
„Hummingbird“, der im Titel auf den Suchalgorithmus von Google verweist, sind
extrem gegensätzliche Affekte, assoziative Energien und Motivkreise in den
Gedichten präsent. Er beginnt und endet mit Bildern des Hasses und der
Destruktion, während in anderen Teilen des Zyklus ruckhaft an Wörtern
entlangrollende Suchbewegungen in Gang gesetzt und Naturphänomene aufgerufen
werden. „I am an accelerator“, heißt es einmal, „siehst du das nicht,/ schaffe
erst die Möglichkeit für Partikelkollision...“ Und wer schließlich die das Heft
eröffnenden Gedichte Marcel Beyers näher anschaut, wird die Entdeckung machen,
dass der Autor ein lange zurückliegendes Projekt noch einmal aufgegriffen hat.
In seinem Vortrag „Spucke – Über die Geschichte eines ungeschriebenen Gedichts“
hatte Beyer 1998 ausführlich dargelegt, warum es nie zu dem 1995 begonnenen
Gedicht kam. In der neuen Krachkultur, so scheint es, ist das 1996
abgebrochene Vorhaben nun doch weitergeführt worden: „Doch ich spucke aufs /
Buch, und ich spucke recht gut, / buchstabengenau, und Satzzeichen / sind meine
Stärke, und ich spucke / dir zwischen die Zeilen, da hast / du deine rote
Schnur. Gehst / du ins Buch, trag Bauschaum / im Herzen, denn du weißt ja, das
Buch / ist dein Rauschraum, die anderen / spucken dir nur deine Augen zu.“
Krachkultur,
Nr. 20/2019: Das Lyrik-Heft. Hrsg. von Martin Brinkmann und Alexander Behrmann.
Krachkultur Verlag, Steinstraße 12, 81677 München, 208 Seiten, 14 Euro.