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José F.A. Oliver: sprachverw:ortung

Gedichte > Münchner Anthologie
José F.A. Oliver

sprachverw:ortung

so eigendeutsch ist meine dichtung
so eigen-
brotlerisch
so eigensinnlich eigen
so eigenwörtlich jedes wort
die w:orte eigen
weil jeder tod
1 tod & nie metapher
so eigensprachlich stumm
ich nichts verschweigen will

so eigen-du
so eigen

WIR

(In José F.A. Oliver: wundgewähr. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 224 Seiten. 24,00 Euro.)
Ulrich Schäfer-Newiger

Sprache, Tod, Verwandlung


In dem sprachspielerisch geprägten Gedicht wählt José F.A. Oliver die ihm eigene Dichtersprache zum Ausgangspunkt seiner poetischen Darstellung.  Die besondere Eigenart seiner in Gedichten verwendeten Sprache war schon Gegenstand von Kommentaren und Rezensionen (vergl. z.B. Signaturen oder fixpoetry oder: FAZ vom 30.05.2018, S. 12 ).

Die vordergründige Eigen-Art dieser Dichtersprache besteht vor allem (aber nicht nur) im Auseinanderbrechen von Wörtern durch unübliche Getrenntschreibungen, häufig durch Einsetzen eines Doppelpunktes, wie schon im Titel des Gedichtes („sprachverw:ortung“) oder auch durch Zeilenbrüche, wie in anderen Texten des Bandes. Ein weiteres Darstellungscharakteristikum ist die Verwendung des &-Zeichens und der arabischen Zahlenzeichen („1 tod & nie metapher“). Es werden Wörter mitunter aber auch zusammengezwungen mittels eines Bindestriches („so eigen-du). Das Ergebnis dieses Verfahrens ist zunächst ein gewisser Verfremdungs- oder auch Erkenntnis-Effekt. Weiter gehört zu den Eigenarten der Gedichte des Autors ihre äußere Form. In dem Band, dem das hier erörterte Gedicht entnommen ist, sind die meisten Gedichte üblich linksbündig geschrieben, einige aber auch rechtsbündig und schließlich gibt es eine auffällige Zahl von Gedichten, deren Verszeilen symmetrisch, das heißt zentriert angeordnet sind, wie eben das hier behandelte.  ‚Auffällig‘ deswegen, weil diese besondere graphische Gestaltung von Gedichten eigentlich nie ernsthaft in Mode war und sich auch nicht allgemein durchgesetzt hat. Bekannt für diese auch ‚Mittelachsenlyrik‘ genannte Darstellungsform wurde der naturalistisch-impressionistische Dichter Arno Holz (1863 – 1929). Ob die gedachte Mittelachse in Olivers Gedicht mehr ist als eine optische Spielerei, sich also, im übertragenen Sinne, etwas um eine Mitte dreht, oder irgendeine über die bloße graphische Darstellung hinausgehende Symmetrie widerspiegelt, wird sich zeigen.

Die bereits im Titel verwendete, oben erwähnte Wortbrechung zeigt das gewollte Ergebnis dieser sprachspielerischen Technik: Ausgangsmaterial ist ein (nicht immer) unübliches Wort, hier: Sprachverwortung, dieses wird aufgebrochen mittels eines Doppelpunktes, und so entsteht in diesem Fall die gedankliche Assoziation des Begriffes ‚Sprachverortung‘. Die Sprache und die Dichtung, die gleich im ersten Vers erscheint, so können wir das verstehen, wird verortet durch Worte. Daher auch der sechste Vers: „die w:orte eigen“. Der Autor betont von Beginn an die Eigen-Heiten, das je Eigene seiner Dichtersprache und benennt sie auch: eigendeutsch, eigenbrotlerisch, eigensinnlich, eigenwörtlich. Diese Adjektive indessen sind unaufgebrochen, obgleich Bruchstellen denkbar sind. Aber sie gehören untrennbar zusammen, will der Autor uns sagen, diese Eigenschaften sind sein Ur-Eigenes, nicht von ihm, von seiner Person zu trennen.

Das Adjektiv „eigendeutsch“ bezieht der Autor ausdrücklich auf „meine dichtung“, nicht nur auf Worte oder die ‚Sprache‘. Die Sprache, in der seine Dichtung erscheint (oder entsteht), die deutsche nämlich, ist sein eigenes Deutsch, sie ist das Ergebnis seiner eigenen sprachlichen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. So können wir den Hinweis verstehen. Diese Betonung und zugleich Abgrenzung mag zum Hintergrund haben, dass Oliver bekanntlich noch eine weitere ‚Eigen-Sprache‘ besitzt, nämlich das Spanische.

Mit dem „Eigenbrötler“ übrigens, das sei hier eingeflochten, macht das Grimm‘sche Wörterbuch kurzen Prozess: „qui rem familiarem ipse curat. vgl. eigenlöhner“, es ist also jemand, der sich selbst um seinen Hausstand kümmert, sein eigenes Brot isst, bedeutungserweitert ein „Mensch, der sich absondert, seine Angelegenheiten für sich allein und auf seine Weise erledigt und andern in seinem Verhalten merkwürdig erscheint“ (Duden). Es geht also, positiv formuliert, um Autonomie, hier um Sprachautonomie, um Wortautonomie, um Schreibautonomie, die der Autor für sich reklamiert. Jedes seiner Wörter, erklärt er uns, ist eigenwörtlich, ist (s)ein eigenes Wort, Ausdruck seiner Autonomie.
Aber erschöpft sich der Eigensinn der Sprache des Dichters in ihrer optischen Darstellung und in zusammengesetzten oder aufgebrochenen Adjektiven, in Sprachspielen?

In etwa der Mitte des Gedichtes, nach oder inmitten dieser Sprachcharakterisierung, findet sich eine ganz merkwürdige, scheinbar inhaltliche Wendung, denn es taucht urplötzlich - der Tod auf, oder genauer, das Wort „Tod“ in Verbindung mit der Konjunktion ’weil‘: „die w:orte eigen / weil jeder tod / 1 tod & nie metapher“. Warum ist hier auf einmal vom Tod die Rede? Im Zusammenhang mit Eigen-Worten, – oder/und -Orten? Weil es einen solchen Zusammenhang zwischen Tod und diesen Eigen-Worten, den Eigen-Orten des Dichters gibt? Weil der Tod nach dessen Überzeugung nie Metapher sein kann? Also: Nie bildlicher Ausdruck sein kann für eine die Sache selbst treffende Bezeichnung? Weil es eine die Sache selbst treffende Bezeichnung im Falle des Todes nicht geben kann? Aber ist nicht jedes Wort, zumindest jedes Nomen, vereinfacht formuliert, so etwas wie ein ‚bildlicher‘ oder ‚geistiger‘ Ausdruck für eine Sache, ohne diese eindeutig, unzweifelhaft, unmissverständlich, für alle als richtig erkennbare zu bezeichnen, also quasi ohne diese Sache selbst zu sein? Stoßen die ‚Eigen-w:orte‘, die Sprache selbst, hier an eine Grenze, die erst der Tod erkennbar macht oder gar zieht? Ist damit ein Verhältnis von Worten (dem kleinsten Teil gesprochener oder geschriebener Sprache), und dem Tod bezeichnet oder gar geklärt?

Über das Verhältnis von Tod und Sprache haben sich nun schon einige den Kopf zerbrochen. Der zu Vielem etwas sagende Martin Heidegger hat auch dazu eine leidlich bekannte Äußerung getan (In seinem Essay ‚Das Wesen der Sprache‘): „Die Sterblichen sind jene, die den Tod als Tod erfahren können. Das Tier vermag dies nicht. Das Tier kann aber auch nicht sprechen. Das Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht.“ Heidegger klärt das Wesensverhältnis aber nicht auf; er denkt es nicht weiter.* Immerhin will Heidegger einen Wink für eine Erklärung erkennen, wenn „das Wesen der Sprache uns zu sich belangt“, wie er typisch verschwurbelt formuliert und damit vermutlich meint, dass die Sprache ein Wesenselement des Mensch-Seins ist, und fährt fort, wenn auch der Tod „mit dem zusammengehört“. Also Tod und Sprache als conditio sine qua non des Menschen, weil er mittels der Sprache die Zukunft, also auch seine eigene Endlichkeit erfassen kann, anders als die Tiere? Es fällt einem dazu noch die Äußerung von Elias Canetti ein, gemäß der alle Lebewesen, außer dem Menschen, unsterblich seien, weil sie den Tod nicht kennten. Aber das Verhältnis bleibt undeutlich und nicht eigentlich erkennbar.

Klarheit finden wir vielleicht, wenn wir im Gedicht selbst weiterlesen. Eine inhaltliche Wendung, oder besser: Verwandlung, erkennen wir nämlich gleich unmittelbar nach dem Vers über Tod und Metapher: Es ist dort nun nicht mehr von Worten die Rede, sondern eben von Sprache. Im Wort „eigensprachlich“ erscheint sie und in Verbindung mit dem Wort ‚stumm‘. „so eigensprachlich stumm“, sagt der Dichter, wolle er nichts verschweigen. Also: Seine aus ganz eigenwörtlichen Worten bestehende Eigensprache ist stumm und doch will er nichts verschweigen. Nach dieser scheinbar widersprüchlichen Aussage kommt im Gedicht ein großer Absatz und danach setzt sich die inhaltliche Verwandlung weiter fort: Weg vom bisherigen, alleinigen ‚eigen‘ hin zu „eigen-Du“ und „eigen-Wir“. Der Andere, andere Mensch kommt ins Spiel. Dieses Hinzutreten Anderer kann so verstanden werden: Solange andere Menschen nicht mitgedacht sind, ist die Eigen-Sprache stumm, denn Sprache ist ein Kommunikationsmittel, sie muss von anderen, dem Du, gehört und verstanden werden. Dann wird aus Worten Sprache, die hinweist und hinführt auf: „so eigen-Du“, „so eigen- / WIR“. Die Sprache ist es, die das je eigene mit dem Du verbindet, woraus das WIR wird. Daher ist das „WIR“ auch drucktechnisch hervorgehoben: In Großbuchstaben geschrieben, in der Mitte, auf der Symmetrieachse platziert, bildet dieses Wort die letzte Zeile des Gedichts, als ob es eine Conclusio wäre, die lauten könnte: Die „Sprachverw:ortung“ findet in einem gemeinsamen Ort statt, im WIR. Die Sprache, weiß Heidegger in seinem erwähnten Essay, ist das „Verhältnis aller Verhältnisse. Hegel drückt dieses Verhältnis in einer Stelle seiner Phänomenologie des Geistes so aus: Geist sei „Ich, das Wir und Wir, das Ich ist.“ Das selbstbezügliche Denken – hier dargestellt im ersten Teil des Gedichtes von Oliver – setzt gemäß Hegel bereits die Entwicklung komplexer begrifflicher Fähigkeiten voraus, die man nur in einer sozialen Gemeinschaft erwerben kann. Seine Sprache als ‚eigensinnig‘, ‚eigenbrötlerisch‘ oder ‚eigendeutsch‘ zu erkennen, setzt den Dialog, das Sprechen, die Auseinandersetzung mit Anderen voraus, die selbst auch eine eigene Sprache haben.

Und damit ist zugleich zumindest ein denkbares Verhältnis zwischen Sprache und Tod offengelegt: Wo geredet wird, wo miteinander gesprochen wird, ist kein Tod, sondern Leben, denn da wird das eigene Ich konstituiert. In seinem Gedicht „Kommt“ formuliert Gottfried Benn diesen Sachverhalt so: „Kommt, reden wir zusammen / wer redet ist nicht tot“.

Wo Sprache ist, so kann das Gedicht von José F.A. Oliver demnach verstanden werden, ist kein Tod. Um Sprache also dreht sich alles; sie ist die Symmetrieachse. Auf der einen Seite das Eigene, auf der anderen Seite das Du und in der Mitte das Wir. Der Dichter drückt diese Tatsache nicht pathetisch, nicht philosophisch oder psychologisch-sozial, sondern in seiner ihm typisch-poetischen Eigen-Art sprachspielerisch-verfremdet aus. Und an diesem Sprachspiel muss sich beteiligen, wer das Verhältnis zwischen Wort/Sprache und Tod gewahren will.



* Ein anderer solcher Kopfzerbrecher ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben; die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit dem Verhältnis von Sprache und Tod sind nachzulesen in dem Suhrkamp-Bändchen „Die Sprache und der Tod.“ Agamben umkreist darin im Grunde genommen aber den heideggerschen Satz wie die Katze den heißen Brei. Und findet auch keine Begründung für dieses ‚Wesensverhältnis‘.


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