Jan Kuhlbrodt: Ocean Vuong - im Nachgang
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Jan Kuhlbrodt
Im Nachgang
Ocean Vuong: Auf Erden sind
wir kurz grandios. Roman. Übersetzt von Anne-Kristin Mittag. München (Carl
Hanser Verlag) 2019. 240 Seiten. 22,00 Euro.
Zuletzt hatte ich enorm viel Zeit,
über die Lektüren des vergangenen Jahres nachzudenken, denn ich habe einige
Tage im Krankenhaus zugbracht, und ich hatte extra keine Bücher mitgenommen,
wollte gewissermaßen die Genesung durch eine Lektürepause unterstützen.
Dieses Vorhaben, vielmehr die
spezifische Rationalität, die mich zu diesem Vorhaben trieb, lässt sich im
Nachgang allerdings kaum begründen, denn anstatt einer Pause von den Lektüren
marschierten vor meinem inneren Auge die Bücher auf, die ich im vergangenen
Jahr zwar gelesen, über die ich aber nichts geschrieben habe. Zuweilen verspüre
ich angesichts einiger Titel eine Art Bringschuld.
Allen voran musste ich viel über
den Roman Ocean Vuongs denken, der „Auf Erden sind wir kurz grandios“ heißt und
über den einiges geschrieben wurde, der also breit besprochen ist. Vuong
bereiste auch Deutschland und hatte sogar einen kurzen Auftritt in einer ZDF-Kultursendung.
Er wurde gewissermaßen zum Star, in dem Maße wie Literaten in unserer
kurzlebigen medialen Welt zum Star werden können.
Eine solche mediale Anerkennung des
Autoren und seines Buches, das übrigens im Hanser Verlag in einer Übersetzung
von Anne-Kristin Mittag erschienen ist, macht mich für gewöhnlich misstrauisch,
zumal die Bücher, die ich für besonders gelungen halte, nicht selten im Betrieb
untergehen oder es gar nicht ins Aufmerksamkeitsmeer schaffen. Vuongs Buch
bildet also eine in dieser Hinsicht durchaus erfreuliche Ausnahme.
Die Geschichte, die in dem Buch
erzählt wird, die der Protagonist seiner Mutter erzählt, er schreibt ihr einen
Brief, paradoxerweise auf Englisch, denn seine Mutter ist dem amerikanischen
Englisch kaum mächtig, und sie ist Analphabetin, ist einerseits die Geschichte
einer Ankunft von vietnamesischen Einwanderern in den Vereinigten Staaten,
andererseits ist es aber auch eine Beichte. Der Protagonist beichtet seiner
Mutter seine Homosexualität.
Beides sind schmerzhafte Prozesse,
und sie enden nicht in einer Harmonie, zumindest dahingehend nicht, dass die
ausgesprochenen Probleme, allein aufgrund ihres Aussprechens, zu ihrer Lösung
führen würden. Die Marginalisierung der Einwandererinnen und des Homosexuellen
wird nicht dadurch aufgehoben, dass sie erkannt sind. Aber das Aussprechen führt
zu einer Art Trotz, der es dem Protagonisten ermöglicht, den ihm von anderen,
aber auch von sich selbst zugefügten Schmerz zu ertragen. Und zu kuriosen, fast
slapstickhaft wirkenden Situationen, wie zum Beispiel beim Kauf von
Ochsenschwänzen.
Soweit zum Inhaltlichen. Was mich
aber am Lesen hielt, und was meinem Leseverhalten nahekommt, war die Struktur
der Erzählung, die meiner Meinung nach dem geschuldet ist, dass Vuong vor allem
auch Lyriker ist. Das Buch ist nahezu strophisch aufgebaut, zergliedert sich in
viele einzelne Abschnitte, die fast autonom funktionieren. Im Zusammenhang
ergeben sie ein kaleidoskopisches Bild. Und die Durcharbeitung jedes einzelnen
Abschnittes ergibt einen Gesamtsog, dem ich als Leser letztlich lustvoll
ausgeliefert war.
In diesem Jahr werden bei Hanser
Gedichte Vuongs erscheinen, und ich bin schon sehr gespannt.