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Hannah Arendt und die Dichtung

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Jan Kuhlbrodt

Hannah Arendt und die Dichtung



1


Die Traurigkeit ist wie ein Licht im Herzen angezündet,
Die Dunkelheit ist wie ein Schein, der unsre Nacht ergründet.
Wir brauchen nur das kleine Licht der Trauer zu entzünden,
Um durch die lange weite Nacht wie Schatten heimzufinden.
Beleuchtet ist der Wald, die Stadt, die Strasse und der Baum.
Wohl dem, der keine Heimat hat; er sieht sie noch im Traum.


Dies ist ein Gedicht von Hannah Arendt aus dem Jahr 1946. Im letzten Vers bezieht es sich explizit auf einen Text Friedrich Nietzsches, dessen erste Strophe lautet:


Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!



2

Bis 1960 hat Hannah Arendt immer wieder Gedichte geschrieben. Ihre lyrische Produktion brach ab, als sie als Beobachterin am Eichmannprozess teilnahm.
Ob sie sich mit dem Gedanken trug, ihre Gedichte zu veröffentlichen, ist nicht überliefert, aber sie hat sie immer wieder abgetippt und in Mappen und Ordnern gesammelt. Anfang letzten Jahres sind sie bei Piper erschienen. Die Resonanz darauf war eher verhalten.

Das mag daran liegen, dass diese Texte im Kontext der intellektuellen Entwicklung der Autorin entstanden sind, und sie vielleicht gar nicht den Anspruch erhob, autonome Kunstwerke geschaffen zu haben, die eine Gültigkeit außerhalb ihres Entstehungskontextes beanspruchen.

Nichtsdestotrotz ist die Beschäftigung mit diesen Texten eine höchst spannende Angelegenheit, weil sie immer wieder Tore öffnen, Lektüren anziehen, Kontextstudien geradezu erfordern. Mir ging es jedenfalls so, dass sich neben dem Gedichtband ein Stapel Bücher bildete. Lektüre erfordert Lektüren, und diese ganz im Besonderen. Vielleicht gibt es auch verschiedene Formen des Lesens. Sucht man nach dem kristallinen Einzeltext, sind die Arendtschen Gedichte vielleicht nicht das richtige. Wenn man aber in der Lektüre den Prozess sucht, dann sind sie ein Einstieg in einen Denkkosmos, den zu betreten sich mehr als lohnt.

3

Fast parallel zur Ausgabe der Gedichte (im Piper Verlag) erschien ein weiteres Buch im Verlag [transcript]. Anne Bertheau: „Das Mädchen aus der Fremde“: Hannah Arendt und die Dichtung. Dabei handelt es sich um ein umfangreiches Werk, das Arendts Verhältnis zu dichterischer Produktion in verschiedener Hinsicht beleuchtet. Es endet mit einem Teil, der auf Arendts eigene Dichtung eingeht, legt aber bis dahin einen Pfad, der die Bedeutung der Rezeption für Arendts poetisches und theoretisches Schaffen beleuchtet. Und das Buch hat es in sich. Es ist eine Kurzfassung der Dissertation Bertheaus, die sie 2010 an der Sorbonne in Paris vorlegte. (Und wenn das schon die Kurzfassung ist, was ist dann die eigentliche Dissertation für ein Mammutwerk?!)

Wenn man hin und wieder eine Dissertation liest, weiß man, was das selber für eine Arbeit sein kann, man rackert sich zuweilen durch sprachlich eher spröde Texte. Nicht in diesem Fall! Bertheaus Buch ist sprachlich und auch inhaltlich ein lehrreiches Vergnügen. Es setzt ein mit dem Schillergedicht, dem auch der Titel entstammt, das für Arendt in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung hatte und von ihr zitiert wurde. Schon hier wird klar, dass Gedichte für Arendt über ihre autonome Kunstfunktion hinaus Erkenntnisspeicher waren, und dass in ihnen Möglichkeiten der Welterschließung liegen.

In diesem Sinne wird das Gedicht von Schiller zu einem mehrdeutigen Symbol für Hannah Arendt selbst: die Emigrantin, die sich nicht national definieren lassen will, deren Heimat die deutsche Sprache und Dichtung ist – sie schrieb selbst Gedichte und wurde zur Inspiration für weitere Lyriker, welche die Erde und Welt in kritischer Liebe betrachtet, die jedoch auch Entfremdung und Einsamkeit erleben muss.


Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. München (Piper Verlag) 2015. 160 Seiten. 20,00 Euro.

Anne Bertheau: Das Mädchen aus der Fremde. Hannah Arendt und die Dichtung. Bielefeld  ([transcript] Verlag) 2016. 416 Seiten. 44,99 Euro.


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