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Fundstücke - 2020

Poetik / Philosophie > Fundstücke
13. Der Mensch ist Ewigkeit.
Jch selbst bin Ewigkeit / wann ich die Zeit Verlasse /
Und mich in GOtt / und GOtt in mich zusammen fasse.
Angelus Silesius:
Cherubinischer Wandersmann 1, 13
1675
26.12.2020
Bewahre dich also, und sei da.

Die Dichtung, Weihe; ein Versuchen, in keuchen Krisen isoliert, während der anderen gärenden Trächtigkeit.
Stéphane Mallarmé:
Das Buch betreffend
1892
19.12.2020
Was sind Gedichte anderes als eine Operation am offenen Herzen?
Vor aller Augen
Und es ist dein eigenes Herz.
Dilek Mayatürk:
Brache
(Gedicht "Eingriff", S. 105)  2020
13.12.2020
Eine letzte kleine Abschweifung sei noch erlaubt. Sie betrifft eines der ungelösten Probleme der Lyrik, die seit dem Ende der Romantik weiterschwelen, die Frage: Von welchem Ort aus spricht das Gedicht, und wo ist es zu Hause? Wenn doch so viele der möglichen Orte bereits verwüstet und verlassen sind - der Wald, die Kirchhofseinsamkeit, das Meeresufer, jede Art von locus amoenus. Wo bleibt noch Raum für den Widerhall des Gedichts? Sollte es endgültig im schallisolierten Tonstudio angelangt sein, in den Fuinkhäusern, den Seminarbunkern der Literaturwissenschaft, als eines von vielen Opfern eines Strukturwandels der Öffentlichkeit? Wo gehört es noch hin? Sieht sein wahrer Schauplatz und anonymer Konzertsaal etwa so aus wie die sogenannten Transiträume der international airports?
Durs Grünbein:
Die Bars von Atlantis
(Kapitel 10, Moderne Höllen)
2009
05.12.2020
Man hat mich gegen meinen Willen zum Revolutionär gemacht. Doch ist der revolutionäre Drang niemals ganz spontan. Es gibt geschickte Leute, die bewußt Revolution machen... Man muß sich hüten, daß man nicht von jenen ausgenützt wird, die einem Absichten unterschieben, welche man selber gar nicht hat. Ich für mein Teil kann nie von Revolution sprechen hören, ohne an eine Unterhaltung zu denken, die G. K. Chesterton bei seiner Ankunft in Frankreich mit einem Schenkwirt in Calais hatte. Dieser beklagte sich bitter über das harte Leben und über den wachsenden Mangel an Freiheit. >Das war nun der Mühe wert,< sagte der Schenkwirt, >drei Revolutionen zu machen, um immer wieder am gleichen Punkt anzugelangen.< Chesterton machte ihn darauf aufmerksam, daß Revolution im eigentlichen Sinn des Wortes die Bewegung einer Triebkraft bedeutet, die eine geschlossene Kurve durchläuft und auf solche Weise wieder beim Ausgangspunkt anlangt.
Igor Strawinsky:
Musikalische Poetik
1960
29.11.2020
Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie [die deutsche Lyrik], bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ,Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ,grauere` Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ,Musikalität` an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang` gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. (GW III, S. 167f)
Paul Celan:
Antwort auf eine Umfrage der Libraire Flinker
1958
22.11.2020
Die Erfahrung des Seins ist also die Erfahrung einer STIMME, die ruft, ohne etwas zu sagen, und nur als deren "Widerhall" können das Denken und das menschliche Wort entstehen ...
Giorgio Agamben:
Die Sprache und der Tod
(Kapitel: Sechster Tag),
1982 / 2007
14.11.2020
Ich sage Buch. Ich meine Gedicht. Ich meine die Art und Weise, wie die Landschaft sich plötzlich in Schichten offenbart, wobei ein vertikaler Lichtstrahl einen Moment mit dem nächsten verbindet. Man tritt in eine Dimension ein - wird sich ihrer bewusst -, die immer gegenwärtig ist. Nicht immer sichtbar. Ich denke, wenn ich dafür empfänglich bleiben kann, wird mich dieses Licht vor dem Untergang bewahren.
Heather Christle:
Weinen
(Carl Hanser Verlag, S. 156),
2019


08.11.2020
Eine Flüchtlingsgesellschaft hungert nach Sprache und ist auf alles gefasst. Wörter auf dem Sprung. Wenn man Wörter lässt, tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen.
Anne Carson:
Die Autobiographie von Rot.
(Kap. 1: Fleisch, noch rot),
1998 / 2019
01.11.2020
Ich hätte gehörig Lust, zu grummeln, und wenn ich mit Ihnen am Ufer des Meeres, an einer Steilküste, spazierenginge, dann würde ich Ihnen, mein lieber Freund, ohne vorzugeben, den Mentor zu spielen, versuchen, ein Bein zu stellen und Sie plötzlich ins Meer zu stoßen, damit Sie, der Sie doch schwimmen können, sich in Zukunft unter der Sonne und mitten in der Strömung bewegen.
Charles Augustin Sainte-Beuve:
Antwortschreiben an Charles Baudelaire
(20. 06. 1857),



24.10.2020
Heute befinden wir uns in einer Situation der erzwungenen Esoterik, denn der Weg der Handlungen ist ausgelöscht, weil es die für jeden Augenblick gebotene Handlungsweise nicht mehr gibt. In jedem Augenblick werden alle Handlungen vollzogen, und deren Artikulierung wird nur noch als Anhäufung im Gleichzeitigen oder als Nebeneinander im Unbegrenzten wahr-genommen.
Roberto Calasso:
Der Untergang von Kasch
(Kapitel: Elemente des Opfers),
1983 / 1997


18.10.2020
Geschreibsel entsteht, wenn andere weiterschreiben, was jemand vorgeschrieben hat. Es speist sich aus dem Angelesenen. Bodenlos schwebt so das Gerede über der Welt. Nicht Lüge ist die Quelle des Geredes, sondern die Selbsttäuschung, alles längst schon verstanden zu haben. Gerede entbindet von jedem Nachdenken über die Worthülsen und leeren Diskurse. Es erzeugt ein Klima einfältigen Einverständnisses, dem nichts mehr verschlossen scheint und an dem jeder teilhaben zu können glaubt.
Wolfgang Sofsky:
Der Mensch glaubt alles, was er will: Über die dümmlichsten Ideen unserer Gegenwart
(NZZ, 19. 09. 2020)



10.10.2020
„Es ist phantastisch, und ich hab's geschafft! Natürlich ist noch viel zu korrigieren, aber es ist geschafft! Ich danke ...
    Wem? Augustinus schreibt in seinen Bekenntnissen (I. 1): "Es kann geschehen, daß der um Erhörung Flehende einen ganz anderen heraufbeschwört als jenen, den er rief - und er selbst ist sich dessen nicht einmal bewußt." In der Kunst besteht diese Gefahr ebenso wie in der Magie."
Thomas M. Disch:
Camp Concentration (21. Juni)
1968 - 1971



03.10.2020
„Von allen Arten sich Bücher zu verschaffen, wird als die rühmlichste betrachtet, sie selbst zu schreiben.
Walter Benjamin:
Ich packe meine Bibliothek aus,
Rede. Literarische Welt 17. Juli 1931
26.09.2020
„Im übrigen wird, da jedes Wort ja Idee ist, die Zeit einer universalen Sprache kommen [...] Diese Sprache wird eine sein, die von der Seele zur Seele spricht und alles zusammenfaßt, Gerüche, Töne, Farben [...]"
Arthur Rimbaud:
Brief an Paul Demeny, 15. Mai 1871

20.09.2020
„Wer treibt in uns an? Wir regen uns, sind warm und scharf. Was lebt, ist erregt, und zwar zuerst durch sich selbst. Es atmet, solange es ist, und reizt uns auf. Um immer wieder zu kochen, von unten her."
Ernst Bloch:
Das Prinzip Hoffnung. (Teil II, Das antizipierende Bewusstsein - Was als Därngen vor sich geht.) 1959
13.09.2020
„wenn ich so dichten würde wie die deutsche auswahl fußball spielt, hat der BRUETERICH nach dem 1:3 gegen argentinien gedacht ..., woraufhin es ihn ganz fies durchzuckte: aber genau so dichte ich doch! kläglich-verzagt in der abwehr, pseudo-rebellisch zwischen den strafräumen, und wenns drauf an-kommt abschlußschwach. besser läßt sich die BRUETERICH-sche lyrik eigentlich nicht beschreiben. in zukunft bitte weniger forsch!"
Ulf Stolterfoht:
wenn ich so dichten würde wie die deutsche auswahl fußball spielt
(in: Die 1000 Tage des Brueterich, roughbook 029 -  Eintrag: Lana, den
23. August 2012 / Toni Kleinlercher: Berge brauchen keine Menschen)
06.09.2020
„Es hat nie ein Dichter mit seinem Stoff gerungen. Wenn er mit ihm gerungen hat, war er kein Dichter. Mit seinem Stoff ringt der Literat. Der Dichter weiß gar nicht, was ein Stoff ist, ein von ihm unabhängiger, ihm gegenüberstehender. Was Stoff ist, weiß der Außenstehende. Für den Dichter ist dasjenige, was er dichtet, in dem Augenblick in dem er es dichtet, nichts weiter als ein Aspekt seiner eigenen Seele, ein Teil seiner inneren Dialektik, der aus irgend einem ihm tatsächlich unbekannten, gar nicht definierbaren Grunde einer Äußerung bedarf, diese Äußerung erzwingen muß, sie auch erzwingt, nicht aber auf Grund eines Ringens mit seinem Stoffe, sondern des Ringens mit seiner Situation innerhalb der Welt.“
Rudolf Borchardt:
Über den Dichter und das Dichterische, Reden
1920/23







30.08.2020
"Transmentale Wörter" in der Poesie sind nicht gleichbedeutend mit einem sinnlosen Repertoire von Lauten in der gewöhnlichen Rede. Da wir die vom Redeapparat ausgegebenen Laute als Sprache rezipieren, wird ihnen Sinnhaftigkeit zugeschrieben. Irgendeine Redeeinheit, die als Wort in Analogie zu einem anderen, bedeutungshaltigen Wort semantisiert wird, aber eigener Bedeutung bar ist, stellt dann den absurden Fall eines Ausdrucks ohne Inhalt, eines signifiant ohne signifié dar. Das Wort setzt sich in der Poesie im Allgemeinen und das "transmentale" Wort insbesondere aus Phonemen zusammen, die sich ihrerseits infolge der Untergliederung der lexikalischen Einheiten ergeben haben, ohne den Zusammenhang mit ihnen zu verlieren. Während aber im gewöhnlichen poetischen Wort die Beziehung zwischen dem Laut und einem bestimmten lexikali-schen Inhalt offen zu Tage liegt und allgemeinverbindliche Bedeutung hat, bleibt sie in der "transmentalen Sprache" der Poesie, dem allgemeinen Subjektivismus der Position des Autors entsprechend, dem Leser unbekannt. Das "transmentale" Wort in der Poesie ist nicht bar des Inhalts, sondern mit einem so persönlichen, subjektiven Inhalt versehen, daß es nicht mehr als Mittel der Übertragung einer in ihrer Bedeutung allgemein-verbindlichen Information, die der Autor ohnehin nicht intendiert, dienen kann.  

Jurij M. Lotman:

Die Struktur des künstlerischen Textes

(Kap. 6.3: Prinzipien der Segmentierung der Verszeile) 1970 / 1973



















22. 08. 2020
Die Bücher aber werden mehr und mehr zu den Trümmern eines Berges, der sich wie die Geschichte von Benjamins rückwärts fliegendem Engel auftürmt. Vielleicht gibt es Ordnung nur außerhalb der Zeit. Nicht aber in einer zunehmend ungeordneten Welt. Ordnung und Trost, und wenn schon kein Trost, dann doch eine gewisse Entlastung.

Jan Kuhlbrodt:

Regal I

(in: Die Rückkehr der Tiere) 2020



16. 08. 2020
Die Phantasie eines Kindes ergreift in einer Form von einer Geschichte Besitz, die man als eine Einheit bezeichnen könnte. Eine Geschichte, die, sagen wir, Erde und Unterwelt verbindet, bildet eine entsprechend flexible Einheit. Sie enthält nicht nur den Raum und auf die eine oder andere Art den Bedeutungs-gehalt dieser beiden Orte; sie versöhnt und vereint effektiv auch ihre Gegensätze und hält den Weg zwischen ihnen offen. Das Kind kann die Geschichte nach Belieben betreten, sich umsehen, all diese Dinge finden und in Ruhe über sie nachdenken. Indem es der Welt einer solchen Geschichte seine Beachtung schenkt, beginnt es, die imaginative und mentale Kontrolle zu über-nehmen. Eine Form der Kontemplation setzt ein. Und erst einmal ist jede Geschichte etwas ganz eigenes, ist jede solche Einheit der Phantasie wie eine ganz separate Welt, ganz gleich, wie viele der Kopf beinhaltet.

Ted Hughes:

Mythen und Erziehung, 1976

(in "Wie Dichtung entsteht", 2001)












09. 08. 2020
Das Spezifikum der modernen - "bürgerlichen" - Gesellschaft liegt eben darin, dass sie aus lauter (privaten) Individuen zusammengesetzt ist, die sich ständig neu in ihr verorten und zurechtfinden müssen; sie ist daher ständig in Bewegung und scheint dauernd von Zerfall bedroht zu sein. Gesellschaft manifestiert sich in der Moderne als eine Art Dauerkrise, die sich aus dem stets unabgeschlossenen Abgleichungsprozess zwischen Leuten ergibt, die nicht mehr gemein haben als das (typisch "bürgerliche") Problem der gesellschaftlichen Ortlosig-keit. Auch die individuelle, private Krise ereignet sich deshalb zugleich immer als eine Krise "in der Gesellschaft", das Ringen um individuelle Identität als ein Kampf um Sozialität, ja um Sozialisierbarkeit. Und das subjektive Erleben solcher Krisen bildet seitdem einen der wichtigsten Dreh- und Angelpunkte moderner Literatur.  

Katja Mellmann:

Literatur als Krisenerzählung. Von der Attraktivität des Krisenmotivs für die Literatur der Moderne

(in Kursbuch 170, Krisen lieben, 2012)










01. 08. 2020
Mein lieber Freund, ich schicke Ihnen eine kleine Arbeit, von der man nicht sagen sollte, sie besitze weder Kopf noch Schwanz. Das wäre ungerecht, da doch, im Gegenteil, alles an ihr zugleich Kopf und Schwanz ist, und zwar abwechselnd und jeweils aufeinander bezogen.

Charles Baudelaire:

Brief an Arsène Houssaye

(im Vorwort zu "Le Spleen de Paris")

1867/1869
25. 07. 2020
Ohne unsere eigene Fähigkeit, Fiktionen zu erzeugen, wären wir nicht zum Verstehen irgendeines Textes oder irgendeiner Dar-stellung des sinnlich nicht Präsenten imstande.

Markus Gabriel:

Fiktionen

(S. 121 - Suhrkamp Verlag, 2020)

18. 07. 2020
Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Flug-geschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht so sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist. Solche Topoi fun-gieren in unserer Welt, wie in modernen Kunstausstellungen die naturalistischen Titel unter abstrakten Bildern stehen. Das Unformulierbare ist das Unvertretbare.

Hans Blumenberg:

"Nachahmung der Natur". Zur Vor-geschichte der Idee des schöpferischen Menschen (In: Studium Generale 10, 1957)






12. 07. 2020
Ich las zuerst alles, was mir an dunkel klingenden Versen zugänglich war, es mußte nur hinreichend rätselhaft und unalltäglich gestrickt sein. Auch ein bestimmter Widerstand gegen die vorherrschende Sprachlogik und das eiserne Gehäuse der Grammatik fanden schnell meine Sympathie. Eine gewisse Vorliebe oder besser auch Schwäche für Hölderlins Nacht-gesänge, Trakls Salzburger Halluzinationen oder die Hymnen des Novalis ergab sich so wie von selbst. Es war die stärkste Dosis, die mir die deutsche Sprache, als Droge verabreicht, zu bieten hatte, und ich nahm davon, soviel ich kriegen konnte.

Durs Grünbein:

Vom Stellenwert der Worte

(Kap. 2, Skizze zu einer persönlichen Psychopoetik)

2010




05. 07. 2020
Bevor der Leser abspringt, weil ihm die Luft der Lektüre zu dünn geworden ist, biete ich ihm einen Happen Verständlichkeit ...  

Friederike Mayröcker:

études, 23.3.12

28. 06. 2020
Angesichts der Anhäufung ihrer Erfolge fiel es den Ländern des Westens nicht schwer, die Geschichte zu preisen, ihr eine Bedeutung und eine Finalität zuzuschreiben. Sie gehörte ihnen, sie waren ihre Sachverwalter: also mußte sie einen rationalen Lauf nehmen ... Und sie stellten sie abwechselnd unter die Schirmherrschaft der Vorsehung, der Vernunft und des Fortschritts. Der Sinn für die Schicksal-haftigkeit fehlte ihnen, jetzt erst fangen sie an, ihn zu erwerben, in Schreck erstarrt vor der Unentrinnbarkeit eines Nichtseins, das auf sie wartet, vor der Perspektive ihres Verschwindens. Sie sind aus Subjekten zu Objekten geworden und nun für immer jener Strahlung beraubt, jener bewundernswerten Megalomanie, die sie bisher für das Unwiederbringliche blind gemacht hatte. Heute ist ihr Bewußtsein so geschärft, daß der Grad der Bindung eines Geistes an die Ereignisse für sie zum Maßstab seines Stumpfsinns geworden ist.  

Emil M. Cioran:

Dasein als Versuchung

(Kap.: Eine abgehetze Kultur).:

1956 / 1983












20.06.2020

Sobald das Problem, wem Literatur und Kunst dienen sollen, gelöst ist, muß auch die Frage beantwortet werden, wie man den Volksmassen zu dienen hat. Um mit den Worten der Genossen zu sprechen: Sollen wir uns um die Hebung des Niveaus oder um die Popularisierung bemühen?
    In der Vergangenheit haben einige Genossen in gewissem, zuweilen beträchtlichem Maße die Populari-sierung mißachtet oder übersehen und in unangebrachter Weise die Hebung des Niveaus übermäßig betont. Auf die Niveauhebung soll man Nachdruck legen, aber es ist ein Fehler, das einseitig, isoliert und übermäßig zu tun.

Mao Tse-Tung:

Reden bei der Aussprache in Yenan über Literatur und Kunst,

(Schlußwort, II - 23. Mai 1942), 1967







13.06.2020

Die Tiere sind Geheimnisträger besonderer Art, zu deren neueren Körpereigenschaften es gehört, gerade im Gelingen immer behinderter in der Vollendung und Geschlossenheit immer vergeblicher zu werden. Mehr als die beste Zirkus-nummer ist es, bei lebendigem Leibe anachronistisch zu werden, völlig nackt, die falschen Sachen zu tragen. Es lässt sich sagen: In der Postmoderne werden wir, zumindest in einer Übergangszeit noch, von den Tieren als Clowns beschützt. Sie sind phantastisch ungeeignet, länger bei uns zu bleiben und bleiben als die, die verschwinden.
  Die Lyrik aber bewegt sich hier auf vertrautem Gelände. Sie ist in diesen obwohl tendenziell bösartigen Strukturver-schiebungen trotzdem naturgemäß zuhause. Sie kann Dinge so setzen, dass sie nicht mehr passen, damit sie sprechen.

Sebastian Unger:

Die Tiere wissen noch nicht Bescheid

(in: denkzettelareale - junge lyrik, Reinecke & Voß. 2020)










06.06.2020

Seit ungefähr halb elf Uhr abends bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer.
Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs,
nicht der Philosophen und der Gelehrten.
Gewissheit, Gewissheit, Empfinden, Freude, Frieden. Der Gott Jesu Christi.
Deum meum et deum vestrum.
Dein Gott ist mein Gott.

Blaise Pascal:

Aus dem "Gedenkblatt 913" /Mémorial)

1634






30.05.2020

»Der Hypochonder träumt und sieht am Himmel
 
Armeen, Flotten, wildes Schlachtgetümmel;
 
dann kommt ein Nüchterner und schaut und lacht:
 
was so ein Narr aus Wolken alles macht!«

Daniel Defoe:

Die Pest zu London

1722




24.05.2020

Ein Gedicht soll laut rufen,
           dann schweigen, uns Abgründe eröffnen,

nicht durch die Lektüre
(noch in den Wörtern spiegeln wir uns wieder)
          in seiner Stille, da wo wir nackt werden.

Hugo Mújica:

Lo naciente. Pensando el acto creador.

Übersetzt von Reiner Kornberger

2007


16.05.2020

[Erste Inspiration] Der Einfall als Überfall ist mir unbekannt. Meine Arbeiten sind nicht derart, daß sie auf einem Einfall stünden. Es gehören sehr viele dazu, und die >Inspiration< besteht eigentlich nur in dem Vertrauen darauf, daß sie sich einstellen werden. Der Zustand der Konzentration ist ein Zustand körperlich-seelischen Wohlseins, des Hörens und Schauens, in welchem aus dem inneren Vorrat irgend etwas sich lustbetont und hoffnungsvoll hervortut und mich glauben macht, daraus könne, wenn ich gut damit umgehe, etwas Merkwürdiges werden. Dabei ist die Konzeption regelmäßig sehr klein und bescheiden. Ich unternehme die Dinge, weil ich mir einbilde, daß sie rasch und leicht auszuführen sind.

Thomas Mann:

Antwort auf eine Umfrage zur Physio-logie des dichterischen Schaffens, 1

(in: Die Literarische Welt, Berlin, 4. Jg. Nr. 40, 1928)







09.05.2020

Jemand hat gesagt, Brecht hätte gewollt, daß jedermann gleich denke. Ich möchte, daß jedermann gleich denkt. Aber Brecht wollte es sozusagen durch den Kommunismus. Rußland tut es unter Regierungseinwirkung. Hier geschieht es ganz von selbst, ohne eine strenge Regierung; wenn es also ohne Bemühung funktioniert, warum kann es dann nicht gehen, ohne daß man Kommunist ist? Jedermann sieht gleich aus und handelt gleich, und wir machen immer weitere Fortschritte auf diesem Weg.
  Ich glaube, daß jeder eine Maschine sein sollte.
  Ich glaube, daß jeder wie jedermann handeln sollte.

Andy Warhol:

Warhols Tarnung des Selbstsinns durch Formalismus, seine nahezu perfekte Inszenierung (Interview in "Art News, 62/7", 33) 1963





02.05.2020

1. Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf.

Walter Benjamin:

Die Technik des Kritikers in 13 Thesen (in "Einbahnstraße", 33) 1928


26.04.2020

Degas hatte den Abend mit Mallarmé verbracht, der ihm die folgende Theorie über die Worter dargelegt hatte:
  Die Worte, so sagte er, können und müssen sich selbst genügen. Sie haben ihre persönliche Macht, ihre Kraft, ihre Individualität, ihre eigene Existenz. Sie haben genug Kraft, um dem Angriff der Ideen standzuhalten.

Daniel Halévy:

Degas parle

Paris 1995.



19.04.2020

Es ist mir bewusst, dass das dem religiösen Glauben ent-springende Solidarprinzip des Mitgefühls in einer zunehmend neoliberalen Gesellschaft an Bedeutung verliert. Wer aber bemüht ist, vom Ende her zu schreiben, sich mit seinen Schick-salsgenossen über ein Universalthema zu verständigen und zugleich Mitgefühl zu ermöglichen sowie Trost zu spenden, muss ein Dialogiker sein. Das ist es vielleicht, was Paul Celan meinte, als er Hans Bender schrieb, er "sehe keinen prinzipiel-len Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht".

Alexandru Bulucz:

Die angelehnte Tür des Gedichts (Nachwort zu "was Petersilie über die Seele weiß", Schöffling & Co) 2020.





11.04.2020

Wohin führt der Algorithmus dich: Eigenartigerweise führt er dich in nichts, was du nicht willst, und damit (aber auch) in nichts, was du willst - und das ist bekanntermaßen die Depression. Millionen Menschen wurden, ohne es zu merken: depressiv. Wenn sie es doch gar nicht merken? Dennoch fürchterlich. Ich denke, wir sagen nichts Falschcs, wenn wir sagen: Der Algorithmus führt in die Wunscherfüllung der Depression. Zuweilen aber kann ich ihn übertölpeln, in anderen Fällen weiß ich es nicht. Die Kunden, die sich als Kunden nicht verstanden, haben, wie bereits erwähnt, begonnen, aus Bequemlichkeit, mit ihren Wünschen zu bezahlen. So florierten die Wünsche in einem tief depressiven Gewimmel und alle hießen sich glücklich, will sagen, ließen sich glücklich heißen - schließlich. Welche Verheißung!

Monika Rinck:

Heida! Heida! He! Sadismus von irgend etwas Modernem und ich und Lärm! Fernando Pessoas sensationistischer Ingenieur Álvaro de Campos (Stiftung Lyrik Kabinett, Reihe Zwiesprachen /

Verlag Das Wunderhorn) 2019.







04.04.2020
Ich ringe mich empor in die
Zukünftigkeit
Blake

William Blake: Blake Books, hrsg. von G.E. Bentley jun. Oxford, 1969

28.03.2020
Das Übersetzen von Gedichten beginnt zuweilen ganz melodiös, also damit, in etwas hineingezogen zu werden, von dem man, da es nicht von einem selbst herkommt, nicht weiß, was es werden wird.

Marcus Roloff: Der Text der Anderen

(in "Mogk's Bierstubb in Platons Schneekugel", S. 15) 2019
22.03.2020
Der Status des Fremden prägt zutiefst das Wesen des Dionysos. Deutlich wird dies in der Art der Beziehungen, die er bevorzugt, wie auch in der Neigung, maskiert aufzutreten. Auf den Friesen mit den langen Götterprozessionen ist es die Maske, die dem Dionysos als Insignie seiner Göttlichgkeit dient: Er trägt sein "zweites Gesicht" mit einer Unbefangenheit zur Schau wie Hermes seinen Heroldsstab. Auf der François-Vase fallen die weitaufgerissenen Augen auf, starr auf den Betrachter gerichtet, der der Parade der Olympier folgt. Durch die Maske hindurch, die ihm seine figurative Identität verschafft, bezeigt Dionysos seine epiphane Natur als Gott, der unaufhörlich zwischen Präsenz und Absenz schwankt. Immer ist er ein Fremder, eine Form, die es zu identifizieren, ein Gesicht, das es zu entdecken gilt, eine Maske, die ihn ebenso verhüllt, wie sie ihn enthüllt.

Marcel Detienne:

Dionysos. Göttliche Wildheit
(Kapitel: Der befremdliche Fremde)
1986 / 1992









15.03.2020
In  meinem Haar wärmt sich der Wind.
Schon immer tragen die Väter den März
auf dem Rücken, als wäre er Rinde,
(...)

Hans Thill:

Der lange März
(in: Der heisere Anarchimedes
poetenladen Verlag 2020)

08.03.2020
Warten ist nicht so schlimm wie Sterben,
ich weiß, aber es ist schädlicher,
es erstickt das Leben.
Die Zeitungen sind wie die Literatur
der Kollegen, sie benutzen alle
das gleiche Wörterbuch. Das Kino
ödet mich an, soll ich die Seelsorge
anrufen oder die Wettervorhersage,
was sagt das Horoskop?

Jörg Fauser:

Warten (München 1979)
(in: Ich habe große Städte gesehen.
Die Gedichte.
Diogenes Verlag, 2019)



29.02.2020
Es gibt Menschen, welche Schlagworte wie Münzen schlagen, und Menschen, welche mit Schlagworten wie mit Schlagringen zuschlagen.
Nichts ist so verbreitet wie das Schlagwort. Es wird bis in die höchsten Geisteskreise hinauf gebraucht und hängt oft noch dem Scharfsinnigsten als Zöpfchen hinten.
*
Mit keinem Köder fischt Mephisto so glücklich, als mit allem, was im Engeren und Weiteren unter den Begriff des Schlagworts fällt.

Christian Morgenstern:

Über Schlagworte
(in "Stufen", Kap. Sprache, 1912) 1922






22.02.2020
Lassen wir uns zu den Alten hinab, holen sie uns ein? Gleichviel. Es genügt ein Händereichen. Leichthin wechseln sie zu uns über, fremde Gäste, uns gleich. Wir besitzen den Schlüssel, der alle Epochen aufschließt, manchmal benutzen wir ihn schamlos, werfen einen eiligen Blick durch den Türspalt, erpicht auf schnellfertige Urteile, doch sollte es auch möglich sein, uns schrittweis zu nähern, mit Scheu vor dem Tabu, gewillt, den Toten ihr Geheimnis nicht ohne Not zu entreißen. Das Eingeständnis unserer Not, damit müßten wir anfangen.  

Christa Wolf:

Medea Stimmen
(Vorwort) 1996





15.02.2020

Die Sprachwaschung, die ich mit den finnischen „Epigrammen“ vornehme, lässt mich natürlich an die Entwicklung der Lyrik denken. Welch ein Abstieg! Sofort nach Goethe zerfällt die schöne, widersprüchliche Einheit, und Heine nimmt die völlig profane, Hölderlin die völlig pontifikale Linie. In der ersten Linie verlottert die Sprache in der Folge immer mehr, da die Natürlichkeit durch kleine Verstöße gegen die Form erreicht werden soll.

Bertolt Brecht:

Profane und pontifikale Linie der Lyrik
(aus dem Arbeitsjournal 1940)




09.02.2020

Es muß dem Leser gehen, wie jenem Manne, dem in einem Guckkasten eine  prachtvolle Landschaft gezeigt wurde, in die er sich dermaßen vertiefte,  daß er den Duft der Blumen zu spüren und das leise Säuseln der Blätter  wahrzunehmen vermeinte. Er muß sich dessen nicht schämen, der Mann, wenn  auch tausend andere hineinblickend immer nur – ein Bild sehen. Es muß ein jedes Kunstwerk vor den  richtigen Beobachter kommen – und es muß bei jedem der richtige Maßstab  angelegt werden. Das heißt, dieser Maßstab fügt sich von selbst. Es  tritt so mancher an ein Werk heran, mit der Absicht, sich ein Urteil  darüber zu bilden. Dies ist ein töricht Unterfangen, denn eben dadurch,  daß er sich bemüht, sich über alles, was er empfindet, sofort Rechenschaft zu geben, reißt er sich stets vom Zauber los, der ihn umfangen will, – und sein Urteil wird kalt. –

Rainer Maria Rilke:

Der Wanderer (Gedankengang und Bedeutung des Goethe'schen Gedichtes)

1893










02.02.2020

In der Terminologie der Ästhetik ist wohl kein Begriff so aufschlußreich für die Problematik der Kategorie Säkularisie-rung wie der des Symbols. Nicht erst die Vielfalt der Wand-lungen und Aspekte macht diese Relevanz aus, sondern schon das Potential, das der Ausdruck >Symbol< aus seiner vorästhetischen Geschichte mitbringt. Zwar ist es richtig, daß >Symbol< vor Goethe noch keine ästhetische Spezifität besaß und auf dem Boden der Theologie, insbesondere der protestan-tischen Sakramentenlehre, eine fachsprachlich eng definierte Stelle einnahm. Aber diese Funktion entsprach ziemlich genau dem, was in der profanen Wortgeschichte angelegt war und was das dem Bezeichneten gegenüber spezifisch heterogene Zeichen von dem Abbild als der Vorstellung des Abgebildeten unter-scheiden sollte.

Hans Blumenberg:

Die Legitimität der Neuzeit

(Erster Teil, III)

1966










25.01.2020

Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen und gar sich bemühen, verzweigtere gedankliche Zusammenhänge getreu im Gefüge der Syntax aufzufangen, erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht; auch wo er die Wörter ganz gut kennt. Schließlich geht es vielfach um die Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschoben werden: der Sack wird geschlagen, wo der Esel gemeint ist.

Theodor W. Adorno:

Wörter aus der Fremde

(Vortrag für den HR - gedruckt in Akzente 1959, Heft 2)







19.01.2020

Die Lage der Person in der vom Markt definierten Ordnung sei schnell wiedererkannt, sagte er. Es sei die Lage der Minderheit. Wie dieser werde der Person nicht fehlerhaftes Verhalten vorgworfen, sondern fehlerhaftes Sein. Sie errege Widerwillen durch wenn auch noch so kleine Abweichungen von einer Norm, die nun freilich nicht mehr für Personen, sondern für die Ware niedergelegt sei. Trotzdem werde sie von dieser majori-siert, jedes Warenexemplar werde für sie zum Vorgesetzten, gebe ihr von allen Seiten unausführbare Befehle, bringe ihr unausgesetzt ihren Mangel in Erinnerung, ihr unappetitliches Anderssein.

Christian Enzensberger:

Größerer Versuch über den Schmutz (3)

1968








11.01.2020

Die Utopie einer vollkommenen Sprache hat nicht nur die europäische Kultur umgetrieben. Das Thema der Sprachver-wirrung und der Versuch, ihr durch Wiederentdeckung oder Erfindung einer allen Menschen gemeinsamen Sprache abzu-helfen, durchzieht die Geschichte aller Kulturen.

Umberto Eco:

Die Suche nach der vollkomenen Sprache

(Einleitung, 1) 1994

05.01.2020

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