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Fundstücke - 2019

Poetik / Philosophie > Fundstücke
Vor allem hat sich die Form der Öffentlichkeit geändert: Innerhalb der sozialen Netzwerke entstehen Gruppierungen, Blasen, Teilöffentlichkeiten, die dafür sorgen, dass bestimmte Themen, Haltungen und Meinungen nach oben gespült werden, sozusagen an die Oberfläche der Aufmerksamkeit. Wir wissen ja mittlerweile, dass diese Bubbles problematisch sein können, weil sie sich selbst verstärken und kaum Polyphonie zulassen. Für literarische Texte im Internet bedeutet das, dass der Austausch mit und im Literarischen direkter, momenthafter, aber auch kollektiver passiert als zuvor.
Nikola Richter:
(im Gespräch mit Nora Zapf:)
Zur Verbindung von Aktivismus, Politik und den Literaturen im Netz
(in "Screenshots - Literatur im Netz", edition text + kritik, 2020)



28. 12. 2019
ich war so grosz wie jene Pappelrosen (Malven) : Blüte an
Blüte am hohen Stiel - ich streckte mich dann war ich auch
so grosz wie jene Pappelrosen der Himmel himmelblau und tiefer
Quellen Sucht und Grotte ........  oh sieh der schöne
schwarze Engel fliegt übers Meer zu dir die Flügel aus Robinien-
holz standhaft die Schwäne

1.10.11
Friederike Mayröcker:
études (Suhrkamp, 2013)





22. 12. 2019
The world is a fabric we weave daily on the great looms of information, discussions, films, books, gossip, little anecdotes. Today the purview of these looms is enormous—thanks to the internet, almost everyone can take place in the process, taking responsibility and not, lovingly and hatefully, for better and for worse. When this story changes, so does the world. In this sense, the world is made of words.
  How we think about the world and—perhaps even more importantly—how we narrate it have a massive significance, therefore. A thing that happens and is not told ceases to exist and perishes. This is a fact well known to not only historians, but also (and perhaps above all) to every stripe of politician and tyrant. He who has and weaves the story is in charge.
    Today our problem lies—it seems—in the fact that we do not yet have ready narratives not only for the future, but even for a concrete now, for the ultra-rapid transformations of today’s world. We lack the language, we lack the points of view, the metaphors, the myths and new fables.
Olga Tokarczuk:
Nobelpreisrede (The Tender Narrator, 2)
7. 12. 2019














15.12.2019
Haben die von meiner Mutter erzählten kleinen Begebenheiten mir den Anstoß für mein nun fast lebenslanges Schreiberleben gegeben, so die Werke der Kunst, und nicht bloß die Bücher, sondern in gleicher Weise die Bilder, die Filme (vor allem die "Western" von John Ford und die "Eastern" des Japaners Yasujirô Ozu), die Lieder (zuletzt, zum Beispiel, die von Johnny Cash und Leonard Cohen gesungenen) mir die zum An- und Erklingenlassen des Anstoßes lebensnotwendigen Formen, Rhythmen oder, bescheidener ausgedrückt, Schwingungen und Schwungkräfte gegeben.
Peter Handke:
Nobelpreisrede
7. 12. 2019






08.12.2019
FRAU MIT HIRN
was unterscheidet die
Poesie von der Prosa Sie kennen die alten Analogien die Prosa
ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der
ziemlich schnell hindurch rennt
oder
wenn sie mit dem Gehirn zusammentrifft entstehen Wellen ...
Anne Carson:
Frau mit Hirn
(in "Rot. Zwei Romane in Versen.
Rot Doc >) 2003, 2019


01.12.2019
In jedem Falle ist das, was ins Wort übergesetzt wird, ins Wort übersetzt ist, das Gedicht, der aus dem Dunkel des Unbewußten mit Hilfe des Traumes durch eine Art Arbeit des Traumes gewonnene Text.
Hans-Georg Gadamer:
Wer bin Ich und wer bist Du?
Kommentar zu Celans "Atemkristall", 1973
23.11.2019
Godard  zeigt [in "Die fröhliche Wissenschaft"], wie banal und hinterhältig zugleich das herrschende System mit  seiner Versprachlichung und Verstaatlichung der Dinge anfängt, indem er  aus einem Dictionnaire für Schulkinder zitieren läßt: Unter dem  Buchstaben "m" findet man das Wort "meilleur" (besser), und als  Beispielsatz dazu: "Kuchen ist besser als Brot." Unter dem Buchstaben "f" steht nicht Faschismus, sondern "famille und "fromage" (Käse). Und unter "a" steht "acheter" (kaufen), nicht "art". Zum Vergleich dazu etwa eine "Berliner Fibel" für Schulkinder der ersten Stufe:
"Der Abend kommt, es wird dunkel.
Das Sandmännchen im Fernsehen hat gute Nacht gesagt.
Nun gehen die Kinder ins Bett und schlafen."
Peter Handke:
Ah, Gibraltar!
(in DIE ZEIT, 11. Juli 1969)









16.11.2019
wenn fortschritt ist, was in eine kapsel
passt. ich verpuffe das heute;
ein schema, rundweg, ungehemmt.
Ayna Steigerwald:
tagslichtdosen, 16
(materialien Verlag, 2019)
10.11.2019
Der dichterische Zustand ist - und das muss man wiederholen, so selbstverständlich dies auch erscheinen mag - ein dritter Zustand, der nicht den Widersprüchlichkeiten und Unterschied-lichkeiten des Alltags unterworfen ist. Er ist eine Art Notation, die mit Wörtern geschrieben wird, jedoch in der Seele als Erschütterungen gedeutet wird, deren Auswirkungen sehr weit reichen, manchmal (da sie ihrem höheren Ziel näher sind) etwas erreichen, was keine Beziehung zum ursprünglichen Sinn der Wörter hat.
Odysseas Elytis:
Aller Anfang ist Poesie, 1974
(APHAIA Verlag, 2019)





03.11.2019
Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist es jedoch, daß die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen. Wie es in Nordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht "wie alle" ist, wer nicht "wie alle" denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.
José Ortega y Gasset:
Die Tatsache der Überfüllung
(in: Der Aufstand der Massen, 1929) 1931




26.10.2019
Die Dunkelheit jetzt ist wieder die Finsternis aus der Kinderzeit. Man sitzt allein in einem Raum, man selber ist in Sicherheit, aber es fehlt noch der, den man am liebsten hat. Vor Angst werdet ihr müde, und diese Müdigkeit ist der sprachlose, innerste Schmerz. Kein erleichtertes Aufspringen aus einem Gedankenspiel mehr; schwere und rundum erstarrte Gedanken-losigkeit.
Diese Müdigkeit ist nicht die gewöhnliche Müdigkeit, sie ist eine Art des Schmerzes, es sind die Schmerzen der Angst.
Peter Handke:
Die Geborgenheit unter der Schädeldecke (in: Als das Wünschen noch geholfen hat) 1974




20.10.2019
Ich tat, weit bis in den Abend hinein, nichts mehr als sitzen und schauen; es war, als bräuchte ich dabei auch nicht einmal atemzuholen. Keine auffälligen wichtigtuerischen Atemübungen oder Yoga-Haltungen. Du sitzt und atmest im Licht der Müdigkeit jetzt beiläufig richtig.
Peter Handke:
Versuch über die Müdigkeit, 1989/2012


12.10.2019
Da - schon fielen die ersten Tropfen, und ein Fenster nach dem andern entstieg seiner sterblichen Hülle unter Zurücklassung von mindestens einer Schiffsladung Vogelmist.
Meret Oppenheim:
Soviel wie wach im Schlafe sehen hören
(in "Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich" - Suhrkamp) 1943/2002
06.10.2019
Es gibt etwas, das das ganze Leben mitstrukturiert. aber kaum angesprochen wird, weil es kaum auszuhalten ist und deshalb selbst die größten Autoren dies unausgesprochen lassen: Das ist die Angst vor dem eigenen Verschwinden. Alles, was mit Panik zu tun hat. Ich habe mich wie in einem Experimentierraum hingesetzt und mir gesagt: Ich muss das wissen. Was ist das, was uns eigentlich am meisten angeht, weil es uns am unmittel-barsten betrifft, worüber aber am wenigsten geschrieben wird?
Hendrik Jackson:
Die Angst vor dem eigenen Verschwinden
(Interview mit Axel Helbig in Ostragehege #93) 2019


29.09.2019
Feuer gibt es nur an Rändern. An den Nähten des Getrennten, an den Übergängen, den Auf-, Vorbei- und Untergängen; Feuer am Horizont des Feuers, Sprechen am Horizont des Sprechens. Auf der Grenze, in der Naht, der Brandung. Jezt komme Feuer! Hölderlin. Mehr Licht! Goethe.  
Werner Hamacher:
Brouillon zu einer Phantasie über Feuer und Sprache
(in Mütze #1 - 2007/12)
22.09.2019
Meine Kunst lasse ich nicht liegen, ich müßte mir ewige Vorwürfe machen!

Clara Schumann:
Tagebuch, 1827
13. 09. 2019
Während einer meiner extremen Kopfwehattacken sagte ich das Gedicht „Love“ von George Herbert auf: "Liebe bot mir Willkomm; doch meine Seele schrak zurück, / In Schuld des Staubes, Schuld der Sünde. / Sie aber, Liebe, flinken Auges merksam, wie ich träg / Den Fuss kaum von der Schwelle setzte, Drang näher an mich, zärtlich fragend, / Ob etwas mir zu mangeln schien." Und es geht dann so weiter, dass die Liebe mich bei der Hand nimmt und lächelnd zu Tisch bittet. Ich glaubte, nur ein schönes Gedicht zu sprechen, aber dieses Sprechen hatte, ohne dass ich es wusste, die Kraft eines Gebetes. Im Schönen fand ich - Gott. Weißt du, wir haben keine Auswahl an Heilmitteln, es gibt nur eines, nur ein einziges Mittel macht die Monotonie erträglich, und das ist der Abglanz der Ewigkeit: die Schönheit. Passt das zu Fabrikarbeit und Bürgerkrieg? Ja. Das Leid gibt es. Die Gewalt gibt es. Den Hass gibt es. Und das Gute und Schöne gibt es auch. Und das Kreuz.

Simone Weil:
Brief an Jean-Marie Perrin (1941/2) -
in "Ungegliederte Gedanken über die Liebe Gottes" -erschienen 1962











07. 09. 2019
Es kommt viel darauf an, daß der Künstler in seiner eigenen Kunst in hohem Maße >erzogen< ist; aber seine Erziehung wird eher behindert als gefördert durch die üblichen Prozesse der Gesellschaft, die für die Erziehung des Durchschnittsmenschen ausschlaggebend sind. Denn sie bestehen weitgehend in der Aneignung unpersönlicher Ideen, die das verdunkeln und trüben, was wir wirklich sind und empfinden, was wir wirklich wollen und was wirklich unser Interesse erregt. Natürlich ist uns dabei nicht die Fülle erworbener Kenntnisse als solche im Wege, wohl aber die Konformität, die die Anhäufung von Wissen uns leicht aufnötigt.

T.S. Eliot:
William Blake, 1
1920







01. 09. 2019
Siehst du die kleine geflügelte Fliege, kleiner als ein Sandkorn?
Sie hat ein Herz wie du; ein Hirn, dem Himmel & der Hölle
offen,
Das in sich wundersam & weit; seine Tore sind nicht
verschlossen;
Ich hoffe, deine sind es nicht: darum kleidet sie sich in reiches
Gewand;
Darum bist du bekleidet mit menschlicher Schönheit, o
sterblicher Mensch.

William Blake:
Milton
(1, 15, 27 ff.) 1804/1810





24. 08. 2019
Ich erwachte eben und schaltete die Lampe an.

Ich schaltete die Lampe an und erwartete,
daß sie mich zu irgendetwas führt!

Es ereignete sich nichts.
Ich schaltete sie aus und wieder ein,

und wartete wieder, daß sie mich
wie ein Computer zu etwas führt.

Sie tat das nicht.
Das ist wahr.

Elke Erb:
31.7.13
(in "Gedichtverdacht", roughbooks, 2019)








17. 08. 2019
Laufe nicht hinter dem Eichhörnchen her.
Es hat doch
den Sternenrhythmus.

Fünf Sterne haben es
im lächelnden Fenster.

Renate Rasp:
Es geht doch noch einmal anders
(Neue Rundschau, Heft 1, 2011)

11.08.2019
„Jede Sprache, die der Freiheit nicht ausgenommen, wird am Ende zu einem Gefängnis; und es gibt einen Punkt, an dem sich Geschwindigkeit von Unbeweglichkeit nicht mehr unter-scheiden läßt. Die großen modernistischen Dichter waren die ersten, die sich dagegen auflehnten, und in ihrem Werk der Reife gehen sie über die Sprache, die sie selbst geschaffen haben, hinaus.

Octavio Paz:
Der Modernismo, 1965




03.08.2019
"Beim Lesen soll sich die Melodie einstellen."

Àxel Sanjosé:
Sprachlandschaften mit Krähen
(Süddeutsche, Antje Weber) 22.07.2019
28.07.2019
"Was ist ein Adjektiv? Substantive sind die Namensgeber der Welt. Verben bringen die Namen in Bewegung. Adjektive kommen von woanders. Das Wort Adjektiv (auf Griechisch Epitheton) ist selbst ein Adjektiv und bedeutet "hinzugefügt", "ergänzt", "addiert", "eingeführt", "fremd". Adjektive wirken wie recht unschuldige Ergänzungen, aber sehen wir sie uns genauer an. Diese kleinen importierten Mechanismen haben die Aufgabe, alles auf der Welt mit dem Platz zu verklammern, der seiner Eigenheit entspricht. Sie sind die Spannbügel des Seins."

Anne Carson:
Rot
(Kapitel: "Fleisch, noch rot: Was wurde mit Stesichoros anders?) 1998
(übersetzt von Anja Utler - S. Fischer Verlag) 2019


20.07.2019
"Je weniger Geld der Mensch hat, desto mehr spricht er vom Geld. Kein Volk redet in so vielen Literaturgeschichten so viel von seiner Literatur wie das deutsche. Keine Literatur ist geschichtsloser d. h. traditionsloser als die deutsche; jeder fängt sie hier bei Adam und bei sich an und endigt sie mit sich. Nirgends gibt es daher so viele Bücher, welche versuchen, dem Deutschen eine Geschichte seiner Literatur einzureden."

Franz Blei:
Zweiter Exkurs
(in: "Das große Bestiarium der modernen Literatur") 1922


13.07.2019
"Und bei dieser Gelegenheit (…) frage ich mich, ob nicht der Augenblick gekommen ist, die ganze Sichtweise, in der wir auf die Ereignisse der zeitgenössischen italienischen Poesie zu schauen gewohnt sind, ernsthaft zu diskutieren: im Zentrum eine Reihe der Avantgarden, zu ihrer jeweiligen Zeit: Symbolisten, Expressionisten, Hermetiker usw. bis zur Neoavantgarde der sechziger Jahre; zu ihren Seiten, in mehr oder weniger marginaler Position und mehr oder weniger integrierbar, alle anderen. Doch da letztlich unter diesen "anderen" sich einige der größten Poeten des Jahrhunderts befinden, sollte uns das nicht dazu bringen, das Schema zu revidieren und vielmehr von einer Duplizität der Linien zu sprechen, einer doppelten Richtung der Entwicklung, also mit einem Wort, einem doppelten 20. Jahrhundert?"

Giovanni Raboni:
Solmi, ein Unbekannter des 20. Jahr-hunderts
(in: "La poesia che si fa, Cronaca e storia del Novecento poetico italiano 1959-2004", Mailand, 2005
übersetzt von Klaus Anders






07.07.2019
Dann das du, wer immer du bist, das herunterstiert um zu sehen
ob's schon vorbei ist.
Dann bloß das Aussehen der Dinge nach ihrem
Angeblicktwerden.
Dann bloß das Aussehen der Dinge nach ihrem Gesehensein.

Jorie Graham: Akt III, Szene 2
(in: Region der Unähnlichkeit.
Übersetzt von Werner Hamacher,
Urs Engeler Editor - 1991/2008)
29.06.2019
„Ich bin in meiner Dichtung nicht interessiert – und zwar in wachsendem Maße nicht interessiert –, an jeglicher Art unge-wöhnlicher Sprache, jeder Art spezifisch poetischer Sprache. Ich glaube, mit zunehmender Meisterschaft wird Dichtung vom Vokabular her viel viel schlichter.“

Robert Duncan:
„Über das Schielen beim Schreiben“ - Gespräch mit Ekbert Faas, 1978.
(In: Schreibheft #73)
23.06.2019
Das Glücksgefühl lief beim Lesen mit - als Vorfreude - am Rückgrat entlang.
Poesie ist schlichthin Glück.

Elke Erb:
Mitteilung eines fremden Textes und des Anlasses dazu (in "Gedichtverdacht", roughbooks, 2019)
16. 06. 2019
Ein Jude so verrückt er hörte die Blumen
im Wäldchen           singen
& verstand ein jedes Wort
"solche Mittagsblumen hätten dich aus den Socken gehauen"

Jerome Rothenberg:
Der neolithische Traum des Rabbi Nachman (übersetzt von Norbert Lange)
(in "Polen / 1931", roughbooks 2019)
08. 06. 2019
Als empfehlenswert und der Entlarvung bedürftig gilt dem Volksmund schlechthin alles Hochgestellte, Ehrwürdige, Verbrämte, feierlich Getragene, idealistisch Aufgestockte. Anscheinend ist es dem dummen Volk, den dummen Kindern nicht ganz unbekannt geblieben, inwieweit die höheren Werte mit dem Devotionalienhandel zusammenhäängen. Daß Wundergläubigkeit und Täuschbarkeit nur die zwei Seiten einer schäbigen Medaille sind, hat sich herumgesprochen. Zumindest sorgt der Untergrundsvers dafür, daß es sich weiter herumspricht und daß das Mißtrauen gegenüber den Verklärungsorganen zunimmt. Weil aber die Entrückungsmächte als ganze schlecht zu fassen sind, hält man sich vorzugsweise an ihre Würdenträger und Sachwalter, die nun ihrer Würde entkleidet und auf den Boden der Tatsachen zurückbeordert werden, deren Existenz sie am liebsten aus der Welt eskamotieren würden.

Peter Rühmkorf:
Über das Volksvermögen
(VI  Ich will dir was erzählen) 1969











01.06.2019
Wir haben also bei der Sprache die Tatsache (und mir erscheint das offensichtlich), daß Wörter gewissermaßen als Magie begannen. Vielleicht gab es einen Moment, da das Wort 'Licht' zu blitzen schien und das Wort 'Nacht' dunkel war.

Jorge Luis Borges:
Denken und Dichtung
(in "Das Handwerk des Dichters", 2002)
26.05.2019
Das ist die Geschichte von der Romanze der Formen. Für uns alle gehören dazu numinose Mächte, Suchaufgaben und Verrichtungen des Geistes, Voraussagen über unseren Anteil an Geschichte, Ehrfurcht vor unseren „Vorfahren“ im Geiste. Ja, ich sollte sie beim Namen nennen, die Dichter, die meine Meister waren, denn sie werden nicht überall verehrt. Tatsächlich gilt Ehrfurcht in akademischen Kreisen eher als Laster denn als Tugend.

Robert Duncan:
Meine Meister, 1959
übersetzt von Friedhelm Rathjen
(in Schreibheft #73)



18.05.2019
das Licht und das Feuer

an der Sprachwurzel
ein Span vom Zeichen getrennt

Jean Daive: "ward gebaut" ,
übersetzt von Werner Hamacher
(Kap. Welt zu vier Wörtern) 1979/80
roughbooks 2019
11.05.2019
Man macht Entdeckungen beim Schreiben, wie bei archäolo-gischen Grabungen ...

Hélène Cixous:
Meine Homère ist tot ...
(Die sehr lange Reise/Victoires Auftritt)
2014 / 2019
05.05.2019
Als ich mein Haupt auf die Kissen bettete, konnte ich nicht einschlafen;  ein halbschlummerndes Nachsinnen bemächtigte sich meiner. Phantastische  Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten hohen  Grad von Lebendigkeit. Ich sah mit geschlossenen Augen den bleichen  Jünger der schrecklichen Wissenschaft vor dem Dinge knieen, das er  geschaffen. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen  ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen.  Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den  Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müßte den  Künstler aufs tiefste erschrecken, so daß er entsetzt der Stätte seiner  Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß der schwache Lebensfunke, den er  entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; daß das Ding, dem er  eine Art Leben eingehaucht, wieder in die Materie zurücksinke; und er  müßte einschlafen in dem Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse  über dem häßlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher  betrachtet hatte. Er schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die  Augen – an seinem Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge  auseinander und starrt auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber  aufmerksamen Augen.

Mary Wollstonecraft Shelley:

Frankenstein - Einführung
1818

















27.04.2019
Dies ist die Geschichte des Übergangs von einer Welt zur anderen, von einer Ordnung zur anderen - die Geschichte des Untergangs beider. Sie handelt von der Anfälligkeit der Ordnung, der alten Ordnung ebenso wie der neuen. Es ist die Geschichte ihres fortwährenden Untergangs.
Scheherazade und Far-li-mas: ihre Erzählungen vertagen den Tod, aber sie heben ihn nicht auf. Aufgehoben wird dagegen das Todesurteil.

Roberto Calasso:

Das Untergang von Kasch
(Kap.: In den Ruinen von Kasch), 1983 / 1997



21.04.2019
Schreib Dich: es ist unerläßlich, daß dein Körper Gehör bekommt. Dann wird aus unermeßlichen Quellen der Reichtum des Unbewußten hervorsprudeln. Unser Erdöl wird auf der Welt, ohne Dollars oder schwarzes Gold, unkotierte Werte verströmen, die die Regeln des alten Spiels verändern.

Hélène Cixous:

Das Lachen der Medusa
(Passagen Verlag, 2013), 1975 / 2010

14.04.2019
Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.
  Das ist wahre Freiheit.
  Das heißt es, Denken zu lernen.
  Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit, die Standardeinstel-lung, die Tretmühle - das ständige Nagen, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.

David Foster Wallace:

Das hier ist Wasser
(Rede 2005) 2012






06.04.2019
Ich kann mit dem jetzigen Begriff von Lyrik meine Lyrikfreunde über facebook zu Lyrikveranstaltungen locken, eventuell einige Lyrikschubladen öffnen und einige Lyrikbandbuchdeckel schließen. Ich kann mit ihm aber, im wahrsten Sinne des Wortes, wenig anfangen. Und letzteres ist nun aber genau das, was man von Begriffen erwarten darf. Wenn ich momentan sage: „Lyrik“, dann bezeichne ich damit zuallererst sprachliche Erzeugnisse einer bestimmten Szene, denn künstlerische Verfahren mit Sprache als Material, die gibt es auch anderswo.

Charlotte Warsen:

Kritik vs. Kommentarfunktion
(zu Lyrik und Kritik? Diskurs 2016)
Der ganze Aufsatz »




31.03.2019
Ich sage / sie sagt /
hin & wieder: ich will nicht
wie aus einer Grundschwäche
spricht eine Meinung Schwäche
spricht eine Schwäche Meinung

Elke Erb:

Spricht eine Schwäche Meinung
(in: Gedichtverdacht, roughbook 048)
1.11.2013 / 2019
24.03.2019
"Was ich zu Bachs Lebenswerk zu sagen habe: Hören, spielen, verehren und - das Maul halten!"

Albert Einstein:

Bei einer Umfrage der
"Illustrierten Wochenschrift" 1928
21.03.2019
Wortwart. Als hätten den goldenen Zweig
Gärtner vergessen bei der rostigen Pforte,
unweit der Brombeerhecke, du musstest
aufstehn und gehn nur ...

Uwe Kolbe:

Die sichtbaren Dinge, 2
(poetenladen, 2019)
17.03.2019
Ja, gib mir eine Stimme
gib mir die Stimme eines Sehers
um von der Schönheit Zeugnis abzulegen

Sigurdur Pálsson:

Stimmen in der Luft, 1
(in "Gedichte - Erinnern eine Stimme",
übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, ELIF-Verlag, 2019)
10.03.2019
Die Spuren des Geheiligten sind im Surrealismus allenthalben nachweisbar. Auf keinen dieser Punkte konnte der Rationalismus Freuds je eine befriedigende Antwort geben. Die spiritistische Parapsychologie, die Erbin der orphischen und neuplatonischen Mysterien, konnte den Erwartungen Bretons eher entsprechen, und sei es um den Preis einer partiellen Widerlegung, zu der ihn sein materialistischer und revolutionärer point d‘honneur trieb. Dafür, dass die okkultistische Lehre während der ganzen Geschichte des Surrealismus nicht aufgehört hat, für die Psychoanalyse eine Konkurrenz darzustellen, gibt es eine unerwartete Bestätigung in einem Ausspruch Freuds, den Jung in seiner Autobiographie auf etwas sarkastische Weise überliefert:
"Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: 'Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.' Das sagte er mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater: 'Und versprich mir eines, mein lieber Sohn, geh jeden Sonntag in die Kirche!' Etwas erstaunt fragte ich ihn: 'Ein Bollwerk - wogegen?' Worauf er antwortete: 'Gegen die schwarze Schlammflut -' hier zögerte er einen Moment, um beizufügen: 'des Okkultismus'."

Jean Starobinski:

Psychoanalyse und Literatur
(Suhrkamp, 1970)




















04. 03. 2019

Vor allem glaube ich, daß die Rhythmisierung ungeahnte Möglichkeiten einschließt. Rhythmus ist nicht nur innerhalb der Musik das elementarste, direkt körperlich wirkende Gestaltungs-mittel: die Freude daran, etwas zuvor Bekanntes wieder-zuerkennen, die Bedeutung der Wiederholung; eine Verbindung zum Pulsieren des Atems, des Blutes und der Ejakulation. Es ist falsch, daß Jazzbands ein Monopol auf die kollektive rhythmische Ekstase haben sollen. Dramatik und Lyrik können sie ebenfalls vermitteln.

Öyvind Fahlström:

Manifest für Konkrete Poesie, 1954
(in Schreibheft # 92 - 2019)






03. 03. 2019

Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder daruntergeschrieben. Wieder durch-gestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen, Das ist Erinnerung.  

Herta Müller:

Atemschaukel (Kap. Diktandohefte)
2011


23. 02. 2019

Sprache    behext das Innre das Schweigen und Gedächtnis
den chiffrierten Landschaften
aufprägen

Jean Daive:

"ward gebaut" (roughbook 047)
(übers. von Werner Hamacher, 1979/80)

17. 02. 2019

Es wird mir [das Wertvolle, das ich zu sagen habe] - wenn ich Glück habe - beim Schreiben bewusst werden und mich überrumpeln. Was ich beim Schreiben suche, ist diese Überrumpelung. Es ist die Richtschnur, nach der ich mein Tun beurteile - was nie leicht ist.

V.S. Naipaul:

"Zwei Welten". Rede anlässlich der Ver-leihung des Nobelpreises für Literatur im Dezember 2001

09. 02. 2019

Doch immer sind da auch noch ein paar Widerspenstige. Sie bleiben zornig am Rand des Kreises hocken, die Schlinge um den Hals, und erheben Geschrei. Wie Hunde den Mond an-heulen, und der Mond hört sie nicht, so schreien diese nach außen, wo niemand sie hört. Und weil sie nach außen schreien, nimmt man sie auch nicht allzu ernst. Sie sind eine Abwechs-lung im Alltag und sogar nützlich als Ventil für alles, was nicht einmal mehr im Traum zu schreien wagt.

Hans Erich Nossack:

Spirale II: Die Schalttafel

1956





03. 02. 2019

Der vor-moderne Mensch lebte in einer Bilderwelt, welche die «Welt» bedeutete. Wir leben in einer Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der «Welt» zu bedeuten versucht. Das ist eine revolutionär neue Lage. […]

Vilém Flusser:

Die kodifizierte Welt

(Merkur - Heft 359), 1978

26. 01. 2019

Unmöglich eine weibliche Art des Schreibens zu definieren, das ist von einer Unmöglichkeit die weiterbestehen wird, denn man wird diese Schreibart nie theoretisieren, umgrenzen, kodieren können, was nicht bedeutet, daß es sie nicht gibt. Aber sie wird immer über den, vom phallozentrischen System bestimmten Diskurs hinausführen. Sie findet anderswo statt und wird an-derswo stattfinden als in jenen Gebieten die der philosophisch-theoretischen Herrschaft untergeordnet sind. Sie wird sich nur von den Subjektivitäten denken lassen, welche die Automatis-men in Trümmer legen und entlang der Grenzen eilen, keiner Autorität je untertan.

Hélène Cixous:

Das Lachen der Medusa

(Passagen Verlag, 2013), 1975 / 2010








19. 01. 2019
Gebären ist ja ein Synonym für alle Formen des Schaffens, wir sind schwanger mit Projekten und Plänen und Gedanken und eben auch mit Kindern. Auf dieser Ebene gibt es eine große Aufladung. Neben der Vorstellung, dass durch die Vulva das Leben kommt, gab und teilweise gibt es auch immer noch die Vorstellung, dass es dort wieder verschwindet. Oder dass dies der Ort ist, wo wir auch mit anderen Sphären der Vorstellungs-welt kommunizieren können. All das ist positiv und kreativ und lustvoll.
Und so lange damit spielerisch umgegangen wird, kann ich das Potential darin durchaus sehen. Das Problem ist, wenn es - wieder einmal - biologisiert wird. Nach dem Motto: dass die wahre Kreativität der Frau in ihrer Gebärfähigkeit steckt. Oder dass Frauen so viel empatischer oder was auch immer sein sollen als Männer, weil sie gebären können. Das ist nicht nur sexistischer Unfug, sondern knüpft an anderen sexistischen Unfug an, der - nur mit umgekehrten Vorzeichen - erklärt hat, dass Frauen, weil sie eine Vulva haben, nicht in der Lage sind, am kulturellen Prozess teilzunehmen.

Mithu M. Sanyal:

Gebären ist ein Synonym für alle Formen des Schaffens

(poetin nr. 25, 2018)















12.01.2019

Wenn ich schreibe, kommt mir das, was ich beschreiben will, so nahe, als ob es mir gegenübersitzt. Oft heule ich beim Schreiben, weil ich mich so gut in alles hineinversetzen kann. Menschen, Tiere, ganz egal, mit allem, was mir nahe ist, kann ich mich völlig identifizieren. Ich bin dann dieses Ding.

Friederike Mayröcker:

Ich bin erst Mitte 70 ein wirklicher Mensch geworden

(ZEIT, 19.09.2012)

05.01.2019

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