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Fundstücke - 2018

Poetik / Philosophie > Fundstücke
Zeit jetzt, Zeit vergangen
Beide vielleicht schon in der Zukunft,
Und Zukunft in dem, was vergangen.
Doch wenn alle Zeiten immer jetzt sind,
Gibt‘s bei Zeiten keine Lösung.
Was vielleicht war, ist Abstraktion,
Hinterlässt nur eine fortwährende Möglichkeit
In unsrer Welt aus Spekulation.
T. S. Eliot:
Vier Quartette
(I Burnt Norton, 1)
1936



30.12.2018
Es gibt Menschen, die gibt es noch heute. Teuerste
Seelen, eingesponnen in ihre Verliese aus Schweigepflicht
und Restalkohol. Im doppelt verplombten Waggon
zurück von der Revolution. (...)
Jörg Schieke:
Antiphonia, VII
2018
22.12.2018
Abwendig hängt der Mond im Dunst,
mein Herz geht durch die Feuersbrunst
in glasig harte Kälte.
Christine Lavant:
[Abwendig hängt der Mond im Dunst]
(Anfang) [ca. 1960]
15.12.2018
Der erste Zustand ist im Haupt, der zweite im Herzen:
Der dritte in Lenden und Samengefäßen; der vierte
Im Magen & in grausigen, tödlichem, unnennbarem Gedärm;
Und wessen Tore sich in jene Reiche seines Körpers öffnen,
Der blickt auf seine wundersame Imagination.
William Blake:
[Imagination]
(The Complete Poetry and Prose of William Blake, 134) [1988]
08.12.2018
Stets ist es mir darum gegangen, das Gedicht zu verlassen. In Richtung auf ein schöner-größer-tiefer angelegtes Ding; wir waren wohl nicht konsequent, nicht mutig genug. Daher das ewige Unbehagen, Gefühl des Verrats bei der Arbeit an Gedichten - nicht die symbolische Funktion, die konkrete bedarf der Entwickung. Poetische Relevanz bemisst sich danach, in welchem Maß sich dieser Impuls vermittelt.
Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp, Monika Rinck:
Helm aus Phlox
(in Kap. 8: Lebensform) 2011


02.12.2018
Yeats wusste erst nicht, wie er sich verhalten sollte, aber der Zug fuhr langsam, es begann, ihn zu interessieren, und diese Geister sprachen ihn an. Ich bin mir sicher, zu dem Zeitpunkt dachte er noch immer, Georgie tue das nur, um ihn abzulenken. Nach der Fahrt übers Land mit der Southern Pacific wird er sehr schlecht drauf gewesen sein, denn das war damals wohl noch unan-genehmer als heute. Schließlich rang er sich dazu durch, den Geistern, von denen Georgie in ihrer Trance befallen war, eine oder zwei Fragen zu stellen. Und er stellte eine ziemlich gute Frage. Er fragte nämlich: "Weshalb seid ihr hier?" Und die Geister antworteten: "Wir sind hier, um dir Metaphern für deine Dichtung zu geben,"
Das kommt jetzt in sämtlichen Vorlesungen über englische Philologie vor, und was die Dichtung-von-außen-nicht-von-innen betrifft, war es der erste Beitrag seit Blake. Anders gesagt ist der Dichter nicht mehr die schöne Maschine, die laufend für sich selbst fabriziert, alles für sich selbst tut, fast wie ein Perpetuum Mobile der Gefühle, bis das Herz des Dichters bricht oder es wie das von Shelley am Ufer des Meeres verbrannt wird. Stattdessen kommt etwas aus dem Außen und dringt in uns ein.  
Jack Spicer:
Vortrag in Vancouver, 13. Juni 1965
(in Mütze #12,
übers. von Stefan Ripplinger)















25.11.2018
Wenn ich einige Tage lang nichts geschrieben habe, stellt sich ein körperliches Unwohlsein ein, so als wenn ich krank würde. Mein Verstand bewölkt sich, und der innere Druck nimmt enorm zu. Als ich jünger war, habe ich aus Prinzip jeden Tag geschrieben, einfach zum Training, so als wenn man einen Muskel trainiert. Das Schönste ist, einfach so zu schreiben, ohne Zweck und Ziel. Vielleicht in einem Raum zu sitzen und aufzuschreiben, wie der so aussieht. Ich liebe das, weil es ohne Druck ist und weil es einen daran erinnert, warum man überhaupt schreibt.
Kate Tempest:
Das Leben ist wundervoll"
(ZEIT-Interview vom 06.10.2018)






17.11.2018
Heute muss man zugeben, dass das Gedicht sicherlich nicht mehr der Gefühlsbeweger Nummer 1 ist. Schon mal bei der Lektüre eines aktuellen Gedichts geweint? Es ist also eine realistische Selbsteinschät­zung, wenn die Wirkung der Lyrik zuerst auf das Denken ausgerichtet ist und erst von dort aus eine emotionale Bewegung erzeugen will. Auf die Irritation und Erschütterung des Denkens kommt es an, um Raum für potentiell neue Gedanken zu eröffnen.
Christian Metz:
Poetisch denken, Die Lyrik der Gegen-wart (Kap. Warum Lyrik jetzt ?)
2018



11.11.2018
Armer, hilfloser todesfürchtiger Orpheus, ausgesetzt allzu vielem Übertragen und einer wie grenzenlosen Sehnsucht nach Verborgenem und Grundlegendem, einer Sehnsucht allerdings, die der Poesie selbst, wenn auch zumeist verborgen, inne-wohnen mag.
Franz Josef Czernin:
zungenenglisch, visionen, variationen
(Kap. Quidquid latet apparebit?, 11)
2014
04.11.2018
Ich mußte auf alles gefaßt sein. Und plötzlich ertrug ich die Ungewißheit und Erwartungsangst nicht mehr, ich eilte nach der Abteilung Chattorum res gestae, suchte meine Unterabteilung und Nummer und stand vor dem mit meinem Namen bezeichneten Fach. Es war eine Nische, und sie enthielt, als ich den dünnen Vorhang vor ihr wegzog, nichts Schriftliches. Sie enthielt nichts als eine Figur, eine alt und mitgenommen aussehende Plastik aus Holz oder Wachs, mit blassen Farben, eine Art Götze oder barbarisches Idol schien sie zu sein, sie war für meinen ersten Blick vollkommen unverständlich. Es war eine Figur, welche eigentlich aus zweien bestand, sie hatten einen gemeinsamen Rücken. Ich starrte eine Weile enttäuscht und verwundert. Da fiel eine Kerze mir auf, die an der Nischen-wand in metallenem Leuchter befestigt war. Feuerzeug lag da, ich zündete die Kerze an, hell stand nun die seltsame Doppel-figur beleuchtet.
Hermann Hesse:
Die Morgenlandfahrt, 5
1932












27.10.2018
Schlimm, meine Hand rührt sich nicht, jeden Abend, wenn ich schreiben wollte, schlief ich ein, Schreiben fand nicht statt. Nach einem verlorenen Wochenende erwachte ich heute gegen Mittag, ganz betäubt tauchte ich wieder auf. Das ganz aus der Tiefe stammende Gähnen. Tauchte voll ein in meine Müdigkeit, und jetzt: haufenweise Wörter. Ich schöpfe mein Gehirn ab, schreibe.
Sylvia Plath:
Die Tagebücher
(Smith College 1957 - 1958),



21.10.2018
Was gesagt wurde, kann noch einmal gesagt werden. Doch was gedacht wurde, kann nicht mehr gesagt werden. Vom gedachten Wort nimmt man Abschied für immer.
Giorgio Agamben:
Die Sprache und der Tod
(Epilog  - Das Ende des Gedankens), 1982 / 2007
13.10.2018
Die lyrische Öffentlichkeit, die sich im Zusammenspiel von Digitalem und Analogem ausdifferenziert hat, trägt die typi-schen Züge einer Subkultur. Zeichen dafür sind ihr Experten-tum, ihre eigenständige Netzwerk-Kultur, ihr Fokus auf die eigene Gattung "Lyrik". Die Szene ist jung, exklusiv und urban. In zentraler Randlage der literarischen Öffentlichkeit befindlich, haben sich die Lyriker*innen vernetzt, um neue Wege einzu-schlagen.
Christian Metz:
Aus "Poetisch denken" (Kap. Lyrische Öffentlichkeit"), 2018




06.10.2018
Man blicke in eine Erscheinung und man wird sehen, daß sie die Hülle einer anderen, tieferliegenden Erscheinung ist. Was tiefer liegt, ist das »Noumen« in Beziehung zu erstem, dem »Phänomen«. Vertieft man sich genauer in eine Erscheinung, so wird man etwas entdecken, was man ursprünglich dort nicht wahrgenommen hat, und es wird sich sogar als Gegenteil davon erweisen. Das ist das eigentliche Verhältnis von »es ist« und »es scheint«. Aber das »es ist« läßt sich auf eine ebenso sensible Weise erfassen wie das »es scheint«, und hier, in der Tiefe, wenn man sich dem »es ist« nähert, sieht man außer ihm das, was es »zu sein scheint«, indem es zugleich sein Gegenteil ausdrückt, d. h. das wahre »ist«.
Pawel Alexandrowitsch Florenski:
Aus "Meinen Kindern",
1916








30.09.2018
Zuallererst geht es mir um die Methode. Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: Über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen; sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann.
Peter Handke:
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, 1967







22.09.2018
Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedicht heute nur noch ein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die geeignete Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap shot festzuhalten.
Rolf Dieter Brinkmann:
Notiz, 1968




16.09.2018
Man wirft der dichterischen Sprache ihre Eigenweltlichkeit vor, ihre Hermetik, ihre Asozialität. Andernorts stellt man gerade diese Qualitäten ins Zentrum der Wertschätzung. Der Idiot versucht sich an Erstlektüren zu erinnern und an Widerstände, die sich mit zunehmender Annäherung in Genuss verwandelten - und da fallen ihm einige ein. Nachvollzug ist Erstbegehung. Doch Erstbegehung ist auch Nachvollzug. Da Poesie den direkten Weg nur dort geht, wo es keinen gibt, ist sie entweder dunkel oder eine Sprengung.
Monika Rinck:
Soziale Poetik und asoziale Poetik
(in "Risiko und Idiotie", kookbooks) 2015




09.09.2018
Wie also sieht das Fazit aus? So. Ich vergehe mich gegen das Ereignis des Gedichts, wenn ich seine Rätsel löse, und ich vergehe mich gegen das Ereignis des Gedichts, wenn ich sie nicht löse.
Kann es eine schönere Paradoxie geben?
Echte Paradoxien lassen sich nicht beseitigen. Man kann sie nur illustrieren.
Peter von Matt:
Der stehende Blitz.
(in Sinn und Form, 4, 2017)



02.09.2018
Alle Welt baut auf >Krummes<,
aufrichtige Rede ist abgeschafft.
Zu dir sprach ich, mein Herz, daß du mir antwortest!
Ein angeredetes Herz darf nicht schweigen,
denn die Sorgen des Herrn sind die des Dieners -
zu viel lastet auf dir!
Chacheperreseneb klagt:
(Schreibtafel der 18. Dynastie im Britischen Museum) um 1532 v. Chr.


25.08.2018
Komplexität, als ein Bestandteil unseres Bewußtseins, ist sehr attraktiv, neigt aber dazu, in jeglicher konstruktiven geistigen Anstrengung alles verfügbare Blut zu kommandieren. Aus ihr kann durch Selektion und Verallgemeinerung der Fülle der äußerlichen Effekte eine Form von Einfachheit entstehen. Andererseits kann man aber auch eine Form von Einfachheit erreichen, wenn man sich rein auf den Kern der Dinge konzentriert. Als Sprachstile bieten beide Formen Möglich-keiten für unterschiedliche Arten der Durchdringung, doch erfolgreiche Legenden nutzen die letztere.
Ted Hughes:
Krähe am Strand
(in: Wie Dichtung entsteht) 2001






19.08.2018
Erst in der letzten Arbeitsphase, als ich noch einmal die hand-schriftlichen Notate durchzugehen begann, nahm ich in vollem Umfang wahr, was geschehen war. Mit den ersten Lauten hatte sich, wie man bei einem Instrument vor dem Spiel prüfend einige Tasten anschlägt, mein subkutanes Lebewesen hervor-locken lassen und sich selbst angestimmt, sodaß es als leibliches Instrument fortan anwesend blieb!
Elke Erb:
Sonanz
(Vorbemerkumg - Urs Engeler Editor) 2008


12.08.2018
Es ist ein Prüfstein (ein positiver Prüfstein - ich behaupte nicht, daß er immer auch negativ gelte), daß echte Dichtung sich mitteilen kann, bevor sie verstanden wird. Der Eindruck kann bei vollständigerer Kenntnis bestätigt werden; ich habe im Falle Dantes und mehrerer anderer Dichter in Sprachen, in denen ich wenig geübt war, festgestellt, daß solche Eindrücke durchaus nicht der Einbildung angehörten.
T. S. Eliot:
Dante (Kap. Inferno) 1929




05.08.2018
In dieser Krise täusch ich mich in Levels
hinein, die ich noch nie betreten habe,

und frage mich: Wie stimme ich den Chor
auf antike Stadien des Vorbewussten ein?
Christian Filips:
Instant Krise ohne Deutungshoheit
(in: Heiße Fusionen, Beta-Album,
roughbook 005/045, 2010 / 2018)
29.07.2018
Immer mehr schlafen.
Traum
von einer langen Kette aus Geschehnissen.
Martina Hefter:
o.T. (in: Es könnte auch schön werden,
kookbooks 2018)
22.07.2018
Dichten [heißt] - Gerichtstag halten über sein eigenes Ich.
Henrik Ibsen:
Ein Vers (Sämtliche Werke in deutscher Sprache, übersetzt von Christian Morgenstern - Bd. 1, S, 187) 1903
14.07.2018
Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben.
    Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne.
    O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein mißratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab.
Friedrich Hölderlin:
Hyperion
oder Der Eremit in Griechenland (1, 1)
1797/(99)









08.07.2018
Somnambul bedingt ist auch das Fleckenhafte der poetischen Sprache: Die "kleine Form", eines Wortes, einer Verbindung, fängt die Aufmerksamkeit ein - nicht weil sie ästhetisch reizt, sondern sie fasziniert, weil sich darin plötzlich mehr vorfindet, als im Kranz meines Bewußtseins vorhanden sein kann. Nichts scheint selbstverständlicher als meine Rede, und doch stürze ich in die dunkle Grube eines Wortes, das ich schon immer zu kennen glaubte.
Franz Mon:
Die zwei Ebenen des Gedichts
(in: Akzente, 4. Jg. 1957)




30.06.2018
Angemessener würde man es eine Zusammensetzung lebendiger Teile nennen, die von einem einzigen Geist bewegt werden. Diese lebendigen Teile sind die Wörter, die Bilder, der Rhyth-mus. Der Geist ist das Keben, das ihnen innewohnt, wenn sie alle zusammenarbeiten. Man kann nicht sagen, was zuerst da ist, die Teile oder der Geist. Aber wenn eines der Teile tot ist, wenn eines der Wörter, ein Bild oder der Rhythmus nicht sofort  beim Lesen aufspringen oder lebendig werden, dann ist das Geschöpf verstümmelt und der Geist krank.
Ted Hughes:
Wie Dichtung entsteht
(Tiere fangen) 1967





23.06.2018
Poesie bringt Körper - Physis, Atem, Stimme - noch einmal zum Sprechen. Übersetzt Physis in Wortsprache. Bezieht Stimme auf Atem zurück.
    Auf diese Weise erzeugt sie, was sie ausmacht: Dichte?
    Nein.
    Intimität.
Ulrike Draesner:
Life after Life
(in Akzente, 2 - 2017: Nachdichten)


16.06.2018
Abwendig hängt der Mond im Dunst,
mein Herz geht durch die Feuersbrunst
in glasig harte Kälte.
Von einer frühen Älte
befallen sitz ich träg und krank
auf der verlaßnen Bahnhofsbank
und fürcht mich aufzustehen.
Was ist mir denn geschehen?
Christine Lavant:
(1915 - 1973)
Abwendig hängt der Mond im Dunst




10.06.2018
Die Freiheit, die die moderne dichterische Revolution begründet, ist eine dem Dichter zur Verfügung stehende Art und Weise, sein Gesagtes zu begleiten. Die Bedingung der Möglich-keit dieser Begleitung besteht in einer neuen, politischen Erfahrung des Sinnlichen, einer neuen, der Politik eigenen Weise, sich zu versinnlichen und das bürgerliche ethos im Zeitalter der modernen Revolutionen zu affizieren. Denn das Politische im modernen Zeitalter hat sich genau da eingenistet, wo für Platon und Aristoteles das Unbedeutende, das Nicht-Repräsentative war. Das moderne Dispositiv der politischen Repräsentation stützt sich auf eine nicht-repräsentative Darstel-lung [figuration], die ihr vorausgeht, eine unmittelbare Sichtbar-keit des Sinns im Sinnlichen.
Jacques Rancière:
Aus "Das Fleisch der Worte"
(I, 1, Der Platz der Lyrik), 1998









03.06.2018
Was vielleicht war, was doch geschah,
Weist auf das eine Ende, immer da.
Schritte dröhnen ins Gedächtnis
Den Weg abwärts, den wir nicht nahmen
hin zur Tür, die wir nie geöffnet,
In den Rosengarten. Meine Worte
Trommeln dies in dein Gemüt.
T. S. Eliot:
Aus "Vier Quartette"
(I, 1, 9 - 15), 1936



27.05.2018
In der Umwelt gibt es nichts, was nicht im verkleinerten Maßstab, im Ansatz mindestens, auch im Menschen vorhanden wäre; und im Menschen ist nichts, was nicht in -- sagen wir vorläufig -- vergrößerten Ausmaßen, jedoch zertrennt, sich auch in der Umwelt fände. Der Mensch ist die Summe der Welt, ihr gedrängter Konspekt; die Welt ist die Ausfaltung des Menschen, seine Projektion.
Pawel Alexandrowitsch Florenski:
Aus "Makrokosmos und Mikrokosmos",
dt. 1991



19.05.2018
„Alle Dichtung, so stelle ich’s mir vor, ist zunächst  ein Selbstgespräch. Ein Dichter geht in sich, er geht zu den Bildern  und den Gestalten, die er aus sich hervorholen muss, und wenn es ihm  gelungen ist – wenn die Bilder und die Gestalten in sein Werk  eingegangen sind und das Werk seine Leser erreicht –, dann beginnt  dieser Prozess noch einmal, doch jetzt in der anderen, spiegelverkehrten  Richtung.“
Jakob Hessing:
Auf der Grenze
(Münchner Rede zur Poesie 19,
Stiftung Lyrik Kabinett), 2018


12.05.2018
Der einzige Weg, ein Gefühlserlebnis künstlerisch zu gestalten, besteht im Auffinden einer 'gegenständlichen Entsprechung', mit anderen Worten: einer Reihe von Gegenständen, einer Situation, einer Kette von Ereignissen, welche die Formel dieses besonderen Erlebnisses sein sollen, so daß, wenn die äußeren Tatsachen, die sinnlich wahrnehmbar sein müssen, gegeben sind, das Erlebnis unmittelbar hervorgerufen wird.
T.S. Eliot:
Gefühlserlebnisse
(in "Hamlet"), 1919



06.05.2018
Ich sehe in meiner Nähe die Dinge so, als ob sie in weite Ferne gerückt wären und trotzdem greifbar blieben; als wäre ich ein Riese mit langen Armen und einem hohen Aussichtspunkt, doch mit kleinen Augen.
Lars Henken::
Wege nach Unheim
(in "tau - akute langwaffen"), 2018
29.04.2018
Die Ironie besteht in der Entwertung des Gegenstands; die Meta-Ironie interessiert sich nicht für den Wert der Gegenstände, sondern für ihre Funktionsweise. Diese Funktionsweise ist symbolisch: amor/umor/hamor ...
Die Meta-Ironie zeigt uns die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem, was wir "superior", und dem, was wir "inferior" nennen, und nötigt uns, uns jeden Urteils zu enthalten. Es ist keine Verkehrung von Werten, sondern eine moralische und ästhetische Befreiung, die die Gegensätze verbindet.  
Octavio Paz:
Die andere Zeit der Dichtung
(Kap. 6, Der Kreis schließt sich), 1974





22.04.2018
Was du innig liebst, ist beständig -
der Rest ist Schlacke;
Was du innig liebst, wird nicht hinweggerafft.
Was du innig liebst, ist dein wahres Erbe.
Wessen Welt? Meine? Ihre?
                                            Oder ist sie von niemand?
Ezra Pound:
Aus "Canto 81", 1948



15.04.2018
Schönheit ist die einzige Angelegenheit von Dichtung.
Der Rest ist Ablenkung: Diese heiligen oder edlen     
                                   Empfindungen, die komplizierten Ideen,
Die Liebe, Begierde, Sehnsucht: Gründe, aber nicht der Grund.
Robinson Jeffers:
Aus "The Beauty of Things", 1954

07.04.2018
Ich verwies zum Gedanken der Etüde auf die konkrete Poesie um mit anzudeuten, dass Form sich in jeder Dichtung finden lässt. Man ksnn sich von bestimmten Formen und Mustern befreien, wenn man will, aber man kann nicht der Form an sich entrinnen. Form ist durch Beschreibung gewonnene Wiederhol-barkeit. Und da können wir heute in der Poésie pure die Symbo-listen (die damit einen Akt der Befreiung inszenieren wollten) genauso auch etwa in Norbert Hummels Texten klar sichtbare Sets von Elementen finden, die sich wiederholend üben lassen.
Bertram Reinecke:
Etüden
(in "Betram Reinecke im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt", poetin nr. 24) 2018




01.04.2018
Ich habe einmal ein Gespräch mit einem fremden Menschen abgebrochen und bin weggegangen, weil ich zu müde war. Heinrich Böll war dabei, und ich sagte zu ihm: "Ich habe diesem Herrn nicht gute Nacht gesagt", und habe ihn gebeten, es für mich zu tun. Und Böll sagte: "Der ist nicht existent, dem muß niemand gute Nacht sagen." Existent und nicht existent, das war ein genialer Ausdruck. Dieses Existentsein, ob man schon lebt oder tot ist, ob man schon da war oder nie da war, das ist für mich ein Begriff.
Ilse Aichinger:
Ilse Aichinger wird 75: ZEIT-Gespräch von Iris Radisch mit der österreichi-schen Schriftstellerin, 01. 11. 1996




25.03.2018
Auch wenn man spricht, die Währung müßte gedeckt sein durch Stille. Früher hatte man dieses altmodische Wort Betrachtung, das meint: genau hinschauen und lange hinschauen. Immer durch dieselben Straßen gehen und warten, bis man etwas entdeckt. Ich bin nicht für Abwechslung. Ich reise nicht gerne. Betrachtung ist für mich ein äußerst wichtiges Wort. Zu Beginn mag es langweilig sein, weil man es nicht beherrscht. Später kann man erfahren, daß Geist in der Welt ist. Immer die gleiche kleine Menge.
Ilse Aichinger:
Ilse Aichinger wird 75: ZEIT-Gespräch von Iris Radisch mit der österreichi-schen Schriftstellerin, 01. 11. 1996




17.03.2018
Sich klarmachen, worin die Notwendigkeit liegt. Vor allem, einen anderen Beruf haben. Schreiben ist kein Beruf. Heute nicht mehr. Die Sprache ist zersplittert, das müßte man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut. Aber die meisten schreiben rasch chronologisch und unaufmerksam vor sich hin. Sich als Autor allein zu definieren, ist heute nicht mehr möglich. Egal ob man Installateur, Krankenpfleger oder im Büro ist. Das ist noch eine andere Welt, auch wenn sie einen anödet. Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich "privat".
Ilse Aichinger:
Ilse Aichinger wird 75: ZEIT-Gespräch von Iris Radisch mit der österreichi-schen Schriftstellerin, 01. 11. 1996




10.03.2018
Es kommt nicht darauf an, jede Flocke der Wahrheit zu zählen, die herniederfällt; wohl aber, in der Imagination zu leben, wenn die Wahrheit abgezählt wird. Es kommt darauf an, aus der Imagination zu sprechen -
William Carlos Williams:
Kore in der Hölle
(Kap. "Frühling und Alles") 1923 / 1970
03.03.2018
Doch wer, wenn nicht ein spirituell  inspirierter, suchender Mensch, und sei er auch Katholik, könnte die  seelischen Dimensionen begreifen in dem, was zur Zeit vor sich geht? Die praktischen, ökonomisch-geopolitischen Zusammenhänge wer-den massenhaft  beleuchtet, während die Folgen für die innere Integrität, die geistige  Dimension des Menschen nur in dürren Annäherungen, hilflosen Porträts  mehr verschleiert als ausge-leuchtet werden.
Die Linke hat sich nach Kräften selbst demontiert, diskreditiert, angreifbar gemacht. Sie ist unendlich schwach geworden. Die Zeit der  großen autoritären oder utopischen Figuren ist vorbei (Adorno, Lenin,  Luxemburg – aber eben auch lyrisch: Char, Majakowski, Brecht).
Die "Rhizombildungen" oder intelligenten Schwärme, in die so viel  Hoffnung gelegt wurde, zermürben sich in Randgruppen-kämpfen und Kasusgerechtigkeitsscharmützeln. Das große Andere ist aus den Augen  geraten, verloren in der Depression nach der vollendeten säkularen Ernüchterung. Eine auf Blockwartakribie zusammengeschnurrte Vorstellung  von Ge-rechtigkeit, die permanent jeder Kränkung nachgeht, kann den wirklich Benachteiligten keine erlösende Alternative und den nach Utopien Dürstenden keine Vision mehr bieten. Die Versöhnungen und  Gerechtigkeiten bleiben dabei den bereits Etablierten vorbehalten, orientieren sich an Interessen Privilegierter, global gesehen.
Hendrik Jackson:
Seelische Dimensionen unserer Zeit
(In: Wiedergefunden: Die Blätter der Heiligen von Paul Claudel) 2018




















24.02.2018
"Sollte Kunst etwas Exterritoriales jenseits der Alltags-routine sein?
So war es ja wohl auch mal bei den Griechen - etwas, um die Welt besser zu verstehen und um Gott näher zu sein. Theater hat in diesem Versuch, mit dieser Feier, die man macht, um sich selbst als Mensch besser zu verstehen, immer etwas Egozen-trisches. In den guten Zeiten der Volksbühne war es eine größere Feier, die keinen ausgeschlossen hat. Heute hat Kunst vielleicht nur als etwas Partisanenhaftes eine Chance. Man kommt kurz von den Bergen runter, macht eine Strafaktion und zieht sich wieder zurück."

Frank Casdorf, Peter Laudenbach:

Am liebsten hätten sie veganes Theater

(Kapitel: Hauptsache, man darf nicht "Neger" sagen, dann ist die Welt in Berlin-Mitte in Ordnung, 2013 ) 2017






17.02.2018

"Da die Summe des Mangels immerzu stabil bleiben musste, zahlte man mit dem, was sie aufrechterhielt, stabilisierte oder zumindest nicht verringerte. Erfüllung war um jeden Preis zu vermeiden, es musste schließlich weitergehen. Das brachte es mit sich, dass in den Besitz von Zahlungsmitteln zu kommen, nur dann möglich war, wenn Negativität zuvor ein solches Maß an Mangel gestiftet hatte, dass sich eine Situation ergab, in der Akkumulation als quasi neutralisierender Ausgleich gewertet werden konnte, aus dem sofort wieder neuuer Mangel hervor-ging. Wie eine Sucht, die sich immerzu selbst erneuerte. Arbeit war nicht vorgesehen, die gab es dort gar nicht mehr, es gab allerdings Abgängigkeiten. (...)"

Monika Rinck

aus: Kritik der Motorkraft,

(Episode XI) 2017/8

(brueterich press)








11.02.2018

Ich rede nicht über epische Gedichte. Wir alle wissen, wie lange die brauchen können. Ich rede von dem kleineren, unoffiziellen, domestizierten Gedicht. Wie kann ich es beschreiben? Eine Tür geht auf, eine Tür geht zu. Dazwischen sieht man ein Einzelbild: einen Garten, eine Person, einenWolkenbruch, eine Libelle, ein Herz, eine Stadt. Ich denke dabei an diese runden viktoria-nischen Papierbeschwerer aus Glas, an die ich mich erinnern, die ich aber nicht mehr finden kann, eine Welt entfernt von der Massenware aus Plastik, die die Spielzeugregale bei Woolworth besetzt. Diese Art Papierbeschwerer ist eine durchsichtige Kugel, in sich abgeschlossen, sehr rein, mit einem Wald, einem Dorf oder einer Familie darin. Man kehrt ihn von unten nach oben, dann zurück. Es schneit. Im Moment ist alles verändert. Dort drinnen wird es nie wieder sein wie vorher - nicht die Tannenbäume noch die Giebel, noch die Gesichter.
   So findet ein Gedicht statt.

Sylvia Plath:

Ein Vergleich (Wie ich den Romanautor beneide!),

(in: Ein Haus mit vielen Zimmern, editionfünf) 2015











04..02.2018
Das Ausschnitthafte bleibt in uns verhaftet, Wir suchen nach dem großen Bild, können es aber nicht finden, Alles ist nur der Ausschnitt eines Ausschnitts, Deshalb beginnen wir, Listen zu verfassen und Fragebogen auszufüllen: Wie viele Menschen mit Schusswaffen habe ich gesehen? Wie viele dieser Schusswunden waren als Einschüsse im Körper noch zu erkennen? Wie viele Tote fand ich unter Linden? Wie viele unter Eichen? Unter einer Straßenlaterne und so weiter.

Frank Witzel:

Grund unter Grund

(brueterich press) 2018





27.01.2018
Das Bewusstsein dessen, was Männer über eine Frau sagen, die ehrlich über ihre Leidenschaften spricht, hatte sie aus ihrem Zu-stand künstlerischer Unbewusstheit herausgerissen. Sie konnte nicht mehr schreiben. Die Trance war vergangen. Ihre Phantasie konnte nicht mehr arbeiten. Dies, so meine ich, ist eine äußerst übliche Erfahrung unter Schriftstellerinnen - sie werden durch die extreme Konventionalität des anderen Geschlechts be-hindert.

Virginia Woolf:

Berufe für Frauen

(Aus "The Death of the Moth and Other Essays") 2012

In: Ein Haus mit vielen Zimmern, 2015, editionfünf


21.01.2018
Das Dilemma des Lyrikers, des Dichters ist es, daß sein Material, die Sprache von Anfang an so vielen Zwecken gedient hat: vom Gekritzel in einem Pissoir zum näselnden Ton von der Kanzel, vom nüchternen Geschäftsbrief zur bluttriefenden Pro-pagandaphrase. Um Banalität und allgemeine Phrasen zu um-schiffen, muß er - zwischen vielen Untiefen lavierend - sich allmählich einen Stil, eine persönliche Ausdrucksweise zulegen. Allerdings kann es dabei nur allzu leicht geschehen, daß er ins entgegengesetzte Extrem fällt: eine gestelzte, gekünstelte Spra-che, womöglich eine schrille Sentimentalität, die vollkommen überzeichnet, was er wirklich fühlt oder fühlen möchte. Mit den Wörtern wirklich umgehen zu können, erfordert beinahe ein apothekerhaftes Abwägungsvermögen.  

Gunnar Ekelöf:

Aus der Werkstatt eines Lyrikers

(In: Der ketzerische Orpheus) 1999










13.01.2018

Ich habe mir auch vorgenommen, mal meinem Körper mich zu widmen; es ist doch eine Hauptsache, denn alle Kraft und Schaffensfreudigkeit kommt von ihm. Bei mir wenigstens, ich kann keine Verse machen, als wenn ich etwas Uebermaß von Gesundheit habe. Wenn ich gesund bin, sing' ich auf der Stelle was mir einfällt, und schmetternd ströme ich es aus, »das Sehnen meiner Nachtigallenbrust!« das unmusikalische Menschen mit allerhand schlechten Eigenschaftswörtern benennen, als da sind: heiser, quäkend, heulend, greulich u. s. w. Wenn ich aber Uebermaß von Gesundheit habe, dann mach ich mir die Verse selber, und nun laß Einen mir mit Eigen-schaftswörtern kommen! Ich bin so triumphesfreudig dann, daß ich über alle Eigenschaften in der Welt hinausschmettre; es wird wahrhaft grandios.

Annette von Droste-Hülshoff:

Brief Dezember 1840












07.01.2018

Neujahr

Ein Tag des Heils beginnt! Laßt alles Böse fern in Worten und Gedanken, jetzt sollt ihr an einem guten Tag nur gute Worte sprechen! Eure Ohren seien frei vom Zank, und böse Streitigkeiten sollen ganz beiseite bleiben, die neidische Zunge soll ihr Werk (auf einen späteren Tag) verschieben! Siehst du, wie der Himmel vom Weihrauchfeuer leuchtet, wie auf den angezündeten Opferherden die Ähre aus Kilikien knistert? Das Feuer flammt mit seinem Glanze auf dem Gold der Tempel und streut Licht in zitternder Bewegung hoch im Heiligtume aus.

Ovid:

Die Fasten

(I, 71 - 79), ca. 17 n. Chr.








31.12.2017

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