Franz Blei: Das große Bestiarium der modernen Literatur, Teil 2
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Franz Blei:
Das große Bestiarium der modernen Literatur
(1922)
Teil 2
Die großen Dichter Deutscher Nation
Abeles – nicht vorzustellen, wie eine so
große Menschheitsliebe in so kleine Gedichte hineingehen kann!
Aman – hat nur eine kleine Geschichte
von 11 Zeilen veröffentlicht, aber sie ist der Daumennagel eines Riesen.
Arnheim – hat sich mit einem Roman, in dem nur
Partizipialsätze vorkommen, so sehr selbst übertroffen, daß wir ihm raten, es
bei diesem einen Roman bleiben zu lassen. Nach solcher erreichter
Gaurisankarhöhe kann nur ein Abstieg folgen.
Beman – der größte Dichter der
allerjüngsten Generation. Statt einer Probe geben wir dem Leser unser
Ehrenwort.
Bernheim – seine unvergängliche Tat ist die
Abschaffung jedes Artikels in der deutschen Sprache. Sternheims schüchterner
Versuch charakterisiert diesen Verfasser doch als einen Schriftsteller des
Überganges.
Bronnen – sein Drama, in welchem der Embrio
seinen Erzeuger mit der Nabelschnur erdrosselt, hat dem traditionellen
jüdischen Familienproblem bis auf weiteres das größte Monument der Lösung
gesetzt.
Bumcke – um von ihm zu sprechen, müßte man
von allem sprechen, aber das Leben ist zu kurz.
Busse – man zittert, dieser Dichter
könnte einmal aufhören, denn die Nation würde den Schmerz nicht ertragen. Wir
raten, sich allmählich diesem Sirenengesang zu entziehen.
Cerfel – er läßt seine Lieder des ersten
Lebensjahres auf seine Windeln drucken. Der Effekt der Dichtungen wird durch
jenen auf den Olfactorius außerordentlich gesteigert.
Cohen – Verfasser eines Stückes, das zu sehen man nie müde
wird, weil man es nicht spielt.
Cori Noy – ist durch einen einzigen Vers
berühmt geworden, der so viel enthält, daß der Nachwelt nichts mehr zu sagen
bleibt.
Dedekind – hat gegen das Sprichwort Sotto
umbilico ne religione ne veritâ beides dort gefunden.
Donat– seit sie dichtet, nennt man
Gefühle nur mehr Donate.
Emann – ist trotz herrlichster Werke so
unbekannt geblieben, als hätte er den deutschen Schillerpreis bekommen.
Erfel – hat in seine Gedichte die
Menschheit so völlig hineingepreßt, daß sie außerhalb dieses Bandes nicht mehr
vorhanden ist.
Fecher – war durch seine proletarischen
Dichtungen der Retter des Vaterlandes. Das Proletariat gab seine Revolution
auf, als es an Fecher sah, wohin sie führe.
Flaischlen – seine Gedichte gehen so direkt zu
Herzen, daß man gegen die unvermeidlichen Überraschungen der ersten Lektüre
Vorsichtsmaßregeln treffen muß.
Gauke – seine Sonette stehen neben denen
Petrarcas, mit dem Unterschied, daß der Italiener nur eine Frau, unser Dichter
aber vier Dutzend unsterblich gemacht hat.
Gehmel – hat 999 Gedichte an seine Frau
gemacht; alles von ihr ist drin; nichts fehlt.
Ginzkey – ist der Stolz seines kleinen
Landes, das sich in seinem Unglück nur an ihm aufzurichten vermag.
Grataus – hat sich aus seinem Talent einen
kleinen Bezirk gemacht und ist da nie herausgegangen.
Grutschke – hat einen Einakter gemacht und
geschworen, einen zweiten erst dann zu dichten, wenn der erste vergessen ist.
Hauser – hat Dante so meisterlich übersetzt, daß seitdem der
Italiener ganz vergessen ist. So ist zu übersetzen!
Häubler – ist das Genie der
Wortzusammensetzungen. Er hat das berühmte Gedicht gemacht, dessen
vierundzwanzig Zeilen, jede zu elf Silben, nur aus einem einzigen Wortekomposit
bestehen.
Horlicka – sein Roman »Die Not von Wien« hat
die Bevölkerung dieser Stadt ihre Not vergessen machen. Der Roman ist
Österreichs einziger Ausfuhrartikel.
Huncke – sie hat ein Gedicht gegen Amerika
gemacht, über das Amerika schäumt. Huncke aber wird von Japan gehalten.
Hütersloh – hat, konsequent einen Versuch
eines im Namen Gleichklingenden weiterbildend, eine leider aus äußern Umständen
unvollendete Periode geschrieben: nach Verbrauch von 7860 Kilo Papier ging
dieses in Deutschland aus. Die wieder gehobene Produktion läßt hoffen, daß
Hütersloh seinen Satz vollendet.
Karlchen – seine bissigen Satiren machen
seinem harmlosen Herzen Ehre.
Kurcke – man hat zur Erklärung seiner
tiefen Gedichte eine Kommission eingesetzt.
Lienhard – hat den Erdgeruch entdeckt und
versucht, damit den Fußgeruch aus der deutschen Literatur zu vertreiben.
Lissauer – sein Lied gegen England erschien
unter glücklichen Umständen, hatte aber schlimme Folgen, denn es machte die
andern Nationen eifersüchtig auf ein Volk, das solch ein Genie besitzt. Sie
beschlossen daher Deutschlands Untergang. Es ist manchmal unpatriotisch, zu
schöne patriotische Verse zu machen.
Löbeles – hat grönländische Dichter so gut
übersetzt, daß das Übersetzen Mode wurde, wodurch wir leider eine Unmenge
Originaldichter verloren haben.
Marie Madelaine – die Wollust ihrer Gedichte stellt ihrer Keuschheit
das beste Zeugnis aus.
Mevers – eine Erzählung von ihm wurde ins
Französische übersetzt. Es sind schon wegen geringerer Ursachen Kriege
entstanden.
Molfskehl – hat ein Distichon geschrieben,
das nur einige Längen hindern, den Versen des Meisters gleich zu sein.
Mundelfinger – hat seine Trilogie Shakespeare
Goethe George nur mehr durch einen Namen zu einer Tetralogie zu erweitern:
Gundolf.
Nora,
Nusche, Nowak, Numberger, Niezki Nutschke, Nogiges, Nierendorf, Nowasis – eine Milchstraße von Sternen!
Unsere Mühe, sie einzeln festzustellen, war größer als die, sich diese Namen zu
merken. Man merke sie sich!
Ompteda – er ist so fruchtbar, daß wir alle
seine Talente nicht aufzählen können.
Pawalke – die Verse, die er den Musen
abringt, lassen den Geiz der Damen bedauern.
Presber – der Homer des deutschen
gutbürgerlichen Abtrittes.
Radau, Peter
Paul Emil Heinrich – hat sich
vier Vornamen gegeben in der Hoffnung, wenigstens mit einem von ihnen auf die
Nachwelt zu kommen.
Raube – ist unter allen knorrigen
Dichtern der Knorrigste.
Salus – seine Gedichte sind so
beruhigend, daß sie in Spitälern als Umschläge für Kranke verwendet werden. Der
Dichter ist auch Arzt – ist nicht Apoll der Dichter und Ärzte Gott?
Schering – hat durch seine Übersetzung
Strindbergs die Schwerverständlichkeit dieses Schweden erwiesen.
Schroiker – setzt alle seine Operntexte in Musik, was sonst nie
jemand gemacht hätte.
Sobelsohn – seine Verse sind einziger Genuß
einer Pension Berlin Augsburgerstraße. Egoisten wie Genießer schon sind lassen
sie den Dichter nicht bekannt werden.
Teitelbaum – hat die Milch seiner Amme in
freien Rhythmen bedichtet. Die gerührte Amme spendet ihm seitdem das doppelte
Quantum. Der Dichter ist die Freude seiner jungen Eltern.
Wrzizcinski – es gehört ein ungeheures Talent
dazu, mit solcher Vorsicht, Rhythmus, Reim, Harmonie, Sinn und Klang zu
vermeiden und doch solche herrliche Gedichte zustand zu bringen.
Zaruk – hat eine Hymne auf Zion verfaßt.
Als sie dort bekannt wurde, verließen die 7600 Juden Palästina.
Zuberbühler – für ihn wurde das Wort
»wurzelecht« erfunden.
Zur ideologischen Morphologiè der literarischen
Bestiae
Das Faustische Urviech
Bei
Bearbeitung der norddeutschen Fauna – soweit sie sich nicht mit der
europäischen Abart der felis leo palestinensis gekreuzt hat, welche Abart ihre
Behandlung im Bestiarium erfuhr – konnten wir einer immer mehr sich
aufdrängenden letzten Konsequenz aus den bisherigen Schlüssen uns nicht mehr
entziehen, und mußten wir zu der Annahme schreiten, daß alle jene
unbeschnittenen Tiere von der Gattung der genannten Wiederkäuer, die ihre
Hörner nur mehr zum geistigen Aufstoßen tragen, ihren Ahnen in einem Geschöpf
zu erkennen hätten, dessen exorbitante Reste in den verkohlten Wäldern des 30
jährigen Krieges gefunden zu haben wir so glücklich waren. Die Schwierigkeiten
der Rekonstruktion waren groß. Fest stand, daß wir es hier mit einem vollkommen
isoliert lebenden Tiere zu tun haben, das (zum Unterschied vom gleichfalls
isoliert lebenden romantischen Einhorn, welches jungfräuliche Geschöpf seine
Gehirntätigkeit in aller gottgefälligen Unschuld emaniert) sein Horn in
eifersüchtiger Weise nach innen gebogen trägt, wie uns ein tiefes Loch in der
Stirnwand und ein in das Hirn gehender hörnener Kanal bewiesen. Mit diesem
Horne hat also das Tier, statt sich oder seinen Daseinsprozeß in die Welt zu
integrieren, diese Welt gierig in sich selber integriert. Was wir zum Unterschiede
von einem faktischen Vorgange auf der menschlichen Ebene als die metaphysische
Seite des Nasenbohrens ansprechen müssen. Diese anatomische Kuriosität forderte
den Schluß heraus, daß dieses Tier sowohl sehr tiefsinnig wie sehr bockbeinig
gewesen sein muß, denn bei so aufreibender und unendlich zu denkender
Beschäftigung mit sich selbst, als welches das Nasenbohren
oder Hineinstopfen der Welt in sich selber beschrieben werden muß, ist eine bis
zu ibsenischer Tollwut gehende Gereiztheit gegen alle selbständige Umwelt
unmittelbare Wirkung, wenn diese Umwelt es wagt, den geschlossenen Kreislauf
des kompletten Ichgefühles zu stören. Der Starke ist am mächtigsten allein,
besonders unter dünner gesäter provinzialer Bevölkerung, wo der als ein Starker
mißverstandene Sonderling, das monströse Ich nämlich, eine gewisse panische
Wirkung übt und die Korrektur durch eine das schrankenlose Individualisieren
hassende, ja verachtende Gassenbubenschaft fehlt. Des immanent jähzornigen und
überheblichen Charakters unsres Tieres gewiß, schlossen wir auch sofort auf
bösartige Absonderungen, und richtig: die Analyse der Reste seiner
Hervorbringungen ergab, daß es seine Nahrung in Gestalt und Geruch des Problema
von sich gegeben habe, chemisch also bereits so gespalten, daß kein
Spatzenmagen mehr darin Nahrung gefunden hätte, zum Unterschiede von den Äpfeln
des freundlich spenderischen Pferdes. Diese boshafte Art, eine restlose
Verdauung durchzuführen, also nichts sonst zu scheißen als den abstrakten
Dreck, den Mist an sich, das vollkommen Verwertete – dies muß aus dem Umkreis
des Tieres jede Natur verscheucht haben. Was so egozentrisch fäkalisierte,
kannte nicht Vogel noch Käfer in seinem Umkreis. Kein Gemeingefühl, keine
engere Horde kann es gehabt haben, ja, daß es in der weiblichen Art vorgekommen
sein sollte, auch das ist, wenigstens theoretisch, undenkbar. Jedenfalls hat
ein ursprüngliches Mitteilungsbedürfnis ihm nicht ingewohnt, was seine
Beschränktheit auf den nordgermanischen Boden beweist. Wir haben uns daher auch
nicht weiter bemüht, Spanien, Frankreich, Italien oder andere gottes- und
himmelsüchtige Länder nach Spuren unseres Tieres zu durchforschen. Erscheint
doch in diesen Ländern durch das Vorhandensein eines echten Publikums das
Mitteilungsbedürfnis, auch wenn es dem literarischen Ego nicht ab ovo ingewohnt
haben sollte, in dieses per nationis gratiam einverleibt, woraus folgt, daß eine Entartung des kunstfertigen Tieres zum wildschweifenden
Schöpfer, der sucht, wie er sich selber verschlinge, nicht vorkommen oder
schlimmsten Falles nicht zu Ende kommen kann. Hier möchten wir zu bemerken
nicht unterlassen, daß ein ursprüngliches Interesse der Deutschen für ihre
Literatur natürlich nicht besteht, dasselbe vielmehr erst durch Parasiten und
Bakterien kritischer Art vermittelt werden muß. Das so erzeugte Interesse ist,
wie ohneweiters klar, ein krampf- und krankhaftes, denn es entsteht durch
Bildung, als welche ein äußerst unangenehmer und penetranter Aussatz ist.
Nach
vollendeter Rekonstruktion des Skelettes haben wir das so wiedergewonnene Tier,
das in sich selber eine Niete ist, als das »faustische Urviech« klassifiziert,
stolz darauf, den bisher illegitimen Bälgern der Gedankenblässe mit der
ungestümen Leiblichkeit damit einen Vater und dem nichts als Individuellen sogar
eine Vergangenheit verschafft zu haben.
Die Struktur des Meierschulze
Es war an
einem Maiabend des Jahres 1785, daß Friedrich Wilhelm Meierschulze aus einem
Hause der Metzgergasse in Königsberg trat, leichten Schrittes und stramm
gehobenen Hauptes, und ohne rechts und links zu blicken die Postgasse
hinunterging, wo vor einem scheunenartigen Gebäude eine Kutsche schon länger
auf ihn gewartet zu haben schien. Denn der Kutscher saß bereits auf ihrem Bock,
und sie rumpelte alsbald die Gasse hinunter, nachdem F. W. Meierschulze darin
Platz genommen hatte. Vor der Stadt schlugen die Pferde einen muntern Trab auf
der Chaussee ein, die nach Berlin führte, des Reisenden Heimatsort, in dem eine
zahlreiche Verwandt- und Bekanntschaft seine Rückkehr seit etlichen Jahren
schon ungeduldig erwartete, welch alle Zeit unser Meierschulze in jenem
Sanatorium zu Königsberg zugebracht hatte.
Sehr
gehobenen Hauptes, leichten Schrittes und ohne nach rechts und links zu sehen,
genau so verließ er das Haus. Und dessen war nicht Ursache
die feinwehende Frühlingsluft, die ihn umfing – er achtete ihrer gar nicht im
geringsten – und auch nicht, daß die Behandlung in dem Hause ganz ohne ihre
Widerwärtigkeiten gewesen war, im Gegenteil, sie war oft recht rigoros, ja hart
gewesen, wenn es auch der Patient nicht so gar sehr spürte. Denn er hatte in
seinem Dasein so viel ertragen gelernt, daß es ihm dauernd den Rücken krumm bog
– und diesen Schönheitsfehler zu korrigieren war er ja besonders in das
Sanatorium des berühmten Mannes gegangen. Und der Fehler war korrigiert. Der
Mann in immerhin schon gut mittleren Jahren hielt sich und stand und ging und
sprach aufrecht wie ein Pfahl. Es saß sogar in seiner kommoden Kutsche wie ein
Pfahl. Er hörte, brauchte man ihn später, diesen Vergleich nicht gerne. Denn es
war gar keiner, und gerade daran wollte er nicht erinnert sein. Er wollte
seinen überaufrechten Gang durchaus aus seiner Moral abgeleitet wissen, nicht,
nun, es muß gesagt werden, aus dem Stock, den er auf Anraten des alten
Professors verschluckt hatte, da nichts sonst helfen wollte. Als er nämlich die
Geschichte seiner Leiden dem Königsberger Hexenmeister erzählte, kam er auch
auf den Stock zu sprechen, den der alte König des öftern auf ihn hatte
niedersausen lassen, zugleich mit dem Paradox: daß man ihn »nicht fürchten,
sondern lieben« solle. Und da hatte schließlich der Königsberger, der doch
sonst ein Feinschmecker war, den sonderbaren Einfall und Rat für den gekrümmten
Patienten gehabt, er möge den Stock verschlucken, denn dann hätte er ja das
Mittel, das zur Liebe zwinge, im eigenen Leibe, zugleich mit der den Stock
schwingenden Kraft jenes, der die Liebe heische. Und nichts war einfacher als
das. Friedrich Wilhelm Meierschulze schluckte und hatte seitdem einen
aufrechten Gang, der etwas übertrieben aussah, aber immerhin Eindruck machte,
wie er aus der Kutsche merken konnte, fuhr sie durch einen Krug; denn da
standen die Bauernkerle bei seinem Anblick mit heruntergefallenen Armen und
sperrten Maul und Augen auf.
Wie sagte der alte Herr beim Abschied? »Handle so, als
ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Gesetz
werde!« Ja, das war, so wußte er, wohl die kürzeste Fassung eines von jenem oft
wiederholten Satzes, wobei es immer um Willen und Handlung herging, zwei Dinge,
welche das arme Metökenherz unseres Meierschulze außerordentlich erfrischten,
denn er fühlte sich, nach langen vergeblichen Anstrengungen zum Sein, durchaus
zum Handeln geboren, wodurch er in einem Enkel und mit Hilfe eines kleinen
philologischen Schnitzers – »das Leben ist ein Geschäft, drum handle« witzelte
der Enkel – mühlos vom Handeln auf den Großhandel kam. Mit dem Willen, da wird
es schon werden, dachte unser Held und schrie plötzlich laut auf »ich kann was
ich will«, so daß der fromme litauische Kutscher ganz erschrocken auf dem Bock
zusammenfuhr und ein Kreuz mit der Hand schlug, welche die Peitsche hielt. Denn
er hatte die Gotteslästerung gehört und ihn schauderte.
Was ihm der
alte Herr in Königsberg für den Anfang prophezeit hatte, das traf ein: daß man
F. W. Meierschulze eine Zeit lang für sehr krank halten und darum meiden würde,
aber daß dies kleine Martyrium ihn, wenn dies überhaupt möglich, nur noch
gesunder machen würde. »Das ist die Konkurrenz der veralteten Doktoren, wissen
Sie, die ihre Wut über meine Heilerfolge an Ihnen auslassen werden. Besonders
den Wilsen wird Ihnen gelegentlich einer arg verekeln wollen. Aber nur immer
aufrecht, lieber Freund! Und da Sie ja den Stock –«. »Ich weiß, Herr
Professor«, wehrte etwas in F. W. Meierschulze ab, denn der genannte Stock war
noch nicht ganz fest eingewachsen und rührte sich manchmal als ein richtiger
Fremdkörper, der er im immerhin fleischigen Leibe war.
Man mied F.
W. M. in der Tat. Man sah ihn nicht gern. Er litt. In der soi-disant Verbannung
tröstete es den unentwegt Aufrechten nur wenig, daß er sie mit einem Freiherrn
von Stein teilte, so nutzbringend ihm auch die Unterhaltung mit diesem Manne
war, der an unseres Helden Aufrechtheit eine etwas ironische
Freude zu haben schien. Es war wohl nur ein Scherz, doch Friedrich Wilhelm
Meierschulze liebte solche Scherze mit heiligen Dingen nicht; aber es gab ihm doch
einen hoffnungsvollen Trost, als der Freiherr einmal zu ihm sagte: »Tu es
Petrus et in hoc petro ...«
Darunter,
seinem König nicht dienen zu können, litt unser Held damals unsäglich. Denn es
fehlte so im Schachbrett seiner erkannten Pflichten ein Stein, und er war, auf
das unbesetzte Feld stierend, gezwungen, diesen fehlenden Stein noch stärker
als bisher zu denken, wodurch er sich ein theoretisches Wissen sowohl über
seine Königstreue wie über seinen Pflichtenkomplex erwarb, womit er dann vier
Generationen seiner Landsleute ausstatten konnte, ja, es profitierte sogar, und
bis an den Bauch, eine siebente davon.
Daß ihm das
Exil und seine vorübergehende Dauer vorhergesagt worden waren, bestärkte ihn in
seinem Glauben an die gelungene Kur und hinderte die Ausbildung eines
Ressentiments, wozu übrigens auch die Zeit im Exil zu kurz war. So kurz, daß er
es bald darauf überhaupt vergaß. Und dies um so leichter, als sich Meierschulze
inzwischen so ausgedehnt hatte, daß er sich selbstverständlich vorkam. Und da begann
er sich historisch zu konzipieren, was anfangs nicht ohne einige dialektische
Kunststücke abging, da es galt, das historisch Vergangene so in das
Gegenwärtige hineinzubringen, daß eine dem moralischen Habitus Meierschulzes
entsprechende Zukunft herauskommen mußte. Worin dieses schwierige Kunststück
der Geschichtskonstruktion versagte, darin kamen später andere Umstände zu
Hilfe.
Unser Held
konnte ein gewisses Lächeln nicht vertragen, das er an seinen im Süden und
Westen wohnenden Verwandten immer dann zu bemerken glaubte, wenn er das Wort
»deutsch« aussprach. »Ihr wollt mir wohl mein Deutschtum nicht glauben?« konnte
er da auffahren und machte sich bolzensteif mit Bauch heraus und Brust hinein, daß das zweireihige Jakett im Jägerschnitt nur so knackte. Er
bekam darauf verschiedene Antworten, je nachdem er, sein Enkel, sein Urenkel,
sein Ururenkel, sein Urururenkel die Frage stellte. Etwa diese: »Wir haben das
Deutsche nur nicht so jede Zeit parat wie du, weil es bei uns ein guter alter
Kasten ist. Nur Neuvermählte zeigen gern ihre Wohnungseinrichtung, die ihnen
selber noch auffällt, weil sie ihnen noch nicht ganz richtig gehört. Unser
alter Kasten, der steht schon so lang auf dem Fleck, daß wir ihn gar nicht mehr
merken.« – »Jawoll«, sagte da giftig Friedrich Wilhelm Meierschulze VIII, »auch
nicht, daß ihn Stück für Stück die tschechischen Würmer davon tragen.« Oder man
sagte ihm: »Wir können halt in der Herstellung eines Champagners aus Apfelmost
und Zucker so was besonders ehrenwert Deutsches nicht sehen, außer in der
Benennung dieses Sudes, den du ›Kaiserblume‹ taufst.« Darauf antwortete
hohnlachend Friedr. Wilh. Meierschulze IX: »Deutschlands Zukunft liegt auf dem
Wasser« und stimmte das Flottenlied an. Einer sagte ihm einmal: »Wenn
seinerzeit die Tschechen so wie ihr Preußen und Wenden und Sachsen deutsch von
uns gelernt hätten, dann wären diese verdeutschten Tschechen unsere Preußen,
und in Wien hätte man statt tschechische Klofars und Kramars mit einem lauten
ars deutsche Kramars und Klofars mit einem stummen ars, wie Ihr deutsche Bülows
und Quitzows mit einem stummen Weh habt.« – »Also du meinst, es sei eine
Rassenf rage innerhalb der deutschen Nation?« schnarrte Friedrich Wilhelm
Meierschulze X. – »Das meint er wohl nicht,« sagte ein Fremder, »sondern nur,
daß Sprachgemeinschaft noch nicht unbedingt Volksgemeinschaft oder gar
Kulturgemeinschaft bedeutet. Die englisch sprechenden Irländer sind deshalb
noch keine Engländer. Und die französisch redenden Vlamen noch keine Franzosen.
Zu Metöken werden jene, welche Sprache und Sitte der Eroberer annehmen.« – »Wir
Metöken?« – »Ja, in der Seele, dort, wo ihr den Staat herumtragt.« – »Und der
Staat ist nichts?« – »Er ist euer zum Gesetz der Welt
erhobenes Metökentum.« – »Handel und Gewerbe lagen in Griechenland allein auf
den Schultern der Metöken.« – »Wie heute in der Welt. Ganz richtig. Nur daß
damals Handel und Gewerbe nicht den Staat ausmachten wie heute. Neben Perikles
saß nicht ein Schneider im Amte kraft seines Schneidertums. Darum seid ihr heut
die Mächtigen, denn ihr habt heute die Macht des Staates, kennt daher nichts
als ihn und wollt nichts anderes als ihn, denn Zweck und Sinn eures Lebens
erfüllen sich nicht menschlich oder göttlich, wie es sonst der Brauch, sondern staatlich,
und das heißt ohne persönliche Verantwortung.« Nach solchen Debatten pflegte
der jeweilige Meierschulze auf sein wohlgeordnetes Besitztum zu sehen, seine
Kontore, Kanzleien, Krane, Lifte, W. C.'s, Schiffe, Soldaten und der
zweifelhaften Wirtschaft dieser oder jener seiner südlichen Verwandten
vergleichend sich zu erinnern, um allsofort wieder sein vollkommenes
Gleichgewicht zu finden. Aus dem er eigentlich nie gekommen war, denn er
verstand die andern gar nicht, und die andern ihn nur wenig. Auch deshalb, weil
man, um sich etwas zu verständigen, auf ein Deutsch sich geeinigt hatte, das
eigentlich kein Mensch redete. Und zudem war es ein reiner Zufall, daß sie
überhaupt miteinander und deutsch redeten. Ein anderes Mal ging ein Gespräch
so: »Lieber Bruder, du bist vortrefflich in der Not...!« – »Ohne mich« –
»Gewiß, ohne dich verloren in der heutigen Welt für Heutiges. Aber deine Art
schafft uns eben die Not! Ja, manchmal kommts mir vor, als ob du wie vom bösen
Geist besessen die Not extra schafftest, um dich so recht als Nothelfer zu
zeigen, dein Dasein schön zu beweisen, dem ohne die Not der Sinn fehlte, den
wir ihm zu geben gewohnt sind und den du aus deiner Art nicht anerkennen, kaum
verstehen kannst, weil er dir nicht Pflicht wird und der als Pflicht, als ein
so Selbstgesetztes, überhaupt nicht zu fassen ist.« – »Aber du siehst doch den
Zerfall überall dort, wo mein Pflichtbewußtsein nicht herrscht.« – »Und die
andern sehn den Verfall dort, wo es herrscht, oder sie geben ihren Verfall zu und sagen, dein Pflichtleben verursache ihn, denn es
verdränge das Leben. «Was du lebst, das impostierst du andern, denen es nicht
im Wesen liegt und bei denen es daher nicht gedeihen kann, wie bei dir. Das
nennst du dann Verfall der Welt, aber es ist nur deine bestimmte Welt, die auf
die ganze Welt ausgedehnt überall dort verfällt, wo sie eben nicht leben kann.«
– »Gut ist, was im heutigen Leben –« – »Verzeih die Unhöflichkeit der
Unterbrechung, aber wir wollen nicht aus Vergleichen gut und schlecht, wahr und
falsch bestimmen, denn das Urteil ist hier unwichtiger als dies, daß es und von
wem es und wie es ausgesprochen wird. Und da ist nichts weiter zu sagen, als
daß du in der heutigen Welt mit deiner Pflicht dich bis auf weiteres besser
behauptest als der andere, den nicht die Pflicht vollkommen definiert, wie du
sie allein kennst. Du bist nichts als der Stärkere in der jetzigen Welt, die in
ihrer augenblicklichen Artung deiner Art günstiger ist. Du hast wie die Juden,
die Schotten, die Norweger, die Amerikaner, lauter deinige Verwandte, die
größere Anpassungsfähigkeit an das heute Kurrante, und das ist für dich gut,
und deshalb auch, aber nur für dich, an und für sich gut, das Gute
schlechthin.« – »Ich handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als
allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können,« antwortete der
betreffende Meierschulze, nunmehr schon nichts mehr sonst als der leibhaftige
kategorische Imperativ. Und das ist sein Malheur, dachte der andere, daß dieser
Meierschulze mit uns sprachverwandt ist, und sich daher zugleich auch noch denken
kann. Er wäre sonst ein so umgänglicher Amerikaner.
Friedrich
Wilhelm Meierschulze machte sich seine Geschichte, denn Unsicherheiten der
Herkunft verlangten eine Ahnenreihe, die auch bis Wittenberg zustande kam. Bis
dahin. Denn da es ihm vor allem und auf nichts sonst eigentlich ankam als auf
das Fortschreiten, ließ sich in Hinsicht auf den Weg bis Luther nichts weiter
empfinden als die Freude, daß diese Zeiten wirklich überstanden seien,
die er mit Vorliebe und stiller Verachtung die ›dunklen‹ oder, redete er
öffentlich, ›finstern‹ nannte. Und er war glücklich, in der absoluten
Gegenwart, nach der er strebte – und die ihm auch die Zukunft einschlang –
keine andern Spuren jener finstern Zeiten zu finden als solche, die er sich
ästhetisch zurecht legen und damit, wie auch mit der universellen Bildung, vom
Halse schaffen konnte. Ja, es setzte ihn das Unhistorische seiner eigenen
Lebensform, welcher der Begriff der Dauer fremd war, erst recht in stand, jenen
Historismus zu produzieren, den einer die historische Krankheit nannte. Sie
bestand darin, daß der hermetisch in seinen Pflichtbegriff wie Insekt in
Bernstein eingeschlossene W. F. M. um sich ein Leben sah, dessen organisch sich
formenden Werte aus historischer Kontinuität des Seins – und nicht des Wollens
– sich produzierten, und die selber zu produzieren er sich ganz außer stand
merkte. So versuchte er, sich diese Werte aus der wissenschaftlich
disziplinierten Bildung wenigstens anzueignen, worin er auch bald jeden schlug.
F. W. Meierschulze wurde der wissenschaftliche Mensch schlechthin. Er wurde der
Mann, den man überall in der Welt und in allen Sprachen ›Professor‹ nannte. Er
verfaßte dickste Bücher über Malerei, trotzdem er den einen Maler in seiner
Familie als einen Taugenichts auslachte und einen anderen, der überhaupt kein
Maler war, ein malerisches Genie nannte. Er schrieb Abhandlungen über den
Geschmack, trotzdem er Stilformen aus dem Zweckgedanken erfand. Er beherrschte
sämtliche indianischen Dialekte, nur die deutsche Sprache schrieb er, daß einem
speiübel wurde. Er erfand das Gesamtkunstwerk mit ethischen Absichten, weil er
das Einzelkunstwerk mit ästhetischen Absichten weder zustande bringen noch
aufnehmen konnte. Nichts war vor seinem wissenschaftlich gedrillten Verstande
sicher, nicht einmal der Verstand selber. Denn gelegentlich verleitete ihn sein
in allem Gewesenen und Seienden herumvagabundierender und suchender
Bildungstrieb dazu, seinem Verstand eine mystische Maske zu geben und gegen den Verstand zu Felde zu ziehen: er wurde höchst verständig
verrückt. Aber das waren seltene Extratouren von sehr kurzer Dauer. Im Grunde
waren unserm Helden beide Formen, in denen Outsider der Familie gegen die
Aufklärung, diesen falschen Vertrag zwischen Wissenschaft und Orthodoxie,
protestierten, gleich zuwider: sowohl die Form Goethes, der zugunsten des
Denkens entschied, wie auch die Form der Romantik, welche zugunsten der
Orthodoxie entschied. Unser Held war für Schiller, für die Aufklärung und den
Fortschritt, seines ethischen Pflichtenkomplexes als des Normativen sicher.
Im
verschluckten Stock, dem physiologisch-anatomischen Erbstück der Familie
Meierschulze, besaß unser Held ein Attribut des Königs, der Stock und Pflichten
auferlegte, im eigenen Leibe. Der Untertan wurde sein eigener Untertan und erkannte
sich. W. F. M. propagierte den Demokratismus der Pflicht, die er hinreichend
abstrakt faßte, so daß sie leicht alle Konkretierungen annehmen konnte. Er
schuf damit keine Demokratie, die ja nichts als ein gefühlter Zustand ist,
sondern die Organisation.
Der Begriff
des Lebens deckte sich ihm mit dem Vorstellungskomplex einer zweckhaften
Organisation erkannter Pflichten, wobei sich die Pflicht immer mehr aus ihrer
bisherigen ethischen Kategorie herausbegab und gern jedem Ding als Etikette
aufgeklebt wurde, das sich ohne diese Tabulierung nicht hantieren ließ. Diesem
seinen Lebensbegriff ordnete unser Held auch die Wissenschaft unter, indem er
ihre Methoden zu ihrem Sinne überhaupt machte, – die Wissenschaft wurde nichts als
Methode, was sie gegen den bisherigen Sinn der Wissenschaft so sehr abhob, daß
die Meierschulzes nicht ganz unrichtig von einer deutschen Wissenschaft
sprechen konnten.
Friedrich
Wilhelm Meierschulze liebte es überhaupt, vor gewisse Begriffe das Wort deutsch
zu setzen, nicht nur aus dem begreiflichen nationalen Stolze des Herrn
gewordenen Metöken, sondern in wenn auch nicht ganz deutlich gewordner
Einsicht, daß die Sache in seiner Hand etwas anderes
geworden war. Er sagte zum Beispiel: »Der Deutsche Gott.« Oder er sprach von
deutscher Treue, etwas mit dem Tonfall, als ob es wo anders keine gäbe, und es
irritierte ihn wenig, als ihm – es war um 1866 – ein Bayer sagte, daß sich das
Wort deutsche Treue wie eine Übersetzung von fides punica ausnehme. Er parierte
damals mit »unabwendbarer Folge« – Meierschulze der Elfte sagte amerikanischer
»Logik der Tatsachen« – und er flüchtete sich in die Hegelsche Geschichts- und
Rechtsphilosophie, aus der sich eine Auserwähltheit jedes Volkes leichter lesen
läßt als die Juden die ihre aus dem alten Testament. Wenn Meierschulze sich auf
eine Diskussion von Rechtsgründen damals nicht einließ, so geschah es, indem
er, seines metaphysischen Rechtes wie seiner ewigen Seligkeit aus dem
alleinigen Glauben sicher, sich nur und auf nichts sonst als auf den Existenzgrund
berief. Seit Sadowa stützte er sich auf die Kanone und trieb Rechtsstudien auf
der Artillerieschießstätte. Das gab ihm so viel Sicherheit, daß er um diese
Tatsache sein Leben gruppierte, später als er es niederschrieb gelegentlich und
unter dem Pseudonym Heinrich Treitschke veröffentlichte. Meierschulze, der
klein zu bleiben geboren war, wäre ohne den geschluckten Stock auch klein
geblieben. Aber der Stock streckte ihn: er wuchs an ihm, wurde nicht größer,
aber massig.
Dieses
Prooemium meines deutschen Romanes, den zu schreiben nur Faulheit hinderte,
nicht die oft besprochene Unmöglichkeit eines deutschen Romanes, steht hier an
diesem Ort, weil es die wichtigsten Strukturteile der deutschen Seele enthält,
wie diese sich heute zeigt. Auch in den Belles lettres und ihren Verfassern.
Kapitel des Romanes enthalten mit allem Fleische, auf welches das Prooemium
verzichten muß, unter vielem auch dieses: Meierschulzes Italienreise, id est
seine künstlerische Ambition, seine Hochzeitsreise nach Paris, id est seine
erotische Ambition, seine Fahrt nach London, id est seine geschäftliche
Ambition. Enthält Das Wartburgfest, id est seine Religion. Sein Besuch bei
Bismarck, id est seine Politik. Sein Empfang Roosevelts, id
est auch seine Politik. Seine Depesche an Ohm Krüger, id est noch immer seine
Politik. Die Gründung des Palais de Danse, id est seine mit dem Geschäft
multiplizierte »Pariser« Erotik. Sein Kulturkampf, das ist sein Kulturkampf.
Sein Eucken, das ist sein Idealismus für Minderbemittelte. Sein Reserveoffizier,
das ist sein Idealismus für Höherbemittelte usw. usw.
Ich werde
den Roman doch noch schreiben und schenke den Stoff niemandem.
Der Freud
Der Freud
ist zunächst eine zu Fackelkraus analoge Sprachbildung. Mit überraschender
Weglassung des Vornamens und durch die Hinzunahme vertraulichen Augenblinzelns
gibt sich hier eine Bekanntheit und zugleich eine Intimität mit dieser
Bekanntheit, die nun ihren Ruhm auch in der ganzen Menschheit ausbreiten
könnte, ohne doch aufhören zu können, eine lokale und esoterische Bekanntheit
zu bleiben. Denn diese ganze begeisterte Menschheit würde eben bloß zu Wienern,
zu Lesern der Fackel und der psychoanalytischen Schriften: der Begriff der
Menschheit würde eingeengt statt erweitert werden kraft einer fluchartigen Affinität
der Leser zu ihren Autoren. Was den Freud anlangt, so verwandelte sich da der
Genius der Menschheit auf dem Lokus des Allzumenschlichen in den Genius loci
und der Wiener »Stock im Eisen« erhöbe sich zur Säule des Herakles, welcher
Name hinwieder nur das antike Pseudonym für den Fackelkraus ist, der insofern –
allerdings mehr Crêpe de Chine als Atlas – die ganze Schuld am Weltkriege
trägt, als und umsomehr er durch immer heftiger betonte Schuldlosigkeit seiner
Person Gefahr läuft – man soll den Gott nicht an die Wand malen – zum agnus dei
zu werden, das diese fremde Schuld dann hinwegnehmen müßte. Wie das
Sonntagspublikum unserer Zoologischen Gärten sich um den Affenkäfig drängt,
weil der Affen physiognomische, die Distanz scheinbar wieder aufhebende
Nähe zur Komik wird, so sammelt sich eine Waisenschar der illegitimen Kinder
ahndungsvoll um ihre Väter, den Freud und den Fackelkraus, in der verschämten,
aber zudringlichen Form des Abonnenten oder Patienten, Scheinkomplemente des
Wahlvaters, diesen zur Legitimierung von Schemen lockend, die er gezeugt durchs
Wort er weiß nicht wie und weiß es doch; und so muß er in unerhörter Weise mit
diesem Worte, dieser Sprache ringen gegen Neurose und Lektüre, als Arzt das
Leben, das er geschaffen, abtreibend, als Publizist wieder einsammelnd in sich,
was er ausgegossen. Der Fall, daß ein Publizist sein Publikum zurücknimmt, also
inmitten der Publizität diese selber aufhebt und nichts sonst schildert als die
Wonne des Wegschauens von dem, was seine Schilderung im Konkreten auswirkte:
welch eine Verzweiflung, die sich an den Worten erhängt, welch ein Schauder vor
der Erkenntnis seiner selbst, aber auch welch ein Genießen am Strick!
»Lieber
krank werden, als unbehandelt von solchem Arzte durchs Leben wandeln, der mit
der Lust, der Libido auf dem besten Fuße, dem Pferdefuße steht!« so ruft in der
hypokriten Gesellschaft, welche natürliche Bindungen nur noch markiert und der
die Kriege auf das Haupt kommen müssen, um der eingebildeten Übel wieder Herr
zu werden, das alte Maß der wirklichen Leiden wieder herzustellen, so ruft am
Generationsende aller Laster der Müßiggänger aus. »Lieber überhaupt lesen
können als nicht lesen können, was der Kraus über mich geschrieben hat,« so
ruft des in Wien so Vielgenannten namenloser Zeitgenosse, dessen von Gottes
Zuchtrute noch unbefriedigter persönlicher Masochismus sich wollüstig getroffen
fühlen will in dem allgemeinen Porträt dieser Zeit. Er nimmt die Gefahr der
Bildung in Kauf, die Gefahr des Zusammentreffens mit den bedeutenden Phänomenen
der Schrift, nur um lesen zu können auf dem Höllentore, wer er sei: ein
Schurke, ein Schieber, ein Schmock – aber er siehts gedruckt, gedruckt in der
ihm heiligen rotbroschierten Schrift, er ist da in ihr, immerhin
auf der Seite der Böcke, aber er ist da, er lebt, er hätte es nicht geglaubt!
»Dieser ist
mein vielgehaßter Sohn, an dem ich mein Mißfallen habe«, so verkehrt sich im
Munde des falschen Propheten das Wort, und nur bei dieser Verkehrung wohnt das
Blasphemische solcher Schriftstellerei, welcher mit dem unmöglichen Versuche,
den Journalismus in den Bezirk der Sprache zurückzuführen, aus welchem er sich
selber durch einen Akt der Einsicht gestoßen hat, ein ganz anderes,
unbeabsichtigtes gelungen ist: daß die Steine, die sie hinter sich gegen die Leute
geworfen hat, diese Leute erst aus dem Boden gestampft haben! Für jeden
entlarvten Betrüger standen ihrer zehn auf und da und hatten anstatt Karriere
plötzlich ein »Höheres«, eine verschwommene, verschmockte Art Gewissen, die –
»Hemmung« nämlich, die sie nun nicht weiterließ, hin zu den ihnen bei den
Königen bereiteten Stühlen, zu den Redaktionsschemeln nämlich. Die Hemmung ließ
sie nun nicht hin, sehr zum Wehe aller andern Berufe und insonders der
Dichtung, wohinein nun alle Gehinderten können, sofern sie nicht noch immer
dichtgedrängt bei der tausendsten Vorlesung ihres Propheten stehn, weder vor
noch zurück können, die Ausgänge der Redaktionen verstopfen und die Eingänge zu
den psychoanalytischen Ordinationszimmern – ein Greuel für Gott und den Teufel.
Jener nahm
den mediokren Subjekten die Lust zum Schlechten, aber gab ihnen nicht die Lust
zum Guten, gab ihnen den Stein der Hemmung statt Brotes und zeugte so Wesen,
Menschen, die es nicht in Wahrheit gibt, sondern nur in der Hysterie. Jener
sprach über das Gute nicht dämonisch, und das machte den Andern nötig, den
Regimentsarzt seiner Marodeure, die zum ewigen Rückzug befehligt werden und
nach den Wonnen eines unerreichbaren geistigen Hinterlandes schmachten. Das
macht den Freud nötig als den psychologischen Definitor der Hemmung und machte
zum ersten Male das sittliche Phänomen der Lauheit zu einer Krankheit, also zu
einem außersittlichen Phänomen, also zu nichts und alles,
was nach ihrer Behebung geleistet werden könnte, zunichte, da die volle und werthabende
sittliche Entscheidung in der Hilflosigkeit und Verlassenheit von jedem Außen
erreicht werden muß.
Zoologisch
gesprochen ist der Freud die zum Wurm im Apfel der Sünde degenerierte Schlange
des Paradieses. Da der Teufel aus dem Mythologischen ins Psychologische fiel,
tauchte der Verführer auf als der Arzt. In dieser Rolle korrespondiert er
gleichsam unauffällig mit dem Tode, nimmt ihm zum Schaden der Seele einen Teil
der Schrecken. Als Arzt ist der Teufel trotz seines Falles subaltern geworden.
In der Gestalt der Schlange des Asklepios hält er die Würde des bösen Prinzipes
wenigstens noch an einem Stabe aufrecht, gleicht jedoch einem Könige ohne Land,
da er dieses doch notwendigerweise durch die Pyrrhussiege seiner Therapie
verlieren muß, ohne es allerdings gänzlich durch den wahren Sieg über sich und
die Sünde, wie ein absolvierender Priester, aufgeben zu können. Er bleibt im
beruflichen Protest gegen die Gesundheitsfiktion Besitzer des Landes,
d. h. der Notwendigkeit von Übel und Sünde. Da dieser Schlange gewesene
Wurm gewohnt war, in unendlichen Zeiträumen zu denken, erscheint ihm sein Apfel
als eine Globe, als eine ganze Welt. Es ist daher müßig, mit dem Freud über die
Allgewalt der Libido zu streiten. Denn gerade in der Setzung dieser Allgewalt
hat er sein ursprüngliches Wesen wahr. Sprach er als Schlange einst: eritis
sicut deus, so spricht der jetzige Wurm: seid wie die Psychoanalytiker. Denn
die missionierende Kraft der psychoanalytischen Schriften ist größer als ihre
Absicht, die Therapie. Wider den bewußten Willen ihrer Autoren. Aber so geht
nun einmal ihr Verhängnis und beweist den Satz, daß außer dem einen Arzte kein
Heil, auf lateinisch: extra ecclesiam non est salus. Die böse Materie ist
nämlich durchaus stärker als jeder sie voraussetzungslos Erkennende. Es kann
das Böse nicht ohne bedeutende Gefahr für den Erkennenden erkannt werden,
insofern dieser nicht auch die letzte Affinität zu ihm in
sich gelöscht hat. Aber Wiener und Juden, diese beiden Kinder des Desillusionismus,
können metaphysisch nicht untergehn; sie vermöchten in einer absoluten
Entscheidung nicht zu leben; weswegen sie den Dreh lieben und den Begriff des
Nebbich, also den Trugzug des Mattsetzens und das anarchistische Attentat auf
das Continuum: den Bombenwurf des Nebbich. Wiener und Juden sind vermöge einer
ahasverischen Lebensdauer mit allem, was fliegt, kriecht, singt, malt und
dichtet, heilig oder erhaben genannt wird, intim, weil der Schein, daß sie
alles das könnten, schon und wenn schon und von Akiba her und für alle Zukunft
stärker in ihnen ist als die protestantische und protestierende Tatsache des
schlechthin einmaligen in Subjekt wie Objekt, woraus der Problematiker seinen
tiefen Respekt vor den Dingen zieht und vor sich selber. Diesen Respekt können
Wiener und Juden nie haben wegen ihrer pseudometaphysischen Intimität mit sich,
untereinander und mit allem was ist: also haben sie da in dem Freud, in dem
Wurm und seiner Methode sich zu winden die wissenschaftliche Erlaubnis
gefunden, kein Geheimnis mehr weiter mit sich noch außer sich zu haben. Zum
ersten Male wieder seit langem tritt der Arzt als Magier auf, beinah mit einer
Irrlehre, eingedenk also seiner Präexistenz als Schlange, und mit einer Praxis,
die bis auf den Daimon des intuitiven Durchschauens ohne weiteres zu erlernen
ist, welcher Daimon zudem jeden, der ihn besitzt, zum Arzte macht. Sokrates,
der sich selber Arzt ist! Ahnt man, worum es hier geht? Das hohe Ziel der
Erkenntnis wird unglaublich tief gehängt, die ahasverische Person möchte sich
auf- und auswickeln, zu Ende kommen; die Schlange, schon Wurm geworden, möchte
endlich ganz verschwinden. Mittelst einer Schein-Nichtexistenz des Teufels soll
Gott aufgehoben werden. Über alles die Schweigsamkeit: nichts sagte Franz von Sales
lieber. Ich bescheidener Zoologe sage nur noch: Hütet die Lust in jeder, auch
in gestrafter Gestalt vor den Ärzten! Habt Achtung vor der Sünde und den Leiden
aus ihr! Seid euch selber sehr geheimnisvoll auch im Bösen.
Geht lieber unter als zum Arzte geistigen Schiffbruches. Denn eine gewisse
Gesundheit möget Ihr gewinnen, was Ihr aber verliert ist der Adel.
Antigonus und Philaminte
Jedes
Kunstwerk muß exemplifizieren, den Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit die
Einheit und Universalität des Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir wollen uns
daher keiner zufällig durch die Zeitung oder von der Phantasie uns zugewehten
Geschichte hingeben, sondern uns diese in bewußter Konstruktion selber
herstellen. Annehmend, daß Begriffe mittlerer Allgemeinheit eine allseitige
Fruchtbarkeit zeitigen, sei der Held im Mittelstande einer größern
Provinzstadt, sagen wir etwa in der Person eines Gymnasialsupplenten
lokalisiert. Soferne derselbe Mathematik und Physik unterrichtete, kann
vorausgesetzt werden, daß er diesen Beruf aus einer kleinen Neigung und
Begabung zur Auflösung näherer Probleme erwählt habe, denen er in eigenen
Studienjahren mit schöner Hingabe, roten Ohren und einem kleinen Glücksgefühl
im klopfenden Herzen oblegen haben dürfte, ohne allerdings die Erstellung
weiterer und höherer Aufgaben und Prinzipien zu bedenken oder zu erstreben,
wohl aber mit der Ablegung der Lehramtsprüfung einen logischen, definitiven und
bürgerlichen Abschluß findend. Es paßt in den solcherart imaginierten
Charakter, daß er die Formen des Lebens mit der gleichen Selbstverständlichkeit
hinnehme wie die Formeln der Mathematik: beide als seiende Dinge, über deren
Realität man sich keine weiteren Gedanken zu machen hätte, denen Fiktivität
zuzumuten verwunderliche Schrulle wäre und deren einzige Problematik in
gewissen Schwierigkeiten ihrer Kombinationsfähigkeit, das heißt Auflösbarkeit
sich dartue. Die Einteilungsfähigkeit und -aufgabe der rechnerischen und
erlebten Materie war ihm stete Sorge, aber auch interessiertes Vergnügen, und
immer darauf erpicht, daß »es genau ausgehe«, hatte er zu
den Fragen seiner sogenannten Wissenschaft dasselbe Verhältnis wie zu denen
seiner Stundeneinteilung, seiner Geldsorgen und denen jener Lebensfreude, die
ihn als solche gar nicht berührte, die er aber irgendwie mitzumachen sich
verpflichtet fühlte, da sie von den Kollegen anerkannt wurde, mithin ein
seiendes Ding darstelle, dessen Forderungen zu erfüllen waren. Er trank ohne
sonderliches Behagen Bier, besuchte nachher das öffentliche Haus, hatte Wege
zum Spezialarzte, gab Stunden, fuhr auf der Straßenbahn, stand im Laboratorium,
fraß in den Ferien an Mutters Tisch, schwarze Nägel zierten seine Hände,
rötlichblonde Haare seinen Kopf, von Ekel wußte er wenig, Linoleum schien ihm
ein günstiger Bodenbelag.
Eine solche
Existenz, vollständig determiniert von den Dingen einer ebenen Außenwelt, in
der kleinbürgerlicher Hausrat und Maxwellsche Theorie einträchtig und
paritätisch durcheinander-stehn, muß als Minimum von Persönlichkeit angesehn
werden, so daß sich mit Recht die Frage erhebt, ob ein solches Non-Ich
Gegenstand menschlichen, geschweige denn novellistischen Interesses sein dürfe,
da man ja sonst ebensowohl die Geschichte irgend eines toten Dinges – sagen wir
beispielsweise einer Schaufel – entwickeln könnte.
Dieser
Einwand ist um so berechtigter, da nicht einzusehn ist, wie sich die
Verhältnisse mit Ablegung der Lehramtsprüfung wesentlich ändern sollten. Wohl
mußten im Kopfe des Helden – Namen tun nichts zur Sache, er heiße also
Antigonus – doch auch irgend welche eigene Gedanken gewesen sein, umsomehr als
die kleine Denkbegabung zur Mathematik unleugbar vorhanden war, aber sie
blieben an das hier und jetzt Gegebene gebunden. Immerhin verdichtete sich
dieses Denken zur Zeit der Examina zu gewissen Zukunftshoffnungen und vagen
Bildern: er sah sich im eigenen Heim, sah, wenn auch ein wenig schwankend, das
künftige Speisezimmer, aus dessen abendlichem Dunkel die Konturen eines schön
geschnitzten Anrichteschrankes und der grünliche Schimmer
des wohlgemusterten Linoleumfußbodens deutlicher sich abhoben. Auch ließ das
Futurum exactum dieser Formungen ahnen, daß in jener Wohnung eine Hausfrau
vorhanden zu sein haben werde, was jedoch alles, wie gesagt, schemenhaft blieb.
Die Erheiratung einer Frau war ihm im Grunde genommen unvorstellbare
Angelegenheit: wenn ihm auch beim Bilde der zukünftigen Hausfrau gewisse
erotische Schwaden durchs Gehirn zogen und etwas in ihm meckerte, daß er deren
Unterkleidung so genau kennen werde, mit allen Fleckchen und Löchern, wie seine
eigene, wenn ihm also jenes Weib einmal als Mieder, einmal als Strumpfband
angedeutet wurde – dies auszudrücken, vermöchte eine hierherzusetzende
Illustration Kokoschkas – so war es ihm anderseits undenkbar, daß ein konkretes
Mädchen oder Weib, mit dem man normale Dinge in normaler Syntax reden könnte,
irgendeine sexuelle Sphäre hätte. Frauen, die sich mit derlei beschäftigten,
standen völlig abseits, keinesfalls niedriger als jene, aber in einer völlig
andern Welt, die mit der, in der man lebte, sprach und aß, nichts gemein hatte:
sie waren andere Lebewesen fremdester Konstitution, die stumme oder zumindest
unbekannteste irrationale Sprache redend sich vorzustellen ihm nahe lag. Denn
wenn man – ohne auch gerade biervoll zu sein – zu diesen Frauen gelangte, so
geschahn die Dinge mit großer zielbewußter Fixheit, und niemandem wäre es
beigefallen, etwa über Staubtücher – wie seine Mutter – oder über diophantische
Gleichungen – wie die Kolleginnen – zu reden. Es erschien ihm daher
unerklärlich, daß es je einen Obergang geben könne von diesen rein objektiven
Themen zu jenen subjektiven, es war ihm dies ein Hiatus, dessen Entweder-Oder
(ein Urquell alles Sexualmoralismus) sich übrigens gleicherweise in der
Wedekindschen Psyche leicht aufweisen läßt.
Wenn wir also
Antigonus in die Konstruktion einer erotischen Begebenheit hineinsetzen
wollten, so dürfte sich die Möglichkeit ergeben, daß er im Dilemma seiner
Determinanten jene voluntaristische Entscheidungsfähigkeit
eines verantwortlichen Ichs erlange, die ihn zu novellistischer
Heldenhaftigkeit eben doch berechtigen würde.
Vorderhand
geschah natürlich nichts dergleichen. Antigonus legte die Examina ab, erhielt
eine Supplentenstelle mit dem Auftrage, sein nunmehr abgeschlossenes Wissen
weiterzugeben, was ihm unschwer gelang, denn dieses war ihm, wie bereits
berichtet, in keiner Weise persönliche Angelegenheit, sondern eben ein Paket,
das nunmehr säuberlich abgeschnürt und handlich sowohl dorthin als daher gelegt
werden konnte. Aus der gleichen Vorstellung heraus gab er dem Schüler kleine
Paketchen seines Wissens, und dieser mußte sie ihm in Gestalt von
Prüfungsergebnissen wieder zurückgeben. Wußte der Schüler nichts zu antworten,
so bildete sich Antigonus die wenn auch nicht klare Meinung, jener wolle ihm
sein Leihgut vorenthalten, schalt ihn als verstockt und war solcherart mit
einem gewissen Temperamente an seinem Berufe beteiligt. Hatten die Schüler sein
Wissen zur Leih, so war ihm jedes Klassenzimmer, in dem er unterrichtete, bald
Aufbewahrungsort eines Stücks seines Ichs, gleich wie der Kasten in seinem
kleinen Monatszimmer, der seine Kleider beherbergte und die er sinngemäß als
ebensolche Teile selbigen Ichs rechnete. Fand er in der Tertia seine
Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu Hause im Waschtisch seine Schuhe vor, so fühlte
er sich unzweideutigerweise der Umwelt gegeben und verknüpft.
Solches
Leben währte einige Jahre. Hierauf trat die von uns als notwendig
vorweggenommene erotische Erschütterung ein. Um nicht fernab zu schweifen,
gesellen wir Antigonus ein naheliegendes Komplement bei, nämlich seiner
Hauswirtin Töchterlein, das einem meiner Freunde zuliebe Philaminthe genannt
sei.
Es entsprach
der Weibauffassung des Antigonus, jahrelang ohne irgendeinen Wunschgedanken
neben einem Mädchen einherleben zu können. Ob dieses Negativum auch der
Wesenheit des Mädchens entsprochen hatte, bleibt eigentlich irrelevant, denn
Antigonus wäre sicherlich nicht der Mensch gewesen, ihr
bürgerliches Seufzen zu verstehn, und da es ohne männlichen Angriff eben
meistens nicht geht, so wäre ihr Begehren gewißlich in Kürze eingeschlafen. Es
ist daher anzunehmen, daß Philaminthes Phantasie, gleichgültig ob sie sich
jemals mit Antigonus befaßt hätte oder nicht, auf auswärtige Objekte gerichtet
war, und man wird nicht fehl gehn, ihr romantischen Charakter zuzusprechen. Es
ist beispielsweise in kleinern Städten üblich, täglich den Bahnhof zu besuchen,
um den durchfahrenden Schnellzug anzustaunen, einer Sitte, der Philaminthe
gerne folgte. Wie leicht ist es nun möglich, daß ein junger Herr, am Fenster
des abrollenden Zuges stehend, dem nicht unhübschen Dinge zugerufen hätte:
»Komm doch mit«, eine Begebenheit, die Philaminthe fürs erste in einen blöde
lächelnden Pfahl verwandelt hätte, der nur mit schweren Füßen nach Hause
gelangte, nachts aber sie von nun an immer häufiger träumen ließ, daß sie mit
müden, ach so müden Beinen enteilenden Zügen nachzulaufen hätte, die auf
Griffweite erlangbar in nichts versanken; blickte sie dann tagsüber von der
Näherei auf, stundenlang den aufreizend unvollkommenen Zickzackflug der Fliegen
um die Stubenlampe verfolgend, so erstand jene Bahnhofszene aufs Neue: es wurde
ihr deutlich, daß sie wohl noch auf den abfahrenden Zug aufspringen, vielleicht
eine rührende Verletzung bei diesem kühnen Sprunge davontragen hätte können, um
sodann gebettet auf den weichen Polstern der I. Klasse und handgehalten von ihm
in die dunkle Nacht hinauszufahren; Schaffner hätte sich, nachdem er Buße für
die fehlende Fahrkarte samt reichlichem Trinkgeld erhalten, unterwürfig
zurückgezogen, und es blieb nur offen zu überlegen, ob im entscheidenden
Augenblicke die Notbremse ihrer Ehre erreichbar gewesen wäre oder nicht, da
beide Alternativen atembeklemmende Möglichkeiten boten. In solcher Sphäre
lebend, hatte sie also wenig Sinn für Antigonus, denn wenn sie auch nicht seine
grau-gestrickten Socken, die sie ausbesserte, gestört hätten – auch den
Schnellzugsgeliebten würde sie wohl nicht anders als grausockig präzisiert haben, wenn sie sich die Frage überhaupt vorgelegt
hätte –, so stand doch fest, daß Antigonus seine Sonntagsausflüge mit Rucksack
und Gamsbart IV. Klasse besorgte, und selbst der Hinweis auf die
Pensionsfähigkeit seiner Laufbahn hätte nicht vermocht, ihr Blut rascher
fließen zu lassen.
So versteht
es sich, daß diese beiden Menschen nur aus raumzeitlicher Zufälligkeit
aneinander geraten konnten, daß in grob-materialer Dunkelheit sich ihre Hände
aus wirklichem Zufall begegneten und daß das Begehren, das jäh zwischen Männer-
und Frauenhand da emporflammte, zu ihren eigensten Erstaunen es tat. Sie sprach
die reinste« Wahrheit, als sie, an seinem Halse hängend, wiederholte: »ich
wußte ja nicht, daß ich dich so lieb habe«, denn das konnte sie vorher wahrlich
nicht wissen.
Antigonus
fand sich durch den neuen Sachverhalt einigermaßen beunruhigt. Er hatte nun den
Mund stets voll Küssen, und stets sah er die Türwinkeln ihrer Umarmungen, die
Bodenstiege ihrer raschen Zusammenkünfte vor sich. Schläfrige Pausen erlebte er
am Katheder sitzend, kam mit dem Lehrstoffe nur ruckweise vorwärts, hörte den
Prüflingen nur zerstreut zu und schrieb indessen »Philaminthe« oder »ich habe
dich lieb« aufs Löschblatt, dies jedoch keinesfalls in normaler
Buchstabenfolge, sondern er verteilte, damit des Herzens Geheimnis sich nicht
verrate, die Buchstaben nach willkürlich erklügeltem Schlüssel über das ganze
Löschblatt, wobei die nachträgliche Wiederzusammensetzung der magischen Worte
ein zweites Vergnügen an ihnen darstellte.
Wenn er
dabei Philaminthes über alle Maßen gedachte, so sah er sie allerdings nur in
ihrer flüchtigen Geschlechtsbereitschaft. Hinter den Türen Geliebte, in der
Öffentlichkeit neutrale Gesprächspartnerin – das heißt, man sprach vom Essen
und der Häuslichkeit –, war ihm das Mädchen doppeltes Lebewesen geworden, und
während er des einen Namen sehnend aufs Löschpapier malte, war ihm das andre
gleichgültig wie ein Möbelstück.
Philaminthe, dieserhalb weniger punktuell veranlagt,
faßte eines Tages ihre Erkenntnis in die glücklich gefundenen, glücklich
gewählten Worte: »Du liebst nur meinen Körper«, und wenn sie auch zwar nicht
recht wußte, was sonst Liebenswertes an ihr zu finden wäre, ja wenn sie sich –
und da kann Wedekind wieder als Zeuge angerufen werden – auch wahrscheinlich
jede andre Art Liebe verwundert verbeten hätte, so war dies weder ihr noch ihm
bekannt, und beide empfanden die aufgeworfene Tatsache als Kränkung.
Antigonus
nahm sichs zu Herzen. Hatte ihr Liebesspiel bis jetzt erst nachmittags
begonnen, wenn er aus der Schule heimkehrte und die Mutter ausgegangen war,
während stiller Übereinkunft gemäß der Morgenstunden relative Ungewaschenheit
von dieser ästhetischem amourösen Tätigkeit ausgeschlossen geblieben war, so
bemühte er sich nunmehr, die Universalität seines Liebens durch dessen
Ausdehnung auf sämtliche Tagesstunden zu beweisen. Nie verabsäumte er in der
Folge, den ihm knapp vor dem Schulgange gebrachten Kaffee rasch schlürfend, ihr
einige innige und leidenschaftliche Worte zuzuraunen, und die Zusammenkünfte
auf der Bodenstiege, früher bloß ein eilendes und ununterbrochenes Finden von
Mund zu Mund, wurden nun vielfach zu einem sinnigen, stummen Aneinanderpressen
und Handverschränken verwendet. Auch sie schien Zugang zu seinem Geiste zu
suchen: korrigierte er abends seine Hefte und waren sie allein zu Hause, so
wurde diese Zeit oft nicht mehr zu tollen Umarmungen verwendet, sondern sie
nötigte ihn bei seiner Arbeit zu bleiben, die er unter der Petroleumlampe am
Speisezimmertische ausführte, räumte inzwischen im Halbdunkel beim
schöngeschnitzten Anrichteschranke und kam nur manchmal zu ihm, seinen blonden
unter der Lampe gebeugten Scheitel, der wenigen Haarschuppen nicht achtend, zu
küssen oder, Hand auf seiner Schulter oder Schenkel ruhend, sich still und
traulich zu ihm zu setzen.
Wir wollen
nicht rechten, ob die Mutter im Hinblick auf seine
Pensionsfähigkeit häufig genug abwesend war, denn weder Antigonus noch
Philaminthe dachten in ihren Seufzern vorderhand an bürgerlichen Segen,
vielmehr hegten sie eine panische Furcht vor plötzlicher Heimkehr der Alten,
hatten für diesen Augenblick immer einen genau festgelegten Sitz- und
Beschäftigungsplan parat, um den Kupplerblick, soferne die abgearbeitete Alte
einen solchen gehabt hätte, was aber schließlich doch nicht unwahrscheinlich
gewesen wäre, mit Harmlosigkeit aufzufangen.
Es war also
keineswegs Angst vor der Ehe, deren Joch er in seiner Liebesbereitschaft sogar
willig akzeptiert hätte, die ihn in einen Zustand des Unbehagens brachte,
sondern wir müssen, soferne wir die Setzung dieses Unbehagens gelten lassen,
uns der schematischen Weibauffassung erinnern, in der Antigonus früher lebte,
um zu verstehn, daß ihm die neue Sachlage nicht sonderlich adäquat sein konnte
und daß sich Komplikationen ergeben werden. Es könnte beispielsweise Antigonus
an seiner steten Aufgabe zur Gefühlssteigerung, an seiner unausgesetzten
Spannung, das »ich-hab-dich-lieb«, das beim ersten Kusse zwar erstaunlich aber
immerhin einfach ins Wort trat, jetzt mit einem Pathos erfüllen zu müssen,
dessen Arsenal keineswegs einfach zu handhaben war, glattweg ermüden und sich aus
seiner komplizierten Hingabe nach jenen einfachen und ruhigen Formen der Liebe
sehnen, die einst die ausschließlichen für ihn waren; ein Augenblick der
Hemmungslosigkeit könnte bald eintreten, und Antigonus würde fliegenden Pulses
zum Ziel der Sehnsucht seiner niedrigen Lüste enteilen, um allerdings
allsobald, im gleichen Tempo und in schweigender Angst vor dem Spezialarzte, zu
Philaminthe zurückzujagen, die Sprachlose mit der Erzählung einer romantischen
Verführung – die Frau eines Generals zog ihn in ihr Haus und Schlafgemach –
imponierend zu überrumpeln. Wir wollen den sich anschließenden atemlosen Dialog
Heinrich Mann überlassen und uns nach andern Kombinations- und Entwicklungsmöglichkeiten
umsehn.
Antigonus malte nach wie vor Philaminthes Namen auf Löschblätter,
doch ohne Teilnahme, setzte das Wort auch nicht wieder aus kunstreicher
Zersplitterung zusammen, sondern verfolgte mit gereizter Aufmerksamkeit die
Schüler, die weniger denn je wußten. Die Anspannung seiner Gefühle hatte ihm
den Begriff des Seienden verschoben: lag es früher in seinem kleinen Wissen,
das er mit den Schülern tauschte, in den Kleidern, die er in bestimmter Ordnung
anlegte, in der pflichtgemäßen Rangordnung, in der er mit Vorgesetzten und
Gleichgestellten zu verkehren hatte, so hatten diese unzweifelhaft berechtigten
Belange nunmehr unliebsamerweise in seinem Ich keinen Platz mehr: Philaminthens
Aufgaben, die er eben wie jede andere voll auf sich genommen hatte, war eine
Unendliche, denn mehr als ihren Körper lieben, hieß nach einem unendlich fernen
Punkte streben, und dies zu vollziehen, bedurfte es aller Kräfte der armen,
erdgebundenen Seele. Und muß diese das aufgeben, was ihr wirkliche Welt bedeutete,
also ihr ausgebreitetes metaphysisches Werterlebnis, so ist sie leicht geneigt,
nicht nur sich selbst, sondern auch das ganze wunderbare Phänomen ihres
bewußten Seinsbestandes zu entwerten und zu negieren.
Alles
Unendliche ist einmalig und einzig. Und da des Antigonus Liebe sich bis ins
Unendliche projizierte, wollte sie auch einzig und einmalig sein. Dem aber
stand die Bedingtheit ihres Werdens gegenüber. Nicht nur, daß er zufällig
gerade an das Gymnasium dieser kleinen Stadt versetzt wurde, nicht nur, daß er
zufällig gerade bei Philaminthens Mutter Zimmerherr werden mußte: es war die
wahllose Zufälligkeit des so plötzlich perfektionierten Liebesbeginns, die er
nunmehr als Ungeheuerlichkeit empfand, und die Erkenntnis, daß das Begehren,
das damals zu ihrem Erstaunen in ihren Händen emporschoß, das gleiche sei, das
er in den Armen jener Frauen erlebte, die er jetzt als Huren beschimpfte. Doch
hätte er sich über diesen Mangel an Einmaligkeit, so sehr er ihn auch wirklich
schmerzte, von seiner Seite schließlich hinweggesetzt, wenn er ihn nicht folgerichtigerweise auch bei Philaminthen hypostasieren
hätte müssen. Denn das Subjekt kann in seinem Streben nach Unendlichkeit zu
eigenerlebter, einmaliger Universalität vielleicht wachsen, seinen objektiven
Gegenpol zu gleicher Größe zu erweitern, bedarf es aber einer Phantasie, die
wohl Dante, jedoch kaum Gabriel Rossetti, zum wenigsten Antigonus, aufbrachte.
Dies heißt aber, daß er die Flamme des Begehrens stets um Philaminthens Händen
sah und, obwohl ihrer Treue sicher, an der Möglichkeit ihrer Untreue leiden
mußte und sicherlich tiefer als er es in jedem materialen Fall vermocht hätte.
So wurde er
nicht nur in der Schule unleidlich, sondern auch dem Mädchen gegenüber. Setzte
sie sich, ihrer Gartenlaubenhabitüde folgend, traulich zu ihm, so riß er sie
manchmal an sich, biß ihr die Lippen wund, um sie einandermal wieder ungelenk
wegzustoßen; kurz, er äußerte alle Ungezogenheiten der Eifersucht in ihrer
rüpelhaftesten Form. – Es muß eigentlich nicht eigens erzählt werden, denn es
versteht sich von selbst, daß Philaminthe schon längst, in Mutters Eßzimmer,
Antigonus' Geliebte geworden war. Wenn sie damals ihre letzte Gunst, wie sie
das nannte, was in Ansehung des von allem Anfang an als selbstverständlich
Gewährten eher als symbolische Besitzergreifung zu bezeichnen wäre, wenn sie
diese letzte Gunst auch lange hintangehalten und sich eigentlich erst gegeben
hatte, als er, um ihr eben zu beweisen, wie seelisch er liebe, keinerlei
diesbezügliche Wünsche und Gesten mehr äußerte, so lag es jetzt auf dem Wege
ihrer gradlinigen Phantasie, daß sie, keiner Schuld sich bewußt, die Krise, die
sie mit Verständnislosigkeit an ihm bemerkte, durch die verpönte körperliche
Liebe zu heilen suchte, ihm eifrig das entgegenbringend, was sie sonst,
schelmisch erhobenen Fingers, ihm so gern verzögerte. Die Arme! sie wußte
nicht, daß sie damit nur Öl ins Feuer goß. Denn wenn Antigonus die sogenannte
Gunst auch nicht verschmähte, so war es nachher um so ärger, denn umso
klarsichtiger erkannte er, daß das ihm Geschenkte ebensowohl und mit gleicher Leidenschaft jedem andern hätte zu Teil werden
können.
Er hatte
sich nie mit andern verglichen, hatte stets seinen Unwert nur an der
Unendlichkeit seiner Aufgabe gemessen. Nun sah er auch mit Schrecken, daß eine
Unzahl junger und eleganter Männer durch die frühsommerlichen Straßen sich
bewegten, und nie verließ ihn mehr der Gedanke, daß jene mit Leichtigkeit und
im Meßbaren bleibend, lächelnd über ihn, den Über-sich-ausholenden, nicht nur
Philaminthens, nein aller Frauen Liebe genössen, die allesamt für ihn bis jetzt
unberührbar, doch nichts anderes seien als schlechte Weiber.
Zu ihr
zurückkehrend, würgte er sie am Halse mit der Motivierung, niemand, hörst du,
niemand könne und werde sie je so lieben wie er, und die Tränen des entsetzt
geschmeichelten Mädchens, dessen romantischer Sinn die Situation bejahte,
flossen mit den seinen zusammen, beschließend, daß nur der Tod von solcher Qual
erlösen könne.
Philaminthens
Phantasie nahm das Wort des Sterbens auf und wandelte die Vorzüge der
Todesarten ab. Die ungestümen Formen ihrer Liebe forderten ein großes Ende, und
sie hätte sich nicht gewundert, hätte ihnen Edschmid 16 gedungene Mörder auf
den Leib geschickt. Da dies jedoch nicht geschah und sich auch nicht die Erde
zu erwünschtem Beben öffnete, noch der Hügel vor der Stadt Lava zu speien anfing,
vielmehr Antigonus trotz schmerzverzerrter Miene täglich zur Schule wandelte
und sie schon voll blauer Flecke war, vermochte sie ihn, ein Ende zu bereiten,
daß er einen Revolver erstünde. Er fühlte, und wir, die wir es herbeiführen,
mit ihm, daß damit die Würfel gefallen seien. Mit trockenem Munde, feuchten
Händen betrat er das Waffengeschäft, stotternd das Verlangte bezeichnend und
gleich sich entschuldigend, daß er solches zu seiner Verteidigung auf einsamen
Wanderungen benötige. Mehrere Tage hielt er seinen Kauf verborgen, und erst,
als sie, eines Morgens den Kaffee bringend, ihm mit zurückgeworfenem
Kopfe zuflüsterte: »Sage mir, daß du mich liebst«, legte er ihr zum Beweise die
Waffe auf den Tisch.
Nun
erfolgten die Dinge mit großer Eile. Den nächsten Sonntag trafen sie sich, sie
einen Besuch bei einer Freundin vorschützend, wie so oft, im Nachbarorte zu
gemeinsamer Wanderung. Ein letztes Mal sich in den Armen zu ruhen, hatten sie
einen verschwiegenen Waldplatz mit schöner Fernsicht auf Berg und Tal gewählt,
dem sie nun zustrebten. Aber der Blick, dessen Weite sie sonst als schön
bezeichneten, sagte ihnen in ihrer Beklommenheit nichts mehr. Sie
durchstreiften bis in die Nachmittagsstunden ziellos den Wald, hungrig, da das
Essen nicht zum Tode paßte, und ruhten endlich wahllos und erschöpft zwischen
den Büschen. »Es muß sein«, meinte Philaminthe, und Antigonus zog die Waffe
hervor, lud sie behutsam, legte sie vorsichtig neben sich nieder. »Tu's rasch«,
befahl sie und schloß in letztem Kusse die Arme um seinen Hals.
Über ihnen
rauschten die Bäume, Licht brach in kleinen Flecken durch leichtbewegte
Buchenblätter, und weniges sah man vom wolkenlosen Himmel. Der Hand erreichbar
lag der Tod, man mußte ihn bloß aufnehmen, jetzt oder in zwei Minuten oder in fünf,
man war völlig frei, und der Sommertag war zu Neige, ehe ihn die Sonne
verblaßte. In einer einzigen Handbewegung konnte man die Vielheit der Welt
erledigen, und Antigonus empfand, daß sich eine neue und wesentliche Spannung
zwischen ihm und jenem Komplexe auftat. Der Freiheit eines einigen und
einfachen Entschlusses gegenüber wurde auch dessen Willensobjekt zur Einheit,
wurde rund und schloß sich in sich, handlich in seiner Totalität wurde es
problemlos und ein Wissen der Ganzheit, wartend, daß er es aufnehme oder
wegstelle. Eine Struktur absolut ausgehender Ordnung, gelöster Klarheit,
höchster Realität ergab sich, und es wurde sehr licht in ihm. Fernab rückte der
Totaleindruck der Welt, und mit ihm versank das Gesicht des Mädchens unter ihm,
doch verschwanden sie keineswegs völlig; vielmehr fühlte er
sich jener Weltlichkeit und dem Weibe intensiver gegeben und verknüpft denn je,
erkannte sie weit über jede Lust hinaus. Sterne kreisten über dem Erleben, und
durch den Fixsternhimmel hindurch sah er Welten neuer Zentralsonnen im Gesetze
seines Wissens kreisen. Sein Wissen war nicht mehr im Denken des Kopfes; erst
glaubte er die Erleuchtung im Herzen zu fühlen, aber sie dehnte sich, sein Ich
mitweitend, über ihn hinaus, floß zu den Sternen und wieder zurück, erglühte in
ihm und kühlte in sehr wundersamer Milde, öffnete sich und wurde zu unendlichem
Kusse, empfangen von den Lippen der Frau, die er als Teil seiner selbst und doch
schwebend in maßloser Entfernung erfaßte und erkannte. Denn das Ziel des Eros
ist das Absolute, das erreicht wird, wenn das Ich seine brückenlose,
hoffnungslose Einsamkeit und Idealität, über sich und seine Erdgebundenheit
hinauswachsend, dennoch durchbricht, sich abscheidet und im Ewigen Zeit und
Raum hinter sich lassend die Freiheit an sich erwirbt. Im Unendlichen sich
treffend, gleich der Geraden, die sich zu ewigem Kreise schließt, vereinigte
sich die Erkenntnis des Antigonus: »Ich bin das All« mit der des Weibes: »Ich
gehe im All auf« zu letztem Lebenssinn. Denn für Philaminthen, im Moose ruhend,
erhob sich das Antlitz des Mannes zu immer weitern Fernen und drang dennoch
immer tiefer in ihre Seele, verschmolz mit dem Rauschen des Waldes und dem
Knistern des Holzes, mit dem Summen der Mücken und dem Pfiff der Lokomotive zu
einem rührenden und beseligenden Schmerze der vollkommenen Geheimnisenthüllung
eines empfangenden und gebärenden Wissen des Lebens. Und während sie die
Grenzenlosigkeit ihres wachsenden und erkennenden Fühlens entzückte, war ihre
letzte Angst, solches nicht festhalten zu können: geschlossenen Auges sah sie
vor sich, vom Rauschen und von Sternen umgeben, das Haupt des Antigonus, und
ihn lächelnd von sich haltend, traf sie sein Herz, dessen Blut sich mit ihrer
Schläfe vermischte. – – Es ist der anmaßende Irrtum der Naturalisten, daß sie
den Menschen aus Milieu, Stimmung, Psychologie und
ähnlichen Ingredenzien eindeutig determinieren zu können vermeinen. Wir wollen
uns hier mit der materialistischen Beschränktheit nicht auseinandersetzen und
bloß anmerken, daß der Weg Philaminthens und Antigonus wohl zur Ekstase hätte
führen können, um in ihr den unendlich fernen Punkt eines außerhalb der
Leiblichkeit und doch in ihr eingeschlossenen Liebeszieles zu finden. Da aber,
wie gesagt, das Menschliche keineswegs eindeutig ist, so ist immerhin auch
anzunehmen möglich, daß der Weg vom Schäbigen ins Ewige für Antigonus und
Philaminthe vorzeitig abgebrochen worden wäre. Wenn auch die Todesbereitschaft als
solche eine gewisse Katharsis bildet, deren logische Lösung und Folge als eine
kleine spießbürgerliche Befreiung ihrer armen Seelen zu denken ist, als eine
Festigung der Seinsanschauung aus Labilität ihrer kleinen Qual, so wäre,
nachdem sich die Dinge zwischen den Gebüschen eben bloß in gewohnt plumper
Ungelenkheit vollzogen hätten, nichts andres übrig geblieben als das soi disant
natürliche Ende. Spät abends hätten dann Antigonus und Philaminthe den letzten
Zug erreicht, um einem Brautpaare schon gleich in einem Wagen erster Klasse,
Hand in Hand, der Heimat zuzueilen. Würden Hand in Hand vor die ängstlich
harrende und erschreckte Mutter hintreten, und pathetischen Gestus des
Nachmittages beibehaltend kniet der Pensionsfähige auf dem grünlich schimmernden
Linoleumboden nieder, den mütterlichen Segen zu empfangen.
Jedes
Kunstwerk muß exemplifizierenden Gehalt haben, muß in seiner Einmaligkeit, die
noch durchaus nicht Eindeutigkeit sein muß, die Einheit und Universalität des
Gesamtgeschehens aufweisen können. Wir haben uns nichts vorgeflunkert, haben
unsre Geschichte nach ihren Möglichkeiten hin durchdacht und darnach gemeinsam
konstruiert. Wir wollen uns gegenseitig nichts vormachen, wir wollen uns aber
auch nicht verhehlen, daß unsre Geschichte sehr schön ist.
Von der geistigen Ernährung durch Intuition
Die
Intuition ist eine auf allen Wiesen wachsende Wunderpflanze, deren Alter bis in
die Zeit Platons nachgewiesen ist, aber wahrscheinlich viel weiter
zurückreicht. Die in Deutschland häufigste Varietät wächst aber nicht auf den
Wiesen, sondern ist nachgewiesenermaßen stets nur auf dem eigenen Mist derer
gewachsen, die sie gebrauchen. Sie wird langsam zwischen den Zähnen
gefletschert und verleiht dann wunderbare Erkenntnisse, wie wir sie bei
Spengler oder in der Mechanik der Zeit von Rathenau finden. Sie kann aber auch
hastig hinuntergeschlungen werden, wie es der Expressionismus tut, und dann
erzeugt sie erhebende Blähungen, die in Form von Gedichten, Gottesanrufungen,
geistigen Explosionen und sonstigen Ohmenschlichkeiten abgehen. Bei ganz
senilen Leuten, wie dem einst verdienstlichen Schleich, wird sie zu einem Brei
erweicht, nach dessen Genuß die Seele aussieht wie der Garten einer
Kriegsgewinnlervilla, in dem der rauhen Natur durch Gnomen aus Terrakotta und
Elfen aus Biskuitmasse eine Ahnung von Höherem verliehen ist. Das charakteristischste
Symptom fortgesetzten Intuitionsgenusses ist eine sich bei jeder Gelegenheit
zeigende Abneigung gegen den Verstand von geradezu verheerenden Folgen, so daß
heute in Deutschland trotz des eigentlich endemischen Charakters der
Erscheinungen von einer Intuitionsepidemie gesprochen werden kann. Es steht
heute so damit, daß jeder, der etwas behaupten will, das er weder beweisen
kann, noch zu Ende gedacht hat, sich auf die Intuition beruft. Es wäre daher zu
beantragen, daß sich alle deutschen Schriftsteller durch zwei Jahre dieses
Worts enthalten mögen, wonach sie zum erstenmal ihr wahres Gesicht sehen
würden, wie einer, der einen zeitlebens getragenen Bart abrasiert.
Was die
verschiedenen Varietäten der Intuition betrifft, wird ganz übersehen, daß ihre
Stammform auch auf rein rationalem Boden gedeiht. Der entscheidende Einfall,
mag er noch so methodisch vorbereitet worden sein, springt auch
beim wissenschaftlichen Denken wie von außen unerwartet vor das Bewußtsein.
Ebenso wird durch erhöhte Gemütszustände auch das rein rationale Denken, das
mit Gefühl scheinbar gar nichts zu tun hat, mächtig gefördert. Wie viel mehr
jenes, das in einer anderen biologischen Abhandlung dieses Buches das
nicht-ratioïde Denken genannt worden ist, dessen Penetranz und innere Fortpflanzungsgeschwindigkeit
geradezu von der Vitalität der Worte abhängt, einer um den relativ belanglosen
Begriffskern gelagerten Wolke von Gedanke und Gefühl. Dann erst denke man an
jene Erkenntnisse, die »mit einem Schlage das Leben erhellen« – Paradefälle der
Intuition; man wird dann auch da sehen, daß es sich nicht um eine plötzlich
ausbrechende andere Art Geistestätigkeit handelt, sondern um einen allmählich
gewordenen kritischen Zustand der Gesamtperson, der endlich umschlägt, wobei
der aktuelle, vermeintlich zündende Gedanke gewöhnlich nur der Explosionsblitz
ist, der die große Umreaktion begleitet. »Etwas, das sich nicht erkennen,
beschreiben, definieren, nur fühlen und innerlich erleben läßt, das man
entweder niemals begreift oder dessen man völlig gewiß ist« – »mit einem
Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen
Einwirkung entzogen ist, das in seinen höchsten Momenten sich selten genug
einstellt« – werden solche Erlebnisse gewöhnlich beschrieben. Das ist aber nur ein
Grad auf der großen Skala, die von da über den Zustand des Gläubigen, des
Liebenden, des Ethischen zur Haplosis, zur visio beata und den anderen großen
Formen der Weltempfängnis führt; mit einem sehr bemerkenswerten Nebenast im
Pathologischen, der von der verbreiteten Zyklothymia bis zu schweren
Wahnzuständen reicht.
Man wirft
ein, daß die Analyse der psychologischen Form menschlich nicht interessiere,
sondern nur die Synthese der in ihr gewonnenen Inhalte. Die Welt, in der wir
leben und gewöhnlich mitagieren, diese Welt autorisierter Verstandes- und
Seelenzustände, ist nur der Notersatz für eine andere, zu der die wahre
Beziehung abhanden gekommen ist. Zuweilen fühlt man, daß
von all dem nichts wesentlich ist, für Stunden oder Tage zerschmilzt es in der
Glut eines anderen Verhaltens zu Welt und Mensch. Man ist Strohhalm und Atem
und die Welt die zitternde Kugel. In jedem Augenblick erstehen alle Dinge neu;
sie als feste Gegebenheiten zu betrachten, erkennt man als inneren Tod. Das
Pferd vor dem Wagen und der Vorübergehende kommunizieren. Oder wenigstens
Mensch und Mensch messen sich nicht, beschnüffeln einander nicht wie
Kundschafter, sondern wissen voneinander wie Hand und Bein an einem Körper. Das
ist die Stimmung philosophisch schöpferischer – oder aber auch philosophisch
eklektischer Zustände. Man kann sie intellektuell als verspäteter Christ
auslegen oder das Fließen des Heraklit an ihr demonstrieren, überhaupt allerlei
heraus- und hineinlesen, unter anderem auch ein ganz neues Ethos. Glauben wir
daran? Nein. Wir spielen damit Literatur. Galvanisieren Buddho, Christus und
andere Ungenauigkeiten. Ringsum tobt die Vernunft in tausenden von PS. Man
trotzt ihr und behauptet, in einem verschlossenen Kästchen eine andere
Autorität zu haben. Das ist der Sammelkasten Intuition. Man öffne ihn endlich
und sehe, was darin ist. Man wird auf der einen Seite die große Gruppe der
religiösen Erlebnisse finden, die sich nach der Durchdringung mit dem Verstand
sehnen, auf der anderen das Ressentiment von Literaten, welche das bezweifeln,
was der Verstand wirklich leisten kann, dagegen unerhört gläubig gegen alles
sind, was ihnen gerade einfällt.
Von der Streitfrage über die biologischen Begriffe
Zivilisation und Kultur
Es ist eine
alte und wie mir scheint recht unfruchtbare Streitfrage, wie man Zivilisation
und Kultur unterscheide und welche höher stehe. Ich glaube, wenn man
unterscheiden will, ist es am besten, Kultur dort zu sagen, wo eine
Ideologie herrscht und eine noch einheitliche Lebensform, Zivilisation dagegen
als den diffus gewordenen Kulturzustand zu definieren. Jeder Zivilisation ist
eine Kultur voraufgegangen, die in ihr zerfällt; jede Zivilisation ist
ausgezeichnet durch die bekannte technische Beherrschung der Natur und ein sehr
kompliziertes, sehr viel Intelligenz forderndes, aber auch schluckendes System
sozialer Beziehungen.
Es sind alle
Kulturen in verhältnismäßig kleinen Räumen und Gesellschaften entstanden und
haben sich von dort ausgebreitet. Darin liegt an und für sich eine Verdünnungs-
und Erschöpfungstendenz; die gleiche liegt in der zeitlichen Wirkung durch
Generationen. Ideen lassen sich nicht übergeben wie Wissen; sie erfordern
gleichen seelischen Zustand und in Wirklichkeit ist höchstens ähnliche
seelische Disposition vorhanden: so sind sie ständig der Veränderung
unterworfen. Solang sie neu sind, werden sie dadurch vielleicht bereichert,
später korrumpiert. Sie realisieren sich unterwegs allerdings in Einrichtungen und
Lebensformen; aber eine Idee verwirklichen, heißt sie schon teilweise zerstören.
Alle Verwirklichungen sind Zerrbilder, und in höherem Alter werden sie immer
leerer und unverständlicher, denn Form und Idee haben ein ganz verschiedenes
Lebenstempo; so ragen immer die Formen einer älteren Schicht in die Ideen einer
neuen herein und konkurrieren mit ihnen an Einfluß. Die Entwicklung selbst ist
nichts, das sich in einer einheitlichen Linie auswirkt. Mit der natürlichen
Abschwächung, welche die Idee durch ihre Ausbreitung erleidet, kreuzen sich
Einflüsse aus neuen Ideenquellen. Der innerste Lebenskern jeder Zeit, eine
neblige, quellende Masse, ist eingebettet in Formen, die der Niederschlag viel
älterer Zeiten sind. Jede Gegenwart ist gleichzeitig schon hier und noch um
Jahrtausende zurück. Dieser Wurm bewegt sich auf politischen, wirtschaftlichen,
kulturellen, biologischen und unbegrenzt viel anderen Gliedern, deren jedes ein
anderes Tempo hat und einen anderen Rhythmus. Das ist ein Teil der Gründe,
warum späte Zeiten so uneinheitlich sind und in solchen
Zivilisationszeiten die Kulturen zerfallen wie Gebirge.
Es wird der
Kultur fast immer eine unmittelbarere Beziehung zu den Wesenheiten
zugeschrieben, eine Art schicksalhafter Sicherheit der menschlichen Haltung und
noch instinktive Sicherheit, der gegenüber dann der Verstand, das Zivilisationsgrundsymptom,
eine etwas klägliche Unsicherheit und Indirektheit besitzen soll. Man kennt die
Symptome, worauf sich das stützt. Der große, besonders aus der Ferne geschlossen
wirkende Gestus von Mythos und Religion, andererseits die Umständlichkeit, mit
dem Verstand das zu sagen, was ein Blick, Schweigen, ein Entschluß viel besser
ausdrücken. Der Mensch ist eben nicht nur Intellekt, sondern auch Wille,
Gefühl, Unbewußtheit und oft nur Tatsächlichkeit wie das Wandern der Wolken am
Himmel. Die aber nur das an ihm sehn, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten
schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen
Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich sehr
ungöttlich ist.
Wie bereits
gesagt, muß man das Wachstum der Anzahl daran beteiligter Menschen für die
Hauptursache des Übergangs von Kultur in Zivilisation ansehn. Es ist klar, daß
hundert Millionen Menschen zu durchdringen ganz andere Aufgaben stellt als
hunderttausend. Die negativen Seiten der Zivilisation hängen zum größten Teil
damit zusammen, daß diesem Volumen des sozialen Körpers seine Leitfähigkeit für
Einflüsse nicht mehr entspricht. Man betrachte den Zivilisationshöhepunkt vor
dem Krieg: Eisenbahn, Telegraph, Telephon, Flugmaschine, Zeitung, Buchhandel,
Schul- und Fortbildungssystem, Wehrpflicht: alles zusammen völlig unzureichend.
Der Unterschied zwischen Großstadt und noch schwarzem Land größer als der
zwischen Rassen. Vollkommene Unmöglichkeit, selbst in der eigenen Schicht in
die Voraussetzungen eines anderen Gedankenkreises einzudringen außer unter
ungeheurem Zeiteinsatz. Folge: schmale Gewissenhaftigkeit oder impetuose
Oberflächlichkeit. Mit dem Wachstum der Zahl hält die
geistige Organisation nicht Schritt: darauf sind 98 v.H. aller Zivilisationserscheinungen
zurückzuführen. Man kann tun, was man will, Christus könnte auf die Erde wieder
niedersteigen: es ist ganz ausgeschlossen, daß er zur Wirkung käme. Die Frage
auf Leben und Tod ist: geistige Organisationspolitik. Das ist die erste Aufgabe
für alle heute lebenden Tiere. Wird sie nicht gelöst, so sind alle anderen
Anstrengungen vergeblich, denn sie ist die Voraussetzung dafür, daß sie
überhaupt wirken können.