Direkt zum Seiteninhalt

Felix Philipp Ingold: Ozeanisches Welt- und Selbstverständnis

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Felix Philipp Ingold

Ozeanisches Welt- und Selbstverständnis
Victor Hugo in seinen Aufzeichnungen

Als Autor bietet Victor Hugo (1802-1885) ein bemerkenswert zwiespältiges Image – zumindest literaturgeschichtlich bleibt er präsent in der Position (manchmal auch in der Pose) des Nationaldichters, des populären Großschriftstellers, des Aufklärers wie auch des romantischen Schwärmers, des politischen und akademischen Würdenträgers, des abergläubischen Okkultisten und aufrechten Katholiken.
           Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen Erwartungen und Verpflichtungen Hugos Ruhm als Kulturheld verbunden war, weniger leicht, wie er ausserdem seine vielen Lebenskrisen – Krankheiten, familiäre Querelen, künstlerische Misserfolge, langjähriges Exil, Verlust von vier seiner Kinder durch deren vorzeitigen Tod – souverän bewältigen und auch noch sein ebenso umfangreiches wie vielfältiges Werk hat schaffen können: Die erste Gesamtausgabe (1880-1889) umfasste 48 Bände, darunter 16 Bände Poesie, 5 Bände Dramen, 14 Bände Romane, zudem politische, philosophische, historische und «vermischte» Schriften aller Art.
           Zu letzteren gehören seine tagebuchartigen Aufzeichnungen, die er ab 1830 bis 1885 unter dem lakonischen Arbeitstitel «Choses vues» mit staunenswerter Regelmässigkeit und Präzision bewerkstelligte, egal, womit er jeweils anderweitig beschäftigt oder ob er gleichzeitig auf Reisen war. Der Titel «Choses vues» (wörtlich: «gesehene Dinge») ist angesichts der Diversität der subsumierten Texte allzu eng gefasst. Denn Hugo zeichnete keineswegs nur Gesehenes auf (wie er es als talentierter Maler und Zeichner ohnehin tat) – auch Gelesenes, Gehörtes, Vermutetes, Gefürchtetes, Erhofftes, Erwünschtes gingen in seinen Schreibfluss ein, verschmolzen zu einem integralen Wahrnehmungs- und Gedankenprotokoll, das zuletzt rund 2000 Seiten umfasste.


Dinge, die ich mitbekommen habe» – das dürfte sinngemäss die adäquate Übersetzung für diese Textsammlung sein, doch Victor Hugo selbst gab für deren postume Publikation den gleichermaßen schlichten und pathetischen Titel «Ozean» vor: In einem horizontlosen Weltmeer glaubte er die zahllosen Trivia seines Lebens wie auch der Menschheitsgeschichte insgesamt aufgehoben; seine diesbezügliche, in der Buchausgabe enthaltene Erläuterung charakterisiert unterm Datum des 19. November 1846 das komplexe Schreibprojekt wie folgt:
           «Die Arbeit, die mir noch zu tun bleibt, erscheint mir wie ein Meer. Ein riesiger Horizont an geahnten Ideen, angefangenen Werken, Entwürfen, Plänen, halb erhellten Skizzen, unscharfen Konzepten, Dramen, Komödien, Geschichte, Dichtung, Philosophie, Sozialismus, Naturalismus, ein Haufen schwimmender Werke, in denen mein Gedanke versinkt, ohne zu wissen, ob er zurückkehrt. Wenn ich sterbe, bevor ich das alles zu Ende gebracht habe, werden meine Kinder […] das alles unter dem Titel ‘Ozean’ veröffentlichen.» – Doch dieser «Ozean» umgreift weit mehr als «das alles»; er erstreckt sich nicht etwa nur auf Hugos literarisches Schaffen, sondern ebenso auf seine Alltagswelt, das Familienleben, persönliche Bekanntschaften und Feindschaften, Festivitäten und faits divers aller Art, momentane Hochgefühle und schleichende Depressionen, auch auf frivole und obszöne Extras des Autors.
           Auch als Gegenstand mancher Lyrik- und Erzählwerke spielt der «Ozean» – konkret nun der Atlantik – für Victor Hugo eine prominente Rolle: Für den Dichter und seinen Dialog mit der Welt war das Meer der einzige gleichrangige Partner, er beschrieb und besang es in hymnischen Versen und Phrasen, es war seine ständige Herausforderung, sein Trost, seine Gefährdung – die naturhafte Entsprechung Gottvaters auf Erden. Und auch umgekehrt: An einer Stelle glaubt Hugo in der wogenden Menschenmenge, die sich bald flanierend, bald protestierend in Paris zusammenrauft, ebenfalls den «Ozean» zu erkennen.
           Als Exilant, polizeilich verfolgt wegen seiner öffentlichen Schmähung Napoleons III., lebte der berühmte Literat ab 1852 auf der britischen Kanalinsel Jersey, danach während fünfzehn Jahren – bis 1870 – auf Guernsey, wo er sich in einer luxuriösen Villa mit Seeblick einrichtete, um fortan intensiv auf «das Atmen des Meeres» hinzuhören. Dabei verfasste er in geradezu industrieller Produktion zahlreiche Werke, so die lyrischen «Züchtigungen» (1853) und «Betrachtungen» (1856) sowie die Romane «Die Elenden» (1962), «Die Arbeiter des Meeres» (1866), «Das Jahr Dreiundneunzig» (1874) u.a.m. Als Schreibstudio ließ Hugo auf dem Hausdach eine Glaskanzel erbauen, einen privaten «Kristallpalast» gewissermaßen, von dem aus er über sein Stehpult hinweg ständigen Sichtkontakt mit dem Atlantik hatte. Das Exil erwies sich für ihn als ein Glücksfall, seinen Wohnsitz auf Guernsey behielt und besuchte er auch noch lange nach der Rückkehr in die französische Hauptstadt. Der «Ozean» war für ihn zum Realsymbol aller Kreativität und Wahrheit geworden.


Da man als heutiger fremdländischer Leser mit manchen – den meisten – bei Victor Hugo erwähnten zeitgeschichtlichen Ereignissen und Personen nicht vertraut ist, liest man die kalendarischen Aufzeichnungen eher als eine fortlaufende dokufiktionale Erzählung, bei der es weniger auf den Realitätsbezug ankommt als auf die stilistische Kohärenz und die lebhafte Wechseloptik des Autors, der mit stets gleichbleibender Aufmerksamkeit, dabei mit höchstem Formbewusstsein und Einfühlungsvermögen vergegenwärtigt, was er während vieler Jahrzehnte in und an seiner Umwelt wahrnimmt: Ein Sammelsurium von Eindrücken und Einsichten, mal flüchtigen, mal nachhaltigen, die sich zu einem kohärenten Panorama der durch Revolutionen und Kriege aufgewühlten Epoche zwischen Kaisertum, Restauration, Konstitutionalismus und Republikanismus fügen, aber auch die Ablösung der Romantik durch den Realismus dokumentieren.
           Hugo hat diesen historischen Schleuderkurs nicht nur miterlebt, er hat auch als Dienst-aristokrat (Pair de France), als zeitweiliges Senatsmitglied, als Académicien, als Journalist, Volksschriftsteller und öffentlicher Redner auf ihn eingewirkt, bisweilen mit Erfolg, öfter als Verlierer – bestraft wurde er dafür mit mehrfacher offizieller Ächtung, mit persönlichen und behördlichen Anfeindungen, schließlich mit langfristiger Landesverweisung. Vom überzeugten Monarchisten hat er sich unter wechselnden Regierungen zum überzeugten, sozial engagierten Republikaner gewandelt.
           Allemal treu geblieben ist er sich in seiner inoffiziellen Funktion als «Minister des Wortes» im Interesse der Gerechtigkeit. Die in der Jahrhundertmitte aufkommende modernistische «Kunst für die Kunst» (l’art pour l’art) konterkarierte er konsequent mit seiner politisch und sozial ausgerichteten «Kunst für den Fortschritt». Von daher erstaunt es nicht wirklich (obwohl es als Defizit auffällt), dass im «Ozean» seiner zeitkritischen Notate mit keinem Wort von Charles Baudelaire die Rede ist, dessen innovatives Dichtwerk «Blumen des Bösen» 1857 in einem sensationellen Gerichtsprozess wegen angeblicher Moralwidrigkeit mit Zensur und Buße belegt wurde – ein Ereignis, das den damaligen französischen Literaturbetrieb erschütterte, bei Hugo jedoch offenkundig keinerlei Irritationen hervorrief.


Ansonsten beweist sich der etablierte, bestens informierte Autor auf eindrückliche Weise als disziplinierter Vielschreiber, als aufmerksamer, mahnender, auch provozierender Selbstdenker – sein eigenes Luxusbedürfnis und sein gesicherter Wohlstand hinderten ihn nicht daran, sich immer wieder für bedrängende Sozialanliegen stark zu machen: Bekämpfung der Armut, Förderung des Bildungswesens, der Frauenrechte, der Kranken- und Alterspflege.
           Die Abschaffung der Todesstrafe stand während Jahrzehnten auf seiner publizistischen und schriftstellerischen Traktandenliste, ebenso die Begnadigung zwangsexilierter Regimegegner. Beispielhaft für diesen uneigennützigen Einsatz war – in den Aufzeichnungen detailliert beschrieben – der Fall des englischen Hochstaplers und Mörders John Charles Tapner, der 1854 auf Guernsey hingerichtet wurde, obwohl Victor Hugo beim Innenministerium dringlich die Umwandlung der Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe angemahnt hatte; immerhin vermochte er dadurch einen strafrechtlichen Reformimpuls zu setzen – auf Guernsey gab es nach seiner Intervention keine Hinrichtungen mehr. Damit war die Todesstrafe allerdings noch lange nicht abgeschafft. Hugo notiert: «Ich riss eine Handvoll Gras vom Grabe Tapners, legte es in meine Brieftasche und ging davon.»


Seiner luziden Intelligenz und seiner progressiven Weltanschauung zum Trotz war Victor Hugo zeitlebens von religiösen, spirituellen und esoterischen Dingen fasziniert, vermutlich auch eingeschüchtert – fasziniert bis zur Hilflosigkeit, so wie er der Erotik in hilfloser Faszination verfallen war. In seinem «Ozean» finden sich vielerlei Spuren und Belege dafür: Die dramatischen Verwicklungen seiner Ehe – mit einer Schauspielerin lebte er jahrzehntelang im Konkubinat, derweil die Gattin ein Liebesverhältnis mit seinem Freund und nachmaligen Widersacher Sainte-Beuve unterhielt – bieten zusammen mit andern außerehelichen Affären reichlich Stoff nicht nur für intime (teilweise chiffrierte) Rapporte, sondern auch für die eigene literarische Produktion, vorab für Bühnenstücke und Gedichte.
           In religiöser Hinsicht hielt Victor Hugo, bei all seiner politischen, privaten und welt-anschaulichen Unstetigkeit, durchwegs am Gottvater der katholischen Kirche fest; noch mit seinen Enkeln besuchte er häufig Messen, gern auch Friedhöfe, er war bibelfest wie kaum ein andrer seiner aufgeklärten Zeitgenossen, das Gebet praktizierte er als alltägliches geistiges Exerzitium.
           Mag sein, dass ihm der tiefe christliche Glaube das Verständnis (und die Toleranz) für andere Religionsgemeinschaften erschwert hat. Auffallend bleibt vorab seine ambivalente Haltung gegenüber dem Judentum: Während er die alttestamentlichen Israeliten respektvoll in Ehren hielt, scheute er sich nicht, «die Juden» in manchen seiner Schriften klischeehaft als Wucherer, Halsabschneider, Hochstapler, Sklavenhändler zu verunglimpfen – was ihn freilich keineswegs daran hinderte, mit gesellschaftlich und geschäftlich erfolgreichen jüdischen Persönlichkeiten (unter ihnen sein Banquier Rothschild) stilvollen Kontakt zu pflegen. Nicht zuletzt bei seinen regelmäßigen Theater- und Opernbesuchen hatte er reichlich Gelegenheit für derartige Kontakte, in der Loge ebenso wie hinter der Bühne, wo er mit manchen Schauspielern, Sängerinnen, Tänzerinnen oder Musikern orientalischer Herkunft zusammentraf, ohne nach deren jüdischer (oder auch muslimischer) Religionszugehörigkeit zu fragen.


Zu Victor Hugos Glaubensleben gehörte auch seine abergläubische Befangenheit. Er hatte eine unwiderstehliche Neigung zum Okkultismus, nahm an spiritistischen Séancen teil. In seinen Aufzeichnungen berichtet er oftmals von Spukerscheinungen und Klopfgeistern, die ihn seinerzeit aus dem Schlaf aufschreckten. Eine dieser Szenen beschreibt er wie folgt: «In der Nacht vom 1. auf den 2. November [1882], zwischen Allerheiligen und Allerseelen, hörte ich mitten in der Nacht in meinem Zimmer, in dem es stockfinster war, zweimal ein seltsames Geräusch. Da es sicher ist, dass unsere Erde nicht die ganze Welt ist, und da es notwendigerweise eine Verständigung zwischen den Schöpfungen gibt, schweige ich und verneige mich.»
           Mit Hugos mathematischen Kompetenzen und naturwissenschaftlichen Interessen sind solch übersinnliche Eskapaden schwerlich zu vereinbaren, doch tritt hier die gleiche fundamentale Ambivalenz zutage, die er in den Doppelrollen des ausschweifenden Moralisten, des antiautoritären Monarchisten, des frommen Freidenkers und des konservativen Fortschritts-predigers mit souveräner Selbstverständlichkeit vor aller Welt ausgespielt hat.


Victor Hugos kleinteiliges Monumentalwerk lässt sich nicht adäquat resümieren; zu unterschiedlich sind nach Form und Inhalt die zahllosen Eintragungen. Um aber die Spannweite – oder Fallhöhe – zwischen schlichten faktographischen Vermerken einerseits und aphoristisch zugespitzten Weisheiten andrerseits aufzuzeigen, seien an dieser Stelle, zu vorläufigem Vergleich, einige Extrakte wörtlich angeführt.
           Direktnotate: «Ich war bei Rothschild. Habe 46'073 Francs eingezahlt.» – «Von meinem Fenster aus sehe ich die Gezeitenwoge.» – «Senat. Nichts als Sorgen. Wir hatten drei geheime Sitzungen.» – «Heute sah ich zum ersten Mal Dupanloup. Krumme Nase. Rotes Gesicht. Wütende Miene.» – «Ich schenke Georges einen Wagen und außerdem ein Pferd, das ich bin.» – «Sah um neun Uhr abends das Licht in Cobo-Bay.» – «Gerüchte. Tratsch. Gerede.» – «Überall wurde es Nacht.» – «In der Nacht des 24. Februar wurden in Paris 1574 Barrikaden errichtet.» – «Am 6. Januar 1845 erkrankte der Eigentümer des Hauses Nr. 12 an der Rue Saint-Anastase, ein Greis von 85 Jahren, der M. Burgat hieß.» – «An diesem Abend pausierten alle Theater. So endete das Jahr 1847.» – «Immer  noch keine Antwort von der Königin.» – «Ich nehme meine Arbeit wieder auf. Denken ist Beten.»  – «Heute vor 26 Jahren habe ich meine Mutter verloren.» – «Heute vor 19 Jahren habe ich meinen Vater verloren.» – «Heute genau vor einem Jahr habe ich mit diesem Tagebuch begonnen.» – «Heute vor drei Jahren … leider.» Usf.
           Sinnsprüche: «Wenn die Richter Kurtisanen sind, ist auch die Justiz eine Kurtisane.» – «Ein kleines freies Volk ist größer als ein großes versklavtes Volk.» – «Überall dort, wo zwei Menschen denken, gibt es zwei weitere, die sich gegen sie verschwören.» – «Die vergangenen Revolutionen akzeptieren, um künftige zu vermeiden.» – «Versuchen Sie, als Adler eine Armee von Spatzen zu befehligen!» – «Wenn die Geschichte lügt, dann sind die Lügen, die sie erzeugt, mehr wert als die Wahrheiten, die wir herstellen.» – «In diesem Moment der Panik habe ich nur vor denen Angst, die Angst haben.» – «Gleichheit, politische Übersetzung des Wortes Neid.» – «Das beste Mittel, den Krieg zu vermeiden, besteht darin, zu zeigen, dass man ihn nicht fürchtet.» – «Die Aussprüche der Mme de Staël sind oft mehr wert als ihre Bücher.» – «Ruß ist der Beste Nelkendünger.» – «Unterhaltung mit dem König. Über die Sprachen sagte er mir: ‘Englisch ist ein deutsches Skelett in französischen Kleidern.’» – «Den Königen gehört das Heute, den Völkern das Morgen.» Usf.


Die vorliegende deutsche Edition enthält ungefähr die Hälfte von Victor Hugos «Ozean». Die Textauswahl tendiert zur Bevorzugung längerer Eintragungen (protokollartige Berichte, Reportagen, Dialoge) vor knappen Notaten und aphoristischen Sprüchen – zwei bestimmende Dimensionen des Werks werden damit merklich eingeschränkt: das Interesse des Autors an alltäglichen, scheinbar irrelevanten Trivialitäten («Richy sagt, er hat einen Vetter, der von einem Wildschwein ermordet wurde.») und seine Vorliebe für sinnreiche Gedankenblitze und Sprachspiele. Doch insgesamt sind die herausgeberischen Entscheidungen durchaus nachvollziehbar. Der detaillierte, nahezu 100-seitige Anmerkungs- und Kommentarteil verleiht dem Band zusätzliches Gewicht; dass dieser Anhang zu grossen Teilen aus der französischen Edition von Hubert Juin übernommen wurde, hätte aber vom deutschen Herausgeber durchaus vermerkt und verdankt werden können, sogar – müssen.


Victor Hugo: «Ozean» (Dinge, die ich gesehen habe). Heraus-gegeben, aus dem Französischen und mit einer Einleitung versehen von Alexander Pschera. Berlin (Verlag Matthes & Seitz) 2023. 978 Seiten. 48,00 Euro.
Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Publizist und Übersetzer in Zürich; jüngst in Buchform erschienen: «Die Zeitinsel» (Roman, 2022), «Denken im Abseits» (Essays, 2022), «Haikulike» (Gedichte, 2022).
Zurück zum Seiteninhalt