Felix Philipp Ingold: Mit Benjamin bei Goethe
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Felix Philipp Ingold
Mit Benjamin bei Goethe
Mystifikation statt Kritik
Ernüchterung beim Wiederlesen einiger
Meisterwerke von J. W. von Goethe: «Die Leiden des jungen Werthers», sein
erster Erfolgstitel, bietet wohl fulminante Erzählkunst, aber kaum noch
nachvollziehbare Sentimentalität und minimalen Erkenntniswert; der
«West-östliche Divan», als vielstimmige Evokation einer versöhnten Weltkultur
definitiv kanonisiert, erweist sich bei neuerlicher Durchsicht – gerade im
Hinblick auf den aktuellen, teilweise kriegerischen Clash unterschiedlicher
religiöser und zivilisatorischer Traditionen – als eine unhaltbare
Idealisierung, ausgeführt in vielzitierten eingängigen Versen, bald
volksliedhaft, bald lehrhaft vorgetragen; «Die Wahlverwandtschaften» – edelste
Gesinnung in edelster Prosa vergegenwärtigend, edle Gesellschafts-,
Wirtschafts- und Weltprojekte gleichsam im luftleeren Raum ausarbeitend, alles
von höchster Künstlichkeit und Realitätsferne, obwohl der Autor die ganze
Geschichte explizit als eine lückenlose Zusammenfassung eigener Erfahrungen ausgewiesen
hat.
Dass meine
Ernüchterung in eklatantem Widerspruch steht zu den vielfältigen Erkenntnissen
und Belobigungen der Universitätsgermanistik, ist mir durchaus klar, und ich
will meine jüngsten Leseerfahrungen mit dem «Olympier» auch gar nicht
verallgemeinern, diese aber doch ergänzen mit dem Hinweis auf Goethes «Reisen»
(Schweiz, Italien, Frankreich) und seine naturwissenschaftlichen Schriften
(vorab zur Botanik, Erdkunde und Farbenlehre), die meines Erachtens zu den bleibenden
Meisterleistungen deutscher Prosa gehören.
•
Um meine Ernüchterung bezüglich der
«Wahlverwandtschaften» zu überprüfen und sie mir allenfalls zu erklären, greife
ich auf den vielzitierten, vielgelobten Aufsatz Walter Benjamins über Goethes
Meisterroman zurück, abgefasst in den mittleren 1920er Jahren, inzwischen
vielfach nachgedruckt und ebenso vorbehaltslos belobigt wie das epochale
Erzählwerk, das er zum Thema hat. Ich habe den Aufsatz seit vielen Jahren nicht
mehr unter der Hand gehabt, finde im Text einige meiner Unterstreichungen, am
Rand das eine und andre Ausrufezeichen; frühere Lektüren habe ich in positiver
Erinnerung.
Nach
nochmaligem Wiederlesen komme ich zu einer zwiespältigen Einschätzung.
Benjamins weitläufige Ausführungen bringen mir «Die Wahlverwandtschaften» nicht
näher, bieten keinen stringenten Leitfaden zu besserem beziehungsweise
aktualisiertem Verständnis des Romans, im Gegenteil, sie führen in zahllosen,
ungemein klugen Exkursen – über das Wesen der Liebe, der Keuschheit, der
Ehe, der Schönheit, der Scheinhaftigkeit, der Schuld, der Versöhnung, der
Rührung, des Todes – eher vom Text fort als zu ihm hin.
Das «Geheimnis»
des eigentlich geheimnislosen, rational und transparent komponierten Werks wird
nicht erhellt, es wird vielmehr verdichtet durch Benjamins raunende, durchwegs
tragisch intonierte Rede: Hier soll ein angeblich tiefgründiges Geheimnis als
solches bewahrt und vertieft werden. Was im Roman vordergründig als eine
tragikomische Revue der Irrungen und Wirrungen sich abspielt, wird von Benjamin
unentwegt hinterfragt und ausgedeutet, so dass ich als Leser letztlich nur noch
vermeintliche Hintergründe vorgeführt bekomme und dabei Goethes bukolische
Inszenierung aus dem Blick verliere.
•
Walter Benjamin nimmt für sich einen
«kritischen» Ansatz zum Verständnis des Werks in Anspruch, um den
«Wahrheitsgehalt» des Romans als «Kunstwerk» zu ergründen; wörtlich: «So fragt
der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den
schwarzen Scheiten des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.» Das ist
eine eigenwillige, fast schon esoterische Funktionsbestimmung von «Kritik.
Diese entfaltet sich im Aufsatz zu einem ebenso spekulativen wie apodiktischen
Diskurs, der die Wahrheit der «Wahlverwandtschaften» eher zu konstruieren denn
zu eruieren scheint – was um so mehr frappiert, als sich Benjamin zur Zeit der
Niederschrift unter dem prägendem Einfluss des Marxismus-Leninismus stand und
als überzeugter Linksintellektueller die Nähe zu sowjetischen Medien und
Verlagen suchte.
Benjamins
Selbstgewissheit findet ihren Ausdruck in zahlreichen pauschalen Aussagen, die
das Argument oft durch die Behauptung ersetzen – souverän, brillant, nicht
immer nachvollziehbar, bisweilen abgehoben ins Religiöse. Religiös
imprägnierte, schwer fassbare, dabei definitorisch wirkende Merksätze finden
sich bei Benjamin in grosser Zahl, zum «kritischen» Verständnis der
«Wahlverwandtschaften» tragen sie freilich kaum etwas bei; Sätze wie diese: «Die
Liebe wird vollkommen nur, wo sie über ihre Natur erhoben durch Gottes Walten
gerettet wird.» – «In der Neigung löst der Mensch von der Leidenschaft sich
ab.» – «Schicksal ist der Schuldzusammenhang von Lebendigem.» – «Und alle
echten Werke haben ihre Geschwister im Bereiche der Philosophie.» Usf.
•
Von Walter Benjamins «Kritik» liesse sich
ein Gleiches sagen – sie ist eine Schwester der Philosophie. Als Exeget der
«Wahlverwandtschaften» ist er weniger am Text als solchem interessiert, an
dessen Stil, Rhetorik, Komposition und Dramaturgie, vielmehr daran, was der
Text an «Wahrheit» zu bieten beziehungsweise zu offenbaren hat: Die Wahrheit
müsse sich im literarischen Kunstwerk als «erfordert» erkennen. Mehrfach
vergleicht Benjamin das rationale Konstrukt des Romans mit dem Mythos, dem jedoch
Rationalität zu Gunsten der Symbolik gerade abgeht. «Denn darein [ins Chaos]
mündet zuletzt das Leben des Mythos, welches ohne Herrscher oder Grenzen sich
selbst als die einzige Macht im Bereich des Seienden einsetzt.» Und noch: «Alle
sprachliche Klarheit des Handelns ist scheinhaft, und in Wahrheit ist das
Innere so sich Bewahrender ihnen selbst nicht weniger als andern verdunkelt.»
Benjamins «kritische» Interpretationen bedürfen ihrerseits kritischer
Interpretation, allzu viele seiner Formulierungen klingen prätentiös, weil sie
Tiefsinn vortäuschen, wo nur priesterliches Wortgeklingel zu vernehmen ist.
Man verstehe:
«Daher darf kein Kunstwerk gänzlich ungebannt lebendig scheinen, ohne blosser
Schein zu werden und aufzuhören, Kunstwerk zu sein. Das in ihm wogende Leben
muss erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen. Dies in ihm
Wesende ist blosse Schönheit, blosse Harmonie, die das Chaos – und in Wahrheit
eben nur dieses, nicht die Welt – durchflutet, im Durchfluten aber zu Beleben
nur scheint.» – Wer versteht’s?
Wer’s versteht –
hätte er damit auch den Kunstcharakter der «Wahlverwandtschaften» verstanden?
Benjamin liest den Roman wie einen sakralen Text, er liest «Wahrheiten» in ihn
hinein, die sich wiederum als «Geheimnisse» erweisen. Goethes Werk, so hält er
abschliessend fest, «bleibt dem Innenraum im verschleierten Lichte zugewendet,
das in bunten Scheiben sich bricht». Was also haben wir gelesen, wenn wir «Die
Wahlverwandtschaften» gelesen haben? Mit Walter Benjamin ist die simple Frage
nicht zu beantworten.
Mein
Fazit: das Wiederlesen kann frühere Lektüreerfahrungen bestätigen,
modifizieren, wohl auch aufwerten, es kann aber auch – wie in diesem Fall – zu
Ernüchterung führen, zu erhellender Enttäuschung.