Felix Philipp Ingold: ChatGPT und / oder Autorschaft
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Felix Philipp Ingold
ChatGPT
und / oder Autorschaft
Nebst grossem Applaus und mancherlei
Hoffnungen hat der im Herbst 2022 lancierte ChatGPT, der heute schon einhellig
als die bedeutsamste medientechnologische Innovation seit der Einführung des
Buchdrucks rubriziert wird, sofort auch viele Befürchtungen geweckt: Diverse
textbasierte Berufszweige und Produktionsweisen sollen durch die neue weltweit
verfügbare künstliche Intelligenz von Verdrängung, wenn nicht vom Verschwinden
bedroht sein. Solcher Bedrohung seien nicht zuletzt Publizisten, Werbetexter,
Ghostwriter und Literaten ausgesetzt, deren auktoriale Souveränität
schon bald abgelöst werden könnte durch autopoetische, völlig
unpersönliche Textproduktion.
Texte
unterschiedlichster Art – Gutachten, Geschäftsberichte, Versicherungspolicen,
Gerichtsakten, Kondolenzschreiben, Sitzungsprotokolle, aber auch Kolumnen,
Reportagen oder Rezensionen, sogar Erzählungen und Gedichte – bräuchten dann
nicht mehr eigens abgefasst zu werden, es genügte, sie durch Eingabe
entsprechender Stich- und Leitwörter via Chat erstellen zu lassen und sie
danach allenfalls zu lektorieren. Der solcherart gewonnene Output ist in jedem
Fall aus Hunderten, Tausenden von fremden Versatzstücken kompiliert und wird dennoch
von einem «ich» (angeblich dem eigenen) beansprucht: Ich spricht nach
was wir längst gesagt haben.
•
Das System ChatGTP führt Milliarden von
Parametern zusammen, die es laufend aus dem Internet gewinnt und in wechselnden
Konstellationen zum Abruf bereithält, es ist also gleichermassen konservativ
(durch Archivierung) und produktiv (durch Komputierung) der erfassten Daten.
Die sogenannte «schöne» Literatur – Belletristik, Drama, Poesie – steht hier
naturgemäss vor besonderen Herausforderungen, und vorab steht sie den
Voraussetzungen und Möglichkeiten des Chat entgegen, so wie umgekehrt
der Chat aller künstlerischen Literatur entgegensteht.
Denn
das funktionale Grundprinzip dieses Texterzeugungssystems beruht primär auf den
Kriterien der Häufigkeitsverteilung und Rekurrenz. In Reaktion auf eingegebene
Fragen oder Forderungen liefert der Chat tatsächlich in jedem Fall die
wahrscheinlichste Antwort – das Geläufige hat Vorrang, derweil gewollt
Eigenartiges, Sperriges, Innovatives, vielleicht auch Absurdes oder Falsches zu
Gunsten normal temperierter Rede ausgesteuert wird. Das System lernt laufend
aus seinen eigenen Fehlleistungen, so dass Abweichungen, Widersprüche,
Überraschungen mehr und mehr, irgendwann womöglich ganz ausbleiben. Ob
allerdings ChatGPT jemals eigens eine vernünftige Frage zu stellen in
der Lage ist, auf die jemand anderes vernünftig antworten könnte oder ob
er irgendwann im Stand sein wird, sich selbst zu befragen oder gar sich selbst
in Frage zu stellen, bleibt offen.
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Mit der Chatbot-Technik wird die Sprach-
und Schreibkultur unabwendbar dem Mittelmass (ebenso wie dem Gleichmass) angeglichen:
Nivellierung und Unifizierung. Die Literatur (zumindest die künstlerisch
relevante Literatur) verfährt gerade umgekehrt – ihre Ambition ist nicht
Anpassung und Gleichmass in Bezug auf die übliche Sprachverwendung, sondern
Abkehr davon. Auf allen Funktionsebenen – von der Grammatik bis zur Metaphorik
– hat bei literarischen Texten die Normabweichung (oder der Normbruch) Vorrang
vor der Einhaltung bestehender Konventionen. Auch Erwartungen, inhaltliche wie
formale, werden eher enttäuscht als erfüllt, das Unwahrscheinliche wird
gegenüber dem Wahrscheinlichen und Plausiblen aufgewertet. Das betrifft die
Wortwahl und Wortfolge ebenso wie den Motiv- und Handlungsaufbau.
Als
Beispiel dafür mag ein insgesamt konventionell formatiertes Gedicht aus Rilkes «Buch
vom mönchischen Leben» (1899) dienen, daraus der folgende Wortlaut:
Ich
fühle: ich kann –
und
ich fasse den plastischen Tag.
Diese rational kaum fassbare Formulierung –
genau diese, eingeschlossen die Interpunktion – würde ChatGPT aus
verschiedenen Gründen nicht erbringen können. Die Verbindung von «Tag» und
«plastisch» läuft jeder Wahrscheinlichkeit und vollends jeder Regelhaftigkeit
zuwider, abgesehen davon, dass der nüchterne Begriff «plastisch» im Kontext des
besinnlichen Gedichts ebenso deplaziert wirkt wie in direktem Bezug auf das
Wort (und die Vorstellung) «Tag». Auch die spezifische rhythmische Instrumentierung
der Aussage «ich kAnn - | und ich fAsse den plAstischen TAg» mit dem vierfachen
Einsatz des Vokals «a» wäre für die KI des Chat keine Option, weil sie – hier
vom Autor gewollt – vom üblichen Sprachgebrauch abweicht.
Das
gilt im Weitern auch für die «Blicke», die Rilke im selben Gedicht eigenwillig
und entgegen realistischer Wahrnehmung als «reif» bezeichnet, und es gilt
ebenso für die überraschende Wortfolge der Schlussverse: «… bin ich ein Falke,
ein Sturm | oder ein grosser Gesang» – eine heterogene
Aufzählung, die der Logik wie der Gewohnheit, mithin der Erwartung offenkundig
widerspricht, dies um so mehr, als sich das lyrische Ich mit den genannten
disparaten Dingen ineins setzt. Die von ChatGPT bevorzugte Wahrscheinlichkeit
und Geläufigkeit wie auch seine fortbestehende rhetorische Unbeholfenheit
werden damit klar konterkariert. Beliebig viele andere Gedichte und
Gedichtauszüge, aber auch künstlerische Prosatexte belegen ein Gleiches.
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Ein weiterer Schwachpunkt (oder jedenfalls
ein Nachteil) der Chatbot-Intelligenz besteht darin, dass ihr Output
quantitativ verhältnismässig beschränkt ist. Vorzugsweise produziert KI,
ausgehend von der Art und Anzahl der eingegebenen Daten, Texte kleineren
Umfangs. Ein Sachbuch oder einen Roman über Hunderte von Druckseiten vermag er
vorerst nicht auszuarbeiten, es sei denn mit zahllosen Wiederholungen,
Pleonasmen und Ungereimtheiten. Auch geht ihm die Fähigkeit ab, einen Text in
irgendeiner Form zu individualisieren beziehungsweise überhaupt so etwas wie einen
Personalstil zu entwickeln. Statt dessen generiert er einen Allerweltstil, der
weder als Personalstil noch als Epochenstil (Zeitstil, Trend- und Modestile)
gelten kann, der aber seinerseits als KI-Produkt vorerst noch leicht zu
identifizieren ist.
Generell
ist allerdings festzuhalten, dass sich die gegenwärtig erfolgreich in
auktorialem Alleingang produzierte Belletristik, und zwar Prosa wie Lyrik, von
KI-Texten nur unwesentlich unterscheidet: Ein stilistisches wie technisches
Übereinkommen solcher Mehrheitsliteratur mit Chatbot-Produkten ist durchaus
denkbar und wird sich wohl in absehbarer Zeit auch einstellen. KI-Literatur
wird sich als valable Belletristik durchsetzen und Belletristik wird als
Gebrauchsliteratur fortbestehen, derweil starke, autonome Literatur als
Kunst sich deutlich davon abheben und so wie bisher einen eigenen,
verhältnismässig engen Rezeptionsraum für sich beanspruchen wird – als
unentbehrliches Nischenprodukt für die Wenigen, die’s zu schätzen und zu nutzen
wissen. Ja, die gängige Belletristik, einschliesslich der mehrheitlichen
Lyrikproduktion, dürfte in absehbarer Zeit durch künstliche Intelligenz ebenso
leicht zu bewerkstelligen sein wie irgendwelche Gebrauchs- und Werbetexte.
Literaten, Publizisten, Kultur-, Sport- oder Gerichtsberichterstatter können
gleichermassen auf Entlastung hoffen.
Aber
es wird dadurch zu einer deutlichen Scheidung zwischen
Unterhaltungsbelletristik und Gelegenheitslyrik einerseits und künstlerisch
avancierter Dichtung andrerseits kommen. Diese mag man weiterhin für
«schwierig», für «elitär» halten, und ihren diskriminierenden Ruf wird sie
sicherlich nicht verlieren, doch von künstlicher Intelligenz wird sie sich
nicht einholen oder gar überbieten lassen, da ihre Herstellung eine Reihe von
Verfahren voraussetzt, die tatsächlich nur künstlerisch – und eben nicht
künstlich – zu realisieren sind.
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In ganz anderm Zusammenhang, nämlich im
Hinblick auf klandestines Schreiben unter staatlicher beziehungsweise
ideologischer Repression hat einst Leo Strauss der Nischenliteratur einen
erhellenden Essay gewidmet («Persecution and the Art of Writing», 1941),
der sich insofern auf die aktuelle Schreibszene übertragen liesse, als
Unterdrückung und Sanktionen heute vom totalitären, d.h. vom totalisierten
Diskurs der neuen Medien ausgehen, und nicht mehr nur von staatlichen oder
kirchlichen Institutionen. Entgegen dem medialen Druck zu Nivellierung
und Unifizierung wird sich verstärkt ein «eigentümlicher Typ von Literatur»
herausbilden, den man ohne kritischen Beiklang als elitär bezeichnen kann, eine
minderheitliche Literatur, die auf Subjektivität, Intensität und Formkunst
setzt statt auf Allgemeinverständlichkeit, Breitenwirkung, Unterhaltung,
Erfolg.
«Diese Literatur
richtet sich nicht an alle Leser», konstatiert Strauss, «sondern nur an die
klugen und vertrauenswürdigen unter ihnen. Sie hat alle Vorzüge der privaten
Mitteilung, ohne deren grössten Nachteil zu haben – nur den Bekanntenkreis des
Schriftstellers zu erreichen. […] Der Umstand, der diese Literatur ermöglicht,
kann in dem Axiom ausgedrückt werden, dass gedankenlose Menschen unachtsame,
nachdenkliche Leser, jedoch aufmerksame Leser sind.» – Mit andern Worten: Die
Normalisierung und der dadurch bedingte Niedergang der mehrheitlichen
literarischen Kultur, wie sie derzeit weithin zu beobachten sind, wird die
künstlerisch starke Literatur noch mehr marginalisieren als bisher, wird ihr
aber gleichzeitig zu neuem Auftrieb, neuen Formbildungen, neuen individuellen
Ausdrucksmöglichkeiten verhelfen, während andrerseits die heutige
Erfolgsbelletristik – man sehe sich die sogenannten Bestenlisten an – damit
rechnen muss, von künstlicher Intelligenz ohne merklichen Qualitätsverlust
übernommen, womöglich gar überboten zu werden.
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Zum ChatGTP bildet das bisher weithin
praktizierte, noch immer gern angewandte Verfahren des Copy, cut & paste in
seiner (mit Marshall McLuhan zu reden:) «kühlen visuellen Objektivität» die
technologische, noch stark handwerklich geprägte Vorstufe. Im Unterschied zu
KI-generierten Texten lässt die ältere Technik des Aus- und Zusammenschneidens
doch noch Restspuren eigenmächtigen menschlichen Wollens und Verfertigens
erkennen – die Auswahl der zu kopierenden, dann zu zerschneidenden und neu zu
arrangierenden Vorlagen bleibt Sache eines individuellen Herstellers, der zwar
nicht mehr als Autor, aber doch als Gestalter des daraus entstehenden Werks
gelten kann. Mit dem Chatbot wird auch diese reduzierte Funktion ausser Kraft
gesetzt.
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Die Frage, wer der Autor, die
Autorin sei, verliert jegliche Relevanz, wenn das Was an dessen Stelle
tritt: Was ist es denn nun eigentlich, das den Text in der Form
entstehen lässt, die via ChatGPT programmiert und ausgefertigt wird? Aber auch:
Was ist es, das den so erzeugten Text als wahr beglaubigt oder als falsch
(gefälscht, verfälscht) erkennbar macht – ihn verantwortet? Lässt sich
ein solcher Text überhaupt verifizieren oder falsifizieren, da
der Chatbot zwischen Wahr und Falsch keinen Unterschied kennt?
Und
umgekehrt (von Leserseite): Wodurch und wie kann ein anonymes Textprodukt
irgendeinen Anspruch auf Gültigkeit, Triftigkeit, Verlässlichkeit und Souveränität
erheben? Lassen sich derartige Texte überhaupt noch bewerten, und nach welchen
Kriterien? Gibt es gute und weniger gute KI-Texte? Inwiefern kann ein KI-Text
überhaupt interessant sein? Und
übrigens: ChatGPT hat noch nicht einmal die Fähigkeit, einen Text letzter Hand
zu erstellen, statt dessen produziert er laufend Varianten zu einer und
derselben Anfrage oder Eingabe; also wird es nie ein Original in definitiver,
zitierbarer und diskutabler Form geben. Jeder KI-Text anders, scheinbar neu, in
Wirklichkeit aber ein Recyclingprodukt.
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Klar ist auch, dass der ChatGTP (der ja dem
Begriff nach bloss eine «Plaudertasche» sein will) strengeren literarischen
Ansprüchen noch nicht genügen kann und vermutlich nie genügen wird; er kann es
auch deshalb nicht, weil er für so elementare rhetorische Funktionen wie (gewollte)
Ironie, Parodie, Anspielung, Wortspiel, Irreführung, Schmeichelei, Verführung,
Lüge u.a.m. kein einsatzfähiges Register hat, geschweige denn für jene
sprachlichen Verfahren, die in der Lyrik so oft und so vielfältig praktiziert
werden, um Unausgesprochenes beziehungsweise Unaussprechliches in Worte zu
fassen – jenes schwebende Ich-weiss-nicht-was, das die Faszination aller
starken Dichtung ausmacht.
Auch
deshalb wird ChatGPT nie (so etwas wie) einen «Personalstil» entwickeln können,
sehr wohl jedoch einen unpersönlichen, gleichsam kollektiven Epochenstil,
wie die zeitgenössische Belletristik ihn ohnehin schon praktiziert. Weder
versteht ChatGPT, was ein Personalstil ist beziehungsweise wie sein Personalstil
beschaffen sein könnte, noch ist er in der Lage, einen solchen ohne
entsprechenden Input (von sich aus, auktorial) zu entwickeln.
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ChatGPT mag ein innovatives, wenn nicht
revolutionäres Verfahren der Texterzeugung sein, bestätigt in Wirklichkeit aber
nur, was Literatur schon immer gewesen ist: Sekundärliteratur. Denn seit
jeher erwachsen Texte aus Texten, wie die «Göttliche Komödie» aus der «Aeneis»,
die «Aeneis» aus der «Odyssee» und aus dieser, zweieinhalb Jahrtausende danach,
noch einmal ein «Ulysses», wie der von James Joyce, der in der Folge wiederum
vielfach überschrieben und fortgeschrieben worden ist. Nicht zu vergessen, dass
Dichtung etymologisch auf das Diktat zurückgeht, etwas Gesagtes also, das weiterzusagen
ist.
Das Recycling
von Texten ist demnach keine Erfindung vermittels künstlicher Intelligenz,
sondern bloss der technologisch perfektionierte Nachvollzug eines althergebrachten
künstlerischen Verfahrens. Ob aber künstlerisch und künstlich produzierte Texte
jemals vollkommen gleichartig und gleichwertig werden, muss sich
erst noch weisen. Starke Autoren, Autorinnen werden gegenüber künstlicher
Intelligenz resistent und überlegen bleiben, anders als die Mehrheitsliteraten,
die schon jetzt um ihre Projekte, ihre Jobs , ihre Preise und Ehrungen ernsthaft
bangen müssen.
Womöglich wird
gerade die Vollkommenheit den Unterschied machen – ein KI-Sonett mag in
formaler Hinsicht irgendwann «vollkommen» sein, doch was aller künstlichen
Literatur unersetzbar fehlen wird, ist der «schmutzige Daumen», der jedes echte,
originale und singuläre Kunstwerk vor der Vollkommenheit bewahrt.