Elke Engelhardt: Seitenwechsel - Fernweh nach Verbindungen
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Elke Engelhardt
Seitenwechsel:
Fernweh nach Verbindungen
Sechs
Menschen, sechs Standorte, sechs Mal Austausch über einen bestimmten Tag: Zeit,
ein paar Worte über das großartige Projekt „Seitenwechsel“ zu verlieren, das
vor nunmehr 2 ½ Jahren startete, und seitdem in der Literatur-zeitschrift
„Wortschau“ und auf der Online Plattform Faust Kultur nachzulesen ist.
Hier
teilen sehr unterschiedliche Menschen auf ihre je unverwechselbare Art und
Weise ihre Träume und Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte. Und nicht zuletzt ihr
„Fernweh“.
Wie
vielschichtig der Begriff „Fernweh“ ist, wie nah an Hoffnung und Sehnsucht nach
allem was fern sein kann, zeigt Johanna Hansen in ihrem Auftaktbeitrag zum
aktuellen Seitenwechsel, und eröffnet damit auf kongeniale Weise den Austausch
zwischen den, mit ihr, sechs Autor:innen, die seit mittler-weile zwei Jahren
dieses in der Literaturzeitschrift „Wortschau“ veröffentlichte Experiment,
mitgestalten.
„Fernweh“,
die Sehnsucht nach etwas, das aktuell immer weiter in die Ferne zu rücken
scheint, ist vielleicht überhaupt der Kern des Seitenwechsels, der Grund, warum
er initiiert wurde, und der Grund, warum er unbedingt weiter-geführt werden
muss. Um der Polarisierung und der Unfähigkeit einander zuzu-hören, die nicht
erst seit der an- und abflauenden Pandemie, den gesell-schaftlichen Umgang
bestimmt, etwas entgegen zu setzen.
Das
Gegengewicht „Seitenwechsel“ funktioniert so: an einem zuvor vereinbarten
Termin, werden die Teilnehmer:innen gebeten, Notizen über eben diesen Tag zu
machen. Auftakttermin war Montag, der 01. Juli 2019.
In
ihrem ersten Beitrag zum Seitenwechsel schreibt Johanna Hansen über die Idee
des Projektes und über die Hoffnungen, die sie damit verbindet:
„[…] ob es angesichts der uns abhanden gekommenen Ferne auch möglich ist, zeitgleich an sehr verschiedenen Orten und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven etwas entstehen zu lassen, das heimisch macht, jenseits geo-grafischer und politischer Trennungslinien. […] Und ich möchte wissen, ob und wie Nähe sich durch das gemeinsame Projekt definiert.“
Fünf
Mitstreiter:innen hat sie gefunden, die mit ihr nach dieser Beheimatung in der
Menschlichkeit suchen wollen. Oder eigentlich acht. Denn sechs Personen
schreiben Tagebucheinträge, beteiligt an dem Projekt sind aber mehr: Juliane
Gräbener-Müller und Lotte Schmitz übersetzen die Texte aus dem Ameri-kanischen,
Dagmar Vossen übersetzt die deutschen Varianten ins Englische, und Nicole Nau
übersetzt aus dem Lettischen ins Deutsche.
Neben
Johanna Hansen, Initiatorin des Projektes und Herausgeberin der Zeitschrift
„Wortschau“, Malerin und Lyrikerin, schreiben David Eisermann, Moderator, Autor
und Übersetzer, James C. Hopkins, Lyriker und ehemaliger Investmentbanker, der
in Kathmandu ein Mikrofinanzprojekt leitet, David Oates, vielfach
ausgezeichneter Autor und ehemaliger Hochschullehrer, Kathrin Schadt, Autorin,
Herausgeberin, Journalistin und Lyrikerin, sowie Gundega Repše, lettische Autorin und Kunsthistorikerin.
So
unterschiedlich die Standorte sind, von denen aus die Beteiligten schreiben;
allen gemeinsam ist die Lust am Sprachspiel und die Fähigkeit sehr genau zu
beobachten, an Details heran zu zoomen, bevor sie sie wieder in den
Gesamtzusammenhang zurückstellen.
Was
mich immer wieder verblüfft ist die Tatsache, wie sehr die scheinbar separaten
Einträge einer Künstlerin aus Düsseldorf, einer Autorin aus Barcelona, einer
Schriftstellerin aus Riga, eines Buddhisten aus Kathmandu und eines
Journalisten aus Bonn, sowie eines Schriftstellers aus Portland, sich
letztendlich aufeinander beziehen. Wenn z.B. beim ersten Seitenwechsel in allen
Beiträgen Tiere auftauchen, oder die Leser:in im folgenden die Möglichkeit
erhält, Weih-nachten an sechs unterschiedlichen Orten zu feiern.
Ein
besonderer Reiz liegt darüber hinaus in der eigenartigen Weise, mit der die
Beteiligten auf die Welt zugreifen. Während David Eisermann in seine Texte
surreale Momente einbaut, steht Gundega Repše
fest auf dem Boden der häufig unerfreulichen Tatsachen. David Oates
konzentriert sich häufig auf Phänomene der Kommunikation, denen er schreibend
auf den Grund geht, während Kathrin Schadt den Fährnissen des Lebens die Kraft
der Poesie entgegensetzt. James Hopkins, der Mann mit dem Guru auf seinem
Scheitel, strukturiert seine fiktio-nalen Tagebucheinträge mit wiedererkennbaren
Mustern, die durch leichte Abwandlungen einen Subtext entfalten. Johanna Hansen
schließlich eröffnet immer wieder neue Erinnerungs- und Assoziationsräume, in
die sie die Leser:innen einlädt.
Weit
entfernt von privater Nabelschau sind die Texte bei aller Intimität,
Subjektivität und Surrealität, politisch. Politisch, indem sie die drängenden
Fragen der Zeit aufgreifen. Das Zusammenspiel von Simultanität und
Perspektiv-wechsel lässt ein Kaleidoskop der Verbindungen entstehen. Etwas, das
gerade schmerzlich fehlt und bitter notwendig ist.
v.o.n.u.
David Eisermann
Johanna Hansen
James Hopkins
David Oates
Gundega Repše
Kathrin Schadt
http://archiv.faustkultur.de
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