Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond
Tobias Roth
Er ist nur halb zu sehen
Im Nachwort zu seinem neuen Band Cyrano oder die Rückkehr vom Mond trifft Durs Grünbein eine Reihe von poetologischen Aussagen, von denen zwei, in unmittelbarer Folge, einen merkwürdigen Widerspruch hervorzutreiben scheinen: „Dichtersprache ist sich der Relativität der Wortbedeutungen bewußt, das eben macht sie aus. Sie ist, misstrauisch gegen die uralte Ladung der Worte, immerfort in semantischer Schwingung, unterwegs zwischen den zeitgemäßen Bedeutungen, die erst im Abstand sich zeigen. Dichtung träumt davon, das Wort in den Felsen im Meer zu verwandeln, den die Gedanken wie Wellen umspielen und umspülen. Der tägliche Gebrauch der Worte ist für sie, was für jenen das Wasser ist – eine Naturgegebenheit, mit der Form, Farbe und Lichtverhältnisse wechseln.“
Zwischen den Polen des Auflösenden, Schwingenden (Dichtersprache ist) und dem Unverrückbaren, Festen (Dichtung träumt) besteht ein Kontrast; wobei die erste Frage wäre, ob dieser Kontrast überhaupt besteht und nicht vielmehr eine Unterscheidung zwischen der Dichtersprache und der Dichtung eingeführt werden soll – das erscheint aber aus deren Abhängigkeiten als geradezu unmöglich. Mit den täglich gebrauchten Worten der Werktagswelt soll vermutlich zweierlei geschehen, sie sollen zugleich dynamisiert bzw. als dynamisch dargestellt und monumentalisiert, verfestigt werden. Bis, so ließe sich hinzufügen, im Ouroboros der Sprach- und Literaturgeschichte der Felsen im Meer wieder zur uralten Ladung geworden ist; wohl hat der selbstverzehrende Ouroboros einen Magensaft aus Misstrauen. Man weiß es nicht. Die Frage aber ist, wie sich die neuen Gedichte Grünbeins zu diesem doppelten Anspruch verhalten, wie sie sich in diesen Koordinaten bewegen, was wir an ihnen umspielen und umspülen können.
Was es bei der Lektüre von Cyrano oder die Rückkehr vom Mond nicht zu vergessen gilt, ist die Blickrichtung der Gedichte. Es geht im Grunde nicht um das Andichten des Mondes, also den Blick nach oben, sondern ganz im Gegenteil um den Blick auf die Erde – vom Mond zurückgespiegelt wie das Sonnenlicht. Der Bewegungsvektor gleicht also mehr der raumfahrerischen Mondpraxis als dem der traditionell dichterischen Mondtheorie; beides schließlich fällt zusammen in der titelgebenden Gestalt des Savinien Cyrano de Bergerac, dessen Reiseroman Richtung Mond und zurück, Les États et Empires de la Lune, 1657 posthum erschien. Die Figur und ihr Name leisten im Band viel, geben etwa der Formulierung „nach den Sternen segelnd“ eine königliche Zweideutigkeit. Probleme der Landung also mehr als Probleme des Aufstiegs, und entsprechend endet das erste Gedicht des Bandes, Riccioli, „Er singt uns die Hymne, sein Wiederkehrlied. / Und die Erdenluft sagt ihm: es gibt nur sie.“
Die Blickrichtung des Zurück wird freilich immer wieder untergraben und der Blick geht durch den Nachthimmel zum Mond hinauf. Das wird man in dieser großen, monothematischen Anlage nicht zu harsch als Konzeptbruch verbuchen müssen, ebenso wenig wie man etwa die Beschreibungen des Mondes nicht gleich an Arno Schmidt messen muss. Den Mond zu beschreiben ist Pflicht und Kür auf hohem Niveau. Wunderbar gelungen, gerade durch das Spiel mit den Blickrichtungen, erscheint mir etwa: „Er scheint wie wir. Sein milchiges Trompe-l’œil / Öffnet am Himmel Tunnel in den Meeresgrund, / Auf dem die Sterne leuchten wie Medusen.“, oder die Spiegelung durchs Gemälde des herrlichen Adam Elsheimer hindurch in Theophilus.
Der Zyklus befindet sich, was seine Blickrichtung angeht, in einer Art Pendelschlag. So eröffnet beispielsweise das Gedicht Moltke mit der Frage „Was ist der Mond?“ und beschreibt im Zeitraffer einige klassische Mondbilder von der frühen Antike bis hinter den Barock, das anschließende Kant hingegen blickt wieder aus der Höhe herab: „Ätna, Krakatau, Hverfjall - // Winzige Pusteln, betrachtet durch Frau Lunas Brille“. Dass hingegen das letzte Gedicht des Bandes, Möbius, die Frage nach dem Wesen so ostentativ noch einmal stellt und beginnt: „Was ist der Mond?“, dass es, mit dem letzten Vers, die Blickrichtung völlig umdreht und das gewöhnliche Anschreiben aufruft: „Schreib einen Brief an den Mond. Schreib Cyrano...“, erscheint irgendwie schade. Folgt man der Einladung der Kursivierung über die Unklarheit des lyrischen Du und ergänzt „Schreib Cyrano oder die Rückkehr vom Mond“ scheint das spannende Konzept der Rückkehr zu implodieren.
Riccioli, Möbius. Die Gedichte des Bandes tragen die Namen von Mondkratern; indem die Mondkrater freilich nach berühmten Menschen benannt sind, ergibt sich hier die Möglichkeit zur doppelten Semantisierung, was zwar zuweilen aufleuchtet, aber soweit ich sehen kann und verstehe, nicht durchgängig zum Prinzip des Bandes gemacht wird. (Dass indes der nach dem großen Dichter Giovanni Pontano benannte Krater nicht vorkommt, der benachbarte, nach einem Mathematiker benannte Krater Sacrobosco hingegen schon, grämt mich ganz persönlich. Auch den Luftschiffer Giannozzo und seine Blickrichtung habe ich irgendwie vermisst.) Im Zuge der Lektüre aber treten die Gedichttitel vor der formalen Gleichmäßigkeit der 84 Gedichte in 8 Abschnitten zurück. Die Gedichte sind in dreiversigen Strophen gehalten, im lockeren Wechsel je drei bis fünf solcher Strophen. Die Verse sind alle in etwa gleich lang, im Mittel zwischen zehn und vierzehn Silben. Zuweilen finden sich Reime, die die Dreizeiler in wechselnden Ordnungen miteinander verspannen. Durch diese Gleichmäßigkeit dringt ein epischer Zug in den Gedichtband ein, eine Einladung, ja Verlockung zur linearen, fließenden Lektüre. Der ganze Band, mit einem Wort, arbeitet mit der Strukturanspielung der Terzine. Diese epische italienische Bauform des Verses ist freilich bekannt aus der experimentellen Kleinepik der Bukolik, aus didaskalischen und enkomischen Dichtungen, und vieles mehr. Eine Anspielung auf Dantes Commedia oder Petrarcas Trionfi wird indes kaum beabsichtigt sein.
Entdeckungen und Erwartungshaltungen. Blickt man die Gedichte durch die Brille der Terzine an, erscheinen sie plötzlich recht frei. Die Verslängen pendeln, wie gesagt, frei um die sachgemäßen elf Silben, die Reime nehmen jegliche Ordnung ein außer der charakteristischen kontinuierlichen Klammerform; da denkt man ein wenig an Rilkes Gedichte an Orpheus, die in ebener Art mit der Sonettform spielen. Viel zu drastisch würde es nun sein, wenn man von Terzinenhalbfabrikaten sprechen würde – denn Grünbein erweist sich tatsächlich als guter Reimer. Die Reimstrukturen schließen die einzelnen Gedichte gegeneinander ab, greifen also nicht über die Gedichte hinweg. Indes wird generös mit Waisen umgegangen, viele Gedichte reimen gar nicht, keinerlei Orthodoxie kommt auf. Dies hilft natürlich mit bei dem großen Kunststück, den Reim als strukturelle Erscheinung ganz in den Hintergrund zu versetzen, ihn gleichsam nicht „als Reim“ erscheinen zu lassen, sondern ihm die bloße Erzeugung von lautlicher Kohärenz und Evidenz zu überlassen. In diesem Sinne ist Grünbein ein guter Reimer – denn bei vielen Gedichten hätte man auf Anhieb gar nicht gemerkt, dass hier gereimt wird. Grünbein macht sich, durchaus verdienstvoll, auf den Weg zu einer Rückgewinnung des seriösen, unaufgeregten Reims, war der Reim doch durch lange Zeit wenn schon nicht für Komik, so doch für Pointen zuständig. (Die besten bleiben bekanntlich die Benn’schen.) Auch sind die Reimpaare zumeist recht weit von einander gestellt. In diesem Sinne reimt Grünbein unaufdringlich, angemessen – umso mehr, als unreine Reime in einer solchen Konzeption offen gereimter Dichtung ärgerlicher wären als in der strengen gereimten Form, auf die sie sich bezieht – wird der vereinzelte unreine Reim dort vom Konzept mitgetragen, muss der vereinzelte reine Reim hier das Konzept überhaupt erst erzeugen; dort ist der „Schaden“ punktuell, hier flächig. (Was auch passiert.)
Lautliche Kohärenz und Evidenz. Ich sprach zuvor von einer Implosion, auch von einer Explosion könnte man sprechen: Denn so gut und dezent Grünbein reimt, so übertrieben und grell alliteriert und assoniert er. Die kompakten Lautstände beginnen hier zuweilen jenen Krampf auszustrahlen, der sich in sprachlicher Verdichtung nicht mehr unterbringen lässt; immer wieder flammt etwa die Konzentration aufs U auf. Und je deutlicher der Form- und Inhaltswillen ist, umso schräger wirken Formulierungen, die von der Sprache gesprochen scheinen und nicht von einem Ich. Es verwundert schlichtweg, dass sich Grünbein von der Alliteration zu Formulierungen hinreißen lässt, die wenig Gewinn versprechen, und die die kurzen Einzelgedichte überfrachten – wo doch auch ohne sie der Band nicht minder klangvoll wäre und zudem die Reimstrukturen Kunststücke im besten Sinn zur konzeptionellen Strenge hinzuliefern.
Wie für die feinen Reime möchte ich auch für die unfeinen Alliterationen hier keine Beispiele geben, da mit dieser Technik die Einzelstellen zu schnell das Gewicht über das Ganze gewinnen; die Balance einer Rezension ist durch solche (ihrerseits grellen) Zitationen zu leicht ins Kippen zu bringen; mit solcher Schere, mit der bekanntlich Erpresserbriefe und viel Literaturwissenschaft gemacht werden, manipuliert und manövriert man zu leicht in ein lautes Urteil hinein. So auch im Folgenden.
Es gibt im Cyrano sehr schöne Stellen, die den Mond als Harmonisierer einer Ökonomie des Fühlens und den Kosmos gut griechisch als Tier darstellen (Isidorus), es gelingt dem Band immer wieder mit Astrologie und Astronomie zu spielen, ohne in ihnen mitzuspielen, es läuft die Kette innerer Revolutionen in feinen literaturhistorischen Kommentaren durch den Krater Novalis. Derrida versteckt sich im Krater Leibniz.
Dichtersprache immerfort in semantischer Schwingung, Dichtung als Traum vom Felsen. Ich hatte eingangs die Frage in Aussicht gestellt, inwiefern der Band zwischen diesen Aggregatszuständen vermitteln wird. Und da (abseits von lautspielerischen Kleinigkeiten oder Strukturmerkmalen, die mancher geschmäcklerisch und mancher feinsinnig finden mag) beginnt das Problem, das ich bei der Lektüre dieses Bandes bekomme – dass nämlich die Vermittlung als geglückte Balance zwischen dem beobachteten, weltlichen Flux und der Statuierung eines vorgängigen Gestaltungswillens ausbleibt. Die Kippe steht allerdings nicht so steil wie etwa in Aroma (2010), das mich fast komplett von der Lektüre des Cyrano abgehalten hätte. Zur Wahl des Themas, zum Bild des Mondes, zur Veränderung der Wahrnehmbarkeit der verschiedenen Himmelskörper in einer Phantasie- oder Außenansicht, zur reichen Fragilität der Erde und zur leeren Dauerhaftigkeit des Weltraums, zur Geschichte der Introspektion ab Ovids ad sidera tollere vultus: zu all dem wird man hier nicht zuviel Überblickliches sagen müssen. Wie stets ist das sogenannte Bildungsgut (so vordringlich ist es gar nicht) nicht nur Selbstzweck und Verweisungsstruktur, sondern hält für den geneigten (d.h. zuweilen nachschlagenden) Leser auch Bildungswert bereit. Wie stets wird man sich davor hüten wollen, das Konzept in seinem Aufriss und seiner Erledigung zu klar haben zu wollen, weil es sich ja doch um Lyrik handelt, und Gruben auch unter einer dünnen Laubschicht liegen können. Aber der Fels im Meer versperrt zu oft die Passage, arretiert gerade das Spiel, gar das Umspielen.
Grünbeins Zug zum Sentenziösen fällt sicherlich in den Bereich der Geschmacksfragen, und es darf nicht unterschlagen werden, dass da auch gute Sentenzen dabei sind, wenn auch nicht neu, wie nichts unter der Sonne. Sentenzen können freilich zu Fußangeln werden, können Querschläger und friendly fire auf die impliziten Theoriezüge eines Gedichtes lenken (Phokylides). Etwas anderes aber ist es mit der häufigen Monumentalisierung – mit hohem Stilregister, mit schmückenden Beiwörtern, in elaborierten Wort- und Metaphernverbindungen, mit exponierten Pointenpositionen im Gedicht, mit lauter schönen und vermittelten Techniken werden Dinge beschrieben, die zutiefst gewöhnlich sind. Monumentalisierung dessen, was ohnehin geschieht. Ich möchte mit dieser Kritik gewiss nicht das Themenspektrum dessen eingrenzen, was Lyrik behandeln soll, denn das soll nach wie vor alles sein. Aber so manches Gedicht findet im Cyrano an einer überdimensionierten Formulierung für einen hinlänglich unspektakulären Umstand seinen jeweiligen Gallenröhrling. Das poetische Rätsel im Mond wird dann überbelichtet. Nichts Neues unter der Sonne, aber eben auch der große Fluss in der sublunarischen Welt. Hiergegen scheinen sich Details und Passagen des Bandes zu sperren, obwohl er doch gerade den Mond zur Zentralmetapher erhoben hat. Cosa ferma non è sotto la luna: nichts Festes unter dem Mond; ob Konstatierung oder Hoffnung.
Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr zum Mond. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2014. 151 Seiten. 20,00 Euro.