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Dieter M. Gräf: „Schön eigentlich, dass wir nicht nur in die gleiche Richtung blicken, sondern auch ähnlich bekleidet sind“

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Foto: Yota Kataoka / Goethe-Institut Tokio
„Schön eigentlich, dass wir nicht nur in die gleiche Richtung blicken, sondern auch ähnlich bekleidet sind“ – Anmerkungen zum Literaturbetrieb

Von Dieter M. Gräf


Der Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis veröffentlicht alljährlich eine Foto-Reihung der angekündigten Teilnehmer, die eingeladen wurden, es waren 14. Sieben von ihnen sind Frauen, sieben Männer. Wenn ich dem Augenschein trauen darf. Die Lieblingsthemen der Neo-Progressiven sind dort und bei allen vergleichbaren kulturellen Institutionen gewiss in sensiblen Händen, obgleich noch keine Teilnehmerin ein Kopftuch trägt und alle 14 weiß sind. Etwas anderes könnte ins Auge springen. Macht es aber nicht, weil es nicht in die Diskursmuster passt: alle sehen hier aus, als wären sie im gleichen Jahr geboren, als wären sie in der gleichen Clique, als kämen sie aus dem gleichen Konzert ihrer Lieblingsband. „Schön eigentlich, dass wir auf den Klagenfurt-Fotos nicht nur in die gleiche Richtung blicken, sondern auch ähnlich bekleidet sind“, postete einer der Auserwählten auf Facebook. Er bezog das allerdings auf sich und eine Verlagskollegin, aber das ließe sich erweitern. An guter Laune schien es im Vorfeld nicht zu mangeln, man freut sich auf das Wiedersehen, nun am illustren See. Mit gleichgesinnten „Schwarzen Menschen“ oder PoCs wäre alles noch besser, aber so ist es auch schön.

Was keiner, keine zu vermissen scheint: Menschen aus anderen Altersgruppen und anderen Lebensbereichen – eine Fünfzigjährige, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet hat, oder ein Mann mit Krawatte aus dem katholischen Bayern, dem österreichischen Nicht-Wien. Klagenfurt war immer ein Ort der Jüngeren, Ambitionierten, Nicht-Arrivierten und keiner derer, die das Risiko zu scheuen haben, gegen einen No Name unterzugehen und ihren Marktwert zu beschädigen. Aber gab es früher nicht immer wieder welche, die anders ausschauten, Spätberufene, oder solche, die dieses Risiko eingingen, Randständige der Branche mit all ihren Erfahrungen? Außerdem hat sich der Berufsstand verändert, ist prekärer geworden, weniger statusbezogen, so dass es naheliegend wäre, dass Ältere leicht zu gewinnen wären. Will man sie denn haben? Nö. Sonst hätte man sie ja.

Frankfurt, Lyrik-Tage 2023. 48 wurden eingeladen. Auch solche, die selbst keine Gedichte schreiben, sondern als Kritiker, Lektor, Professorin unterwegs sind, also Karrieren Nachrückender unterstützen können. Lässt man die mal beiseite, bleiben nur zwei Dichter übrig, die immerhin in den sechziger Jahren geboren wurden: Michael Lentz, Jahrgang 1964, und Monika Rinck, Jahrgang 1969. Beide haben übrigens auch Professuren inne. Verliert man denn ohne diese potentielle Nützlichkeit um die 50 bereits seinen Verstand, seine künstlerische Kraft und ist mit 60 dann nicht mehr zumutbar? Will das die Natur so? Ach nein, auch das ist menschengemacht. Wer in einer Fabrik malocht oder in einem Büro zu arbeiten hat, würde sich allgemeiner Heiterkeit aussetzen, käme er bei guter Gesundheit zur Ansicht, dass er nun auf die 60 zugehe und seine Zeit eigentlich gehabt habe und es zuhause auch fein sei. Wer kann sich einen so frühen Ruhestand schon leisten und was macht man danach mit seinem bloody life, wenn ich es mal mit Lady Di sagen darf? Und wie erginge es einer Gesellschaft, die auf all das verzichtet, was man in diesem Lebensabschnitt einbringen kann?

In der Politik ist man in seinen Sechzigern allemal ministeriabel. Boris Pistorius, Jahrgang 1960, wurde unlängst erstmals Bundesminister, niemand findet etwas dabei – ein Mann mit Erfahrung, bringt nun Frische ins Amt. Bundeskanzler Scholz ist Jahrgang 1958. Nicht alle schätzen seine Amtsführung, aber bislang kam noch keiner auf die Idee, es könnte am Alter liegen. Von Achtzigjährigen in hohen Ämtern der Weltpolitik will ich nicht anfangen. Aging out nennt man das, wenn es den Neo-Progressiven ins Programm passt – geht es beispielsweise darum, dass in Hollywood Frauen, kommen sie in die Jahre, seltener Rollen erhalten als Männer. Das, was die Woken, die Jüngeren beklagen – oft ist es augenöffnend und weiterführend für die Gesellschaft, zumindest in abgeschwächter Dosierung –, praktizieren sie indes selbst. Im Verschatteten allerdings, ohne es sich und anderen einzugestehen.

Es gibt also einen ausgeleuchteten Bereich, in dem Diversität vehement eingefordert wird, freilich eine spezifizierte, und einen verschatteten, in dem es obsolet ist, sie thematisieren zu wollen. Im ausgeleuchteten Bereich zeigen Jüngere ihre moralische Überlegenheit. Was vor ihrer Zeit stattfand, war tendenziell patriarchal, misogyn, rassistisch, homophob. Das ist nicht frei erfunden, aber alles, was hierzu passen könnte, wird betont und alles, was das differenzieren könnte, heruntergedimmt oder weggelassen. So wird vorgegeben, dass es nicht nur für das eigene Wohlbefinden eine feine Sache wäre, immer mehr Terrain zu besetzen, sondern für alle, die keine Rammsteins sind. Generationskämpfe gehören weiterhin zu den tabuisierten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, obgleich sie seit je her gravierende Umwälzungen mit erklären. Starke Generationen, deren Vertreter beispielsweise im Krieg oder im Widerstand waren, mit Steckschuss aus der Schlacht gezogen wurden, im Warschauer Ghetto ausharrten, ein Land aus Trümmern wieder aufgebaut und kulturell repräsentiert haben, die an legendären Aktivitäten teilnahmen und sich gegenseitig feiern-feiern-feiern, machen es nachrückenden schwer, einen neuen Ton zu setzen. Weniger heroische hingegen sacken rasch ein. So wie Frauen aufpassen müssen, von Männern nicht untergebuttert zu werden und vice versa, so wie Kinder und Eltern um Grenzen beidseitig kämpfen müssen, haben auch die Generationen einer Gesellschaft Trouble miteinander. Sie sollten sich das offen eingestehen. Da Jüngere so viel Ethos hochfahren, sollten sie auch dazu zu bringen sein, ihre eigenen Machtausübungen und Übergriffigkeiten zu reflektieren und zu diskutieren.

Klagenfurt, Frankfurt – das sind x-beliebige Beispiele. Machen Sie die Probe aufs Exempel. Nehmen Sie einfach die nächsten Bilder, die eintrudeln, von irgendwelchen Literaturtagen oder Poesiefestivals und schauen sich die Gesichter an. Geben die Gebuchten in ihrer Altersstruktur so in etwa die Gesellschaft wieder? Wirken sie, als lägen ihre Lebenswege weit auseinander? Würde mich wundern. Ich esse ja auch gerne Udon-Nudeln beim Vietnamesen und schätze Robert Habeck, aber das müssen doch nicht alle und wenn, würde ich es nicht unter Diversität anpreisen.

Der Literaturbetrieb verlagert sich zusehends, ganz besonders im Lyrik-Bereich. Das Zentrum bröckelt mehr und mehr. Die Literaturkritik verliert an Bedeutung. Jüngere Dichter wissen aus eigener Erfahrung kaum mehr, was das einmal war: ein Abwägen von Stärken und Schwächen eines Ansatzes, ein sich Positionieren, was Literatur gerade nun zu leisten hat, ein heftiger, konstruktiver Disput mit anderen in der Gesellschaft derer, die am kulturellen Leben teilnehmen. Diese Guckkastenbühne ist ein Auslaufmodell geworden und die Literaturkritik ist kaum mehr eine unabhängig prägende Instanz. Literaturkritiker mutieren zu Moderatoren, die ja auch gebraucht werden, aber eine ganz andere Aufgabe haben, nah an den Autorenbedürfnissen und denen der Veranstalter. Von ihnen wird via Kritik nur noch Publicity erwartet und nicht Problematisierung, Erörterung. Publicity sollte eigentlich aber höchstens Beiprodukt einer Kritik sein, sofern sie ein Buch feiern kann. Die Homestory ersetzt bei denen, die sich hierfür eignen, die literaturkritische Auseinandersetzung; die starken Texte, sofern vorhanden, lösen sie noch aus, aber ihr schillerndes Eigenleben drückt die Texte in die Nische.

Rückt eine Kritikerin, ein Kritiker weg vom Abstand einer Redaktionsstube und wird zum Partner, Stichwortgeber, entsteht auch eine Verknuddelung, die der Kritik nicht bekommen kann: wer als Moderatorin gebucht werden will, braucht Autoren, die sich wohl fühlen in der Konstellation, und wird sie ungern vergrätzen durch allzu abwägende Rezensionen. Wer eine farbenfrohe Homestory will, mit gruseligem Stiefvater oder mit anatolischer Kopftuch-Mama, frohlockt, wird das aufgetragen, und wer sich ständig über den Weg läuft bei all den Festivals und Literaturtagen, die besonders in der wärmeren Jahreszeit grassieren und beieinander sitzt in lauwarmen Sommernächten, wird lauer und lauer in der Abgrenzung. Die Leserschaft, der man eigentlich als kritische Instanz verpflichtet sein sollte, verschwimmt nach jedem Bier auf Tuchfühlung. Aber vielleicht wollen die nunmehr eh lieber unterhalten werden mit dem Drumherum.

Die Festivals und die Literaturhäuser haben in den letzten Dekaden an Bedeutung gewonnen, die Redaktionsstuben verwaisen, denn der Literaturbetrieb ist etwas Wohlduftendes, Süffiges, Schnelllebiges geworden. Ein Wohlfühlort. Die Autoren, wenn es nicht gerade die Welt-Stars der Romanbranche sind, gehen hier nicht zur Arbeit, sondern treffen sich mit Buddys mancherlei Geschlechts und bereiten sich eine coole Zeit. Das mag auch erklären, warum man so gerne unter Gleichaltrigen, Gleichgesinnten auf einer Wellenlänge verbleiben möchte. Hier verbringt man eine besondere Form der Freizeit, ein Arbeitsethos ist nicht naheliegend und Unannehmlichkeiten sind nicht gern gesehen. Zuhörende begegnen in der Zeit der Globalisierung und der Verfügbarkeit aller einer zumeist hochwertigen Saisonware und können sich die Namen nicht allzu lange mehr merken. Und auch die Veranstaltenden möchten sich super fühlen und schauen, mit wem sie Spaß haben könnten. Was gerade gut kommt, ist recht.

Das erfordert einen anderen Autoren- aber auch einen veränderten Vermittlertypus. Wer denkt noch lange darüber nach bei Sonnenschein, welche Bücher über Jahrzehnte Bestand haben könnten? Es gibt sie weiterhin, aber die Fragestellung schläft ihren Rausch aus. Diese Fragestellung, die man leicht verhöhnen kann, hat Autorinnen und Autoren aber auch geschützt, die mit hohem Anspruch unterwegs waren. Sie konnten, waren sie mal im Gespräch, auf Treue hoffen. Ein neues Buch, das nicht günstig aufgenommen wird, vergleicht man immerhin kenntnisreich mit den vorigen. Wer daran Anteil nehmen möchte, und sei es vor der Glotze, müsste die Bücher in ihrem Kontext auch kennen, und selbst wenn das neue unter die Räder kommt, ist man auf das nächste gespannt. Selbst Verrisse waren mitunter Beweise enttäuschter Liebe. Den Entscheidungsträgern fehlt es nicht an Verstand und nicht an Bildung, aber im Lauf der Jahre haben sie wohl gelernt, eher aus dem Bauch oder mit dem Näschen zu entscheiden und Grübeln zu vermeiden. Es sind Team-Player, die auf die neue Praktikantin hören. Sie wollen niemanden von irgend etwas überzeugen, das war einmal.

Da in der nicht auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Literatur die Vermittlerinstanzen bröckeln, haben insbesondere die Dichterinnen und Dichter ihr Los und auch ihre relative Vermarktung in die eigenen Hände zu nehmen. Selbst wer bei großen Verlagen publizieren kann, wird dort nicht damit rechnen können, dass sie darüber hinaus allzu viel tun. Deren Apparat wird nicht dafür bezahlt, dass Bücher, die sich eh nicht rechnen, ein klein wenig besser laufen. Ob sich ein Band 200 mal verkauft oder 2000 mal ist vom Umsatz her nicht relevant für ein Unternehmen, das Angestellte zu bezahlen hat und Büroräume. Der Imagegewinn ist für Dichter noch vorhanden, aber auch nicht mehr in dem Maße wie früher, als insbesondere Suhrkamp glanzvoller Branchenführer war und Kompetenz in jeden Winkel ausstrahlte. Wer nicht in einem Publikumsverlag zumindest ein klein wenig geschützt ist, sondern in kleinen Verlagen publiziert, die aus der Szene kommen, muss sich besonders strecken. Und gerade aus der Publikationsform kamen wichtige Stimmen auf: Ulf Stolterfoht, Yoko Tawada, Uljana Wolf, Monika Rinck, Steffen Popp, Daniel Falb, Martina Hefter, bis hin zu Dinçer Güçyeter, der sogar im eigenen Verlag verbleibend seinen Lyrikband so beherzt vermarkten konnte, dass er zum Ereignis wurde. Damit ist freilich eine Befähigung verbunden, die man mit Dichterlingen gemeinhin überhaupt nicht verbindet.

Man stelle sich gute Musiker vor, die nicht mehr von einer Agentur vertreten werden, sondern letztlich alles selbst machen müssen. Das ist nicht sexy. Dichtung ist verstärkt zum Community-Phänomen geworden ist. Die mag gewachsen sein und gut informiert, aber auch inzestuös und einander beschleichend, brodelt man doch zumeist im eigenen Saft. Wer damit umzugehen hat, sollte sich auch dafür eignen und so sein oder wirken, dass möglichst wenige Anstoß nehmen, denn die Konkurrenten sind auch potentielle Juroren, Moderatoren und Käufer. Das ist etwas ganz anderes als an seinem Schreibtisch zu arbeiten und mit seinem Verleger und Lektor zu korrespondieren oder mit der Verlagsdame zu telefonieren, die Lesereisen organisieren und Presseverteter gewinnen soll. Sperrige Einzelgänger mit Henkelohren sind Auslaufmodelle, wer gebucht werden will, sorge allseits für gute Laune. Einzellesungen gibt es weiterhin, aber für Dichter sind Festivalteilnahmen die Regel geworden. Dort stehen sie nicht für sich. Aus Einzelnen werden Gruppenmenschen, oder Vereinzelte. Und die salopp gewordene nette Obrigkeit erwartet mehr und mehr, dass diese Szene die Gelder unter sich verteilt. In Jurys will man keine Koryphäen mehr. Die Hierarchien wirken flach, die Autoritäten schwinden, man muss schauen, wie man sein Bötchen im Wind hält, ohne anzuecken, und dennoch kein weichgespültes Zeugs fabriziert, das die Leute langweilt. Mit exponierten Gesten schreckt man die stets an eigene Interessen denkende Community auf, gliedert man sich hingegen allzu leicht ein, nährt man sein Mittelmaß und nicht seinen Genius.

Autoren unserer Tage haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, aus der Bahn zu fliegen, vergessen zu werden. Mittlerweile haben wir wieder volle Kanne Geschichte, aber wie sieht es mit einer Literaturgeschichte aus, die nicht in die Vergangenheit gerichtet ist? Wir orientieren uns nicht mehr an einem demokratisch-kanonischen Disput, um an ihrer Bildung teilzuhaben, sondern nehmen mit, was zu kriegen ist, sind Konsumenten geworden, oder spielen Aktivist*in und ereifern uns entsprechend, oder wehren just dies weiß-weise ab. Wozu das alles? Wozu Künste in dieser Zeit? Wozu Poesie? Nobody knows. Wir sind entwurzelt und ohne große Hoffnung auf ein gutes Ende, mittendrin oder am Rande, ob es gerade super läuft oder mies.

Was könnte das sein, ein gutes Ende? Dass man in späteren Lebensabschnitten das Gefühl haben kann, dass das, was man entwickelt hat, oder das, wozu man ein klein wenig beitragen konnte, weitergegeben werden könnte. Kein Ende also: dass Werkteile Bestand haben könnten, und sei es im Kleinen und in Umformungen durch andere. Eine einigermaßen heile Gesellschaft braucht ein gut ausbalanciertes Verhältnis der Generationen. In seiner Sturm-und-Drang-Phase baut man ein Werk auf, im mittleren Lebensabschnitt baut man es aus, sichert es hinterfragend und korrigierend ab und im Alter rundet man es und gibt seine Erfahrungen und Erinnerungen weiter. Das dürfte auch in nicht-künstlerischen Bereichen ähnlich gelten.

Wenn diese natürliche Ordnung der Generationen zur Farce wird und wir zu Wegwerfmenschen, sind wir entblößt in einer Gegenwart, die Wurzeln kappt und sich entfaltende Zeit-Räume kaum mehr zulässt. Wem es um ein Werk geht, wird wissen, was die Stunde schlägt. Wir werden umlullt von einer ziemlich gut dotierten Förderkultur, die den meisten Sushis bereitet, so dass Verzweiflung oder Wut selten durchkommen. Der Komfort, ist man erst einmal in der Kulturellen Kaste aufgenommen, überwiegt. Wir geben frühere Rollenmodelle auf. Bei uns spielt immer seltener die Musik, sondern bei den Falschen Freunden, die supernett sein können. Sie arbeiten in den Institutionen, die den Kunstschaffenden zutragen sollten. Behaupte ich. Aber so sehen sie sich verständlicherweise immer weniger, denn es sind ihre Ideen, die sie den Künstlern antragen, und die steigen darauf ein, als Dienstleister mit Sonderstatus. Die Kuratierenden rücken mehr und mehr ins Zentrum, ohne große Gestik, die Kritiker werden Teil von ihnen und viele von uns auch. Die Frage ist nicht so nebensächlich oder eitel wie sie klingen mag, denn es geht letztlich darum, ob Künstler aus sich heraus etwas gestalten und andere, die dafür kontinuierlich bezahlt werden, das unterstützen, bewerten, vermitteln, oder ob von den Institutionen gesetzt wird, was dann noch zu gestalten wäre. Freilich kann auch Auftragskunst eigenwillig und kraftvoll sein und niemand bricht sich einen Zacken aus der entfallenen Krone, der auf das Bedürfnis eines Literaturhauses, eines Goethe-Instituts, eines Kunstvereins eingeht. Aber auch hier wäre es gut, das wach und offen zu erörtern.

Dichter, Prosaautorinnen, Künstler jeglicher Couleur waren in der späten Nachkriegszeit, die nicht bei allen mehr gut angesehen ist, da fast alle weiß waren und zu viele männlich, kritische, eigenwillige Leute. Es gehörte dazu, auch dem eigenen Verleger ein Gesicht zu schneiden, den Verbündeten im Betrieb, gelegentlich zu poltern und sich auch mal im Ton zu vergreifen. Unsere Vorgänger waren Sand, nicht Öl im Getriebe der Macht. So provokant wäre es dann auch wieder nicht, zu behaupten, dass insbesondere die siebziger, achtziger Jahre in mancherlei Hinsicht diverser waren als die Gegenwart. Es gab wichtige bürgerliche Literaten genauso wie gemäßigte Linke und Sympathisanten der DDR, gar nicht so wenige, bis hin zu militanten Linksradikalen. Aber auch Albert Speer war auf der Buchmesse zu sehen, Feministinnen, Pornografen. Martin Walser, Franz Xaver Kroetz, Franz Josef Degenhardt und viele mehr waren zeitweise in der DKP, der Zeitungen und Zeitschriften nahestanden, die eifrig gelesen wurden; Walter Kempowski hingegen kannte die Gefängnisse der DDR von innen. Bei S. Fischer gab es eine Reihe, die dem Arbeitskreis Literatur der Arbeitswelt vorbehalten war und eine, die sich insbesondere um kritische Stimmen der DDR-Literatur kümmerte, darunter Wolfgang Hilbig. Der Büchner-Preisträger Hubert Fichte lotete Queerness aus und publizierte beispielsweise, bei Suhrkamp, Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte. Hier lässt er einen Homosexuellen zu Wort kommen, der wegen Raubmord verurteilt war. Queerness war damals auch auf der Ebene nicht identisch mit Kuschelsex. Auch Sadisten konnten in der blühenden Subkultur literarisch zu Wort kommen. In diesen Jahren gab es im Westen eine heftige Suchbewegung voll mit schrillen Tönen, an der Menschen teilnahmen, die extrem unterschiedliche Lebenserfahrungen hatten und einander überhaupt nicht ähnelten. Der Begriff der Gesinnungskorridore ist nun aus dem rechten Milieu aufgekommen, aber konnte sich nur festsetzen, weil er nun mal erwägenswert ist.

Nun sieht es so aus, als wäre Affirmation die Grundwährung. Alle sind ja auch so nett und progressiv, warum da Distanz halten, warum widersprechen und sich dem Gleichklang verweigern, es sei denn, man ist im Herzen ein Rechter, ein Schwurbler? Ist es nicht schön, das zu sagen, was alle sagen in dieser Blase, zu denken wie die anderen auch, in die gleiche Richtung zu schauen und ähnlich bekleidet zu sein? Nein, das ist es nicht. Schön ist, wenn jede, jeder seine eigene Stimme entwickelt und die meisten damit leben können, wie es dann krächzt und frohlocket.


Dieter M. Gräf wurde 1960 In Ludwigshafen am Rhein geboren, er lebt nun in Berlin. Er veröffentlichte u. a. die Gedichtbände Rauschstudie: Vater+Sohn, Treibender Kopf und Westrand bei Suhrkamp und die Anthologie Das leuchtende Buch. Die Welt als Wunder im Gedicht bei Insel. 2008 erschien Buch Vier. Gedichte in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2018 Falsches Rot. Gedichte und Fotos in der Brueterich Press; zuletzt: Im Coronamärz ging ich zur Bäckerei, zum Supermarkt, ums Karree & fotografierte dies, im April dito, Moloko Print.
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