Carl-Christan Elze: Freudenberg, Teil 2
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Carl-Christian
Elzes
F
R E U D E N B E R G
Eine
mögliche Lesart
von Ivor Joseph Dvorecky
Teil - 2
Falls Freudenbergs
Wahnvorstellungen die unabänderliche Folge seiner Veranlagung sind, dann ist
Freudenberg nur ein Opfer der Umstände: Das Schicksal ließ ihn in eine
Situation geraten, der er nicht gewachsen war; um dem Druck des Elternhauses zu
entkommen, tauschte er seine Sachen mit denen eines verunfallten Toten aus und
floh in den Wald; seine Sprachbehinderung, die depressive Persönlichkeit und
ein in leidvoller Kindheit entstandenes Gefühl der Ohnmacht machten es ihm
unmöglich, sich in der Freiheit zu behaupten. In dieser Deutung hatte
Freudenberg niemals eine Chance. Freudenbergs Halsmuskulatur verliert ihre
Spannung, was ihr den Anschein eines Nickens gibt, er plädiert für ein
"technisches Versagen": Sein Kopf war ein Arschloch, angetrieben
von einem Arschloch von Nervensystem (...)
Hatte es sich denn je wirklich um ihn gekümmert, sein beschissenes
Nervensystem? Dann wäre Freudenberg lediglich ein klinischer Fall und die
Frage der Schuld eine Randerscheinung im Roman.
Die einfache Erklärung
mündet in der Feststellung, Freudenberg sei von der Freiheit überfordert
gewesen. Doch welche Überforderung? Der
erste Teil des Romans zeichnet das Bild eines Freudenbergs, der unter dem Druck
aus Konvention und Sprache leidet; kaum fallen diese weg, will Freudenberg sich
die Welt einverleiben und geht im Spiel mit der Natur auf, selbst der Schock
über das Leiden der Fische ist vergessen. Ausgerechnet diese paradiesischen
Bedingun-gen herrschen im Wald. Keine Gesellschaft, keine Sprache, stattdessen
erotische Abenteuer mit einem rothaarigen Mädchen, kostenlos Blaubeeren und
Zigaretten, und ein Leben im Zelt am Ufer eines Sees in Waldesstille. Der Traum
eines pubertierenden Jugendlichen vom Campingurlaub.
Es gab keine außergewöhnlichen
Belastungen, Freudenberg hat nie versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen.
(Wer würde einen Roman schreiben über einen Beinahe-Autisten, der in einem
fremden Land, in einer fremden Sprache und mit einem Personalausweis, der ihm nicht
ähnlich ist, versucht eine neue Identität aufzubauen und – scheitert?) Dass
Freudenbergs Veranlagung mitverantwortlich ist für seine Entscheidung am Strand
und für den weiteren Verlauf seines Lebens, ist gewiss. Die Frage aber ist, warum
bleibt Freudenberg im Wald nicht einfach in dem Zustand wie beim Spiel mit den
Wellen am Strand, oder schlimmstenfalls wie zu Hause, welche Macht verursacht
seine rapide Zerrüttung innerhalb weniger Wochen?
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Ist die Ursache für
Freudenbergs existentielle Not also ein Gewissenskonflikt? Und warum sprechen
wir von einem Konflikt und nicht einer Schuld? Ein Gewissenskonflikt ist ein
Entscheidungskonflikt vor der Wahl zwischen Möglichkeiten; die eine ist mit dem
Gewissen vereinbar, für die zweite sprechen anderen Gründe. Ist die
Entscheidung getroffen, ist der Konflikt beendet, der Betreffende ist entweder
reinen Gewissens oder trägt eine Schuld. Ein Gewissenskonflikt kann aber auch
nach der Tat fortbestehen, wenn eine falsche Entscheidung getroffen wurde und
die Wahrheit nicht zugelassen wird. Der Betreffende lebt in einer Spaltung, das
ist die Art des Gewissenskonflikts, nach dem wir suchen. Der Leser blättert
zurück -
Freudenberg handelte
nicht unüberlegt. Er betrachtete Marek lange. Er hatte die Wahl, um in Freiheit
zu gelangen: Sich auf das Risiko einzulassen, es aus eigener Kraft zu
bestreiten, oder einen andern für sich zu benutzen. Freudenberg beschloss, sich
hinter der Leiche zu verstecken. Er wollte tot sein für seine Eltern, weil sie
für ihn tot waren. In unserer Lesart sind wir am Schnittpunkt der beiden
Hauptstränge des Romans. Mit derselben Tat, mit der Freudenberg entschied, in
seiner Schwäche zu verbleiben, entstanden auch seine Verschuldungen. Das
Gewissen trat aus dem Hintergrund in Freudenbergs Leben ein. Und Freudenberg,
der ein feines Gespür für Bedrohungen hat, fühlt sich sofort beobachtet. Doch
er unterdrückt ein Bewusstsein der Schuld gegenüber Marek, vielmehr wehrt er es
ab: Freudenberg erklärte Marek zu seinem Bruder; und dann zu seinem Opfer,
Marek sollte als Betender für beide Buße tun.
"Ein Anderer
werden" ist, um es kurz zu sagen, man selbst werden, derjenige zu werden,
der in einem angelegt ist, oder um in alten Bildern zu sprechen, wie ein
Samenkorn zum Baum, wie aus einer Raupe der Schmetterling. Freudenberg hatte
über Marek auch noch später nachgedacht, von der Hangkante hinunter und vor dem
Anziehen seiner Schuhe, und dabei hatte er Mareks Stärke gespürt. Dann fuhr
Freudenberg damit fort, sein Projekt (das gemeinsame Projekt) zu verraten. Er
nahm Mareks Sachen, besonders die magischen Schuhe, in einem Bewusstsein an
sich, wie man in alten Kulturen Gegenstände in Besitz genommen hat, um die
Kräfte des Eigentümers auf sich übergehen zu lassen. Und die ganze Zeit fühlte
er sich nicht alleine: Früher hatte er den Buchenstämmen diese Augen nicht
angesehen, aber jetzt fühlte er sich von genau diesen Rindenaugen beobachtet.
Freudenberg hatte
erwartet, dass er in der Freiheit auf ähnliche Weise zu sich kommen würde, wie
im Spiel mit den Wellen am Strand, und dass seine Kräfte sich von selbst
entfalten würden. Er war vor der Welt der Konvention geflohen, deren
Gemeinschaft einen gekonnten Umgang mit Sprache als Mittel der Selbsttäuschung
und Lüge pflegt. Und nun macht er selbst das Gleiche, ähnlich seinem Vater,
indem er das Bewusstsein der Schuld verdrängt. Er lebt in einer Spaltung, die
seine Kräfte schwächt und ihn von Mareks Sachen, dessen Haut, immer
abhängiger macht. Im selben Maße erwächst aus Mareks Forderung nach der
Rückgabe der Sachen, die Mareks Identität sind, für Freudenberg ein Albtraum.
Die alten Frauen sind
verschwunden und auch Maja und die Körbe blauer Beeren. Freudenberg sitzt
allein im Zelt, hungrig, in einem Wald, der zu einer veränderlichen Bühne
geworden ist. Er ist nicht mehr sicher in seinem Kopf. Albträume und
Realität vermischen sich. Freudenberg verwechselt die Richtungen, fürchtet,
Menschen zu verwechseln. Und dieser Wald ist unabsehbar. Er erstreckt sich von
der polnischen Seeküste bis zum Friedhof in Freudenbergs Heimatstädtchen. Es
gibt darin Gräber, die ihre Besitzer suchen, mit Eichhörnchen, die sie bewachen
und einen Obolus verlangen, und das unüberwindbare, metallisch weiße
Birkengespinst. Freudenberg sitzt in der Falle, seine Zeit läuft ab.
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Es hat alles seine
Richtigkeit, aber der Leser fühlt ein Unwohlsein. Die Größe dieser Zer-störungen
passt nicht zur Größe der Schuld. Auch wenn niemand genau weiß, was am Strand
wirklich passiert ist (auch nicht der Autor), so hat Freudenberg wohl niemanden
umgebracht oder eine Hilfeleistung unterlassen (Ein Telefon hatte er nicht,
zum Glück). Doch gibt es weitere Schulden im Roman, die viel schwerer
wiegen, auch wenn Freudenberg sie nicht kennt: Die Schuld gegenüber seinen
Eltern; und die noch größere Schuld gegenüber Mareks Eltern, deren Sohn
verschwunden bleibt. Darüber hinaus ist der Schuldkomplex im Roman unabsehbar.
Im gewissen Sinne ist fast alles in Schuld involviert (selbst der Beton und die
Möwen), nur wenige Elemente befinden sich außerhalb dieses Sichtkreises, in
einer Welt bevor Gut und Böse, wie die aus der Ferne winkenden alten Frauen und
das ewig rauschende Meer (der Himmel nicht). Der gesamte Roman spricht von
Schuld. Aber wer kennt all diese Schulden und kann Freudenberg zur Rechenschaft
ziehen? Wer spricht davon und fällt das Urteil?
Wer spricht? Wer ist
der Erzähler? Es gibt keinen eigentlichen Erzähler, nur diese eine lyrisch transmoralische
Stimme. Sie steht Freudenberg ganz nah, kennt seine kleinste Regung. Ihr Gesang
liegt zwischen Freudenbergs Empfindungen und den Worten, aus denen der Leser
einen Erzähler heraushört. Diese Stimme spricht von Innen und aus der Distanz.
Sie spricht gleichmütig, als würde sie einen Lebensfilm begleiten. Und doch
hört man einen Ton des Bedauerns mit. Von der ersten bis zur letzten Zeile
unterliegt dieser Ton dem Roman. Vielleicht ist es die Stimme von Freudenbergs
metallenem Schutzengel; die Stimme eines Gewissens.
Offensichtlich gibt es
im Roman ein Gewissen, welches die Subjektivität überschreitet und
Verschuldungen sieht, die Freudenberg nicht wahrnimmt, und das gilt auch für
die anderen Beteiligten (wenn das nicht möglich wäre, würde der Leser sie auch
nicht sehen). Der Leser ist versucht Thomas von Aquin zu fragen, ob dieses
Gewissen eine Instanz (potentia), ein Bewusstseinszustand (habitus) oder ein
Geschehen (actus) ist. Aber Immanuel Kant hat, von derselben Küste aus an der
Freudenbergs Bunker steht, entschieden, es sei eine richterliche Instanz. In
seiner Faktizität ist dieses Gewissen so wirklich, wie es der Mensch ist. Die
Präsenz dieses Gewissens und seine existentielle Ausstrahlung lassen seine
christlich-protestantischen Züge hervortreten. Der Leser begreift: Das Gewissen
ist nicht nur die zerstörerische Macht, sondern auch der einzige Ausweg. Und er
begreift auch, dass Freudenberg weder durch einen Akt heidnischer noch
medizinischer Magie diesen Ausweg finden kann, sondern nur durch einen
Sprachakt, dem Eingeständnis seiner Schuld.
Wie Marek, der weder
ganz tot noch lebendig ist, steckt auch Freudenberg in einem Zwischenreich. Er
kann sich darin nicht mehr lange halten, denn Marek hat ihm eine ungeheuere
Drohung zugeflüstert (es ist das alte magische Narrativ von einer Person, die
die Schuhe einer anderen anzieht und von da an deren Schicksal erleidet).
Dieses Zwischenreich grenzt auf der einen Seite an die Welt der
Metallverarbeitung und auf der anderen an die Welt der Freiheit. In der Welt
der Konvention kann Freudenberg aufgrund seiner Sprachbehinderung nicht
überleben, obwohl er ihr seinem Charakter nach angehört. – An dieser Stelle sei
die beiläufige Anmerkung erlaubt, dass Freudenberg als Metapher für den
modernen Menschen gelesen werden kann, der in seiner Geschwätzigkeit sprachlos
ist gegenüber dem Existentiellen des menschlichen Wesens. – Um in die andere zu
gelangen, muss Freudenberg sich zu seiner Schuld bekennen und damit zugleich
Marek seine Identität zurückgeben. Das aber bedeutet für ihn, Leid auf sich zu
nehmen, um im protestantischen Sinne Leid anderer zu lindern. Freudenberg kennt
das Leid. Doch nun müsste er es aus eigener Entscheidung auf sich nehmen. Dann wäre
er bereits ein anderer geworden. Und sein Schutzengel meint es gut mit ihm,
Freudenberg wird einem Menschen begegnen, der Mutter von Marek, die stark genug
ist, Schuld und Leid anderer auf sich zu nehmen, und sie berührt ihn mit der Hand.
Freudenberg braucht nur
wenige Worte zu sagen, um alles noch zum Guten zu wenden und sein Anderswerden
auf den Weg zu bringen. - Das hat die Schlange diesmal sogar für alle
Mitglieder der Familie Freudenberg vorgesehen: Jeder von ihnen braucht nur die
richtigen Worte zu sagen, um sich aus der Erstarrung zu lösen.
Denn alle vier
Protagonisten des Ein-Anderer-Werdens treffen an einem Ort zusammen, bei Freudenbergs
Eltern, und jeder von ihnen bekommt die Möglichkeit, noch ein anderer zu
werden. Freudenberg, um sich aus Isolation und Ohnmacht zu befreien und in
Offenheit zum Anderen zu gelangen; sein Vater, um das Konstrukt aus Konvention
und Lüge abzustreifen und Ungewissheit als Chance zu erfahren; Freudenbergs
Mutter, um aus Resignation und Passivität ins Leben zurückzukehren. Und auch Marek
kann noch ein anderer werden - der Tote mit einem Grab.