Bertram Reinecke: Bias und Unsicherheit - Einige Beobachtungen über die jüngere Sibylla Schwarz Rezeption
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay
Bertram Reinecke
Bias und Unsicherheit - Einige Beobachtungen über die jüngere Sibylla Schwarz Rezeption (1)
Der Elefant im Raum
In der Rezeption der Dichterin lässt sich natürlich kaum ignorieren, dass die Dichterin bereits 17-jährig verstarb. Um sich die Ausgefeiltheit der Texte überhaupt erklären zu können, begibt man sich auf die Suche nach Quellen, Einflüssen und Vorbildern ihrer Kunst.
Gegen solche Recherche der ExpertInnen ist natürlich ebenso wenig einzuwenden, wie etwa gegen die Tatsache, dass die Polizei ihre Expertise nutzt, um Verbrechen aufzuklären. Es ist ihre Aufgabe. BeobachterInnen der Polizei weisen allerdings darauf hin, dass sich dadurch eine Abwärtsspirale ergeben kann: Je mehr Verbrechen z.B. in einem Viertel oder unter einer Personengruppe festgestellt werden, desto mehr erhöht die Polizei den Verfolgungsdruck, die Aufklärungsquote steigt, die Polizei sieht mehr Delikte und ist gerechtfertigt, noch schärfere Maßnahmen zu ergreifen. Wohlgemerkt: Dies ist natürlich selbst dann kritikwürdig, wenn die Polizei mit ihrer ursprünglichen Beobachtung erhöhter Kriminalität recht gehabt haben sollte, denn dieser Trend produziert Vorurteile, der Bevölkerungsgruppen oder Wohnviertel in Verruf bringen kann.
Genauso ist es natürlich legitim, sich die Entwicklung der außergewöhnlichen Begabung der jungen Frau durch Quellenforschung verständlich zu machen. Weil aber diese Idee so plausibel ist, werden offenbar selbst FachgermanistInnen dazu verführt, Abhängigkeit zu betonen, Eigenständigkeit zu übersehen und gar Epigonalität ohne sorgfältige Prüfung auch dort zu unterstellen, wo sie nicht vorhanden ist. (Beispiele im folgenden Kapitel.) Und so macht man sich auf die Suche, wie ein Polizist, der Tat und Täter für gesichert hält und nur noch die Beweise zusammentragen muss.
Und noch ein Problem entsteht dadurch in Bezug auf Sibylla Schwarz: Wer ihre dichterische Leistung herausarbeiten möchte, ist genötigt, glaubwürdig zu machen, dass dies in Kenntnis der neuesten Ergebnisse solcher „Einflussforschung“ geschah. Das macht die Verteidigung der Dichterin nicht nur ungebührlich mühevoll. Diese Rechtfertigungslast erzwingt auch, die Anfragen an ihr Werk öffentlich stets erneut öffentlich zu perpetuieren.
Dazu kommt: Während ein Einfluss sich durch ein einzelnes Zitat leicht beglaubigen lässt, ist die These, die Dichterin habe etwas selbst entwickelt, letztlich nie durch irgendeine Textstelle belegbar. (2) Dies führt dazu, dass sich im germanistischen Schwarz-Lob eine seltsam doppel-bödig verschämte Rhetorik eingeschlichen hat. (Dazu weiter unten mehr.)
Erst nachdem ich einige der krasseren Behauptungen über Einflüsse relativiert und einige biografische Legenden, die eine Sicht auf die Dichterin behindern, auf ihre Stichhaltigkeit befragt habe, werde ich anhand der Sichtung aktuellerer Forschungsliteratur und eigener Befunde ein Schwarzbild entwerfen, dass ihre Besonderheiten herausarbeitet und sie als Dichterin zeigt, die uns mit ihren Findungen und eigensinnigen Setzungen auch vielfach überraschen kann.
Beispiel Epigonalität
„Epigonalität und Originalität in der Gelegenheitsdichtung von Sibylla Schwarz“ untertitelt Tomasz Jabłecki seinen im Februar 2021 in der Silesia Nova erschienen Essay über die Dichterin. Das Problem seiner Arbeit besteht darin, dass er von Anfang an das Plausible aber Unbewiesene ungeprüft voraussetzt. Er behauptet etwa es verwundere nicht „dass beide Elternteile viel Wert auf eine geschlechtsspezifische Erziehung und die Ausbildung ihrer Kinder im Rahmen der tradierten Rollenbilder und Rollenerwartungen legten.“ Natürlich sind wir befugt, das Zeitübliche anzunehmen, solange wir nicht Indizien für anderes haben, aber ist das hier das Naheliegende? Die Gestalt der Werke von Sibylla Schwarz allein spricht dagegen, mindestens wird deren Qualität unbegreiflicher und der Druck der Frage: „Woher mag sie es haben?“ umso mächtiger. Schon die 12-jährige hantiert in der Fretowischen Fröligkeit sicher mit mythologischen Bezügen, ein Jahr später begrüßt sie von Croy (offenbar öffentlich) mit einem Gedicht und zeigt sich orientiert über die Regeln der Angemessenheit auf dem „politischen“ Parkett. Das entspricht sicher nicht den zeittypischen Rollenerwartungen an eine Frau und wird dennoch nicht ohne Billigung oder Förderung der Eltern geschehen sein? Die Beerdingungspredigt erwähnt, dass sie in der Schreibstube ihrem Vater zur Hand geht. Weiterhin belegt das der Umstand, dass die Verwandschaft, wie wir aus deren Paratext entnehmen, die Gerlachsche Ausgabe ihrer Gedichte von 1650 wohlwollend unterstützten.(3) Dass ihre Eltern für damalige Verhältnisse sehr offen waren für andere Interessen und Neigungen zumindest der jüngsten Tochter, wäre hier doch der Augenschein, der zunächst anhand von Quellen widerlegt werden sollte, ehe man sich weiteren Spekulationen hingibt?
Auf das Naheliegende, ein tradiertes Gerücht, verfällt Jabłecki auch in Bezug auf die Tatsache ihrer Opitzkenntnis: „Von ihm nämlich kam der Hinweis auf Opitz“, stellt er mit Bezug auf ihren Herausgeber Gerlach fest. Zum Beleg führt er eine Briefstelle an, in der die Dichterin ihn kurz vor ihrem Tode um die Zusendung von Opitzschen Gedichten bittet. Es gibt keine Belege dafür: Ein längerer Aufenthalt Gerlachs in Greifswald ist erst für 1636 belegt (4), Gedichte, die deutlich eine Kenntnis der Opitzschen Versreform nahelegen, gibt es aber spätestens ab 1633. (Aus der Einleitung zu diesem Text, der „Fretowischen Fröligkeit“ geht überdies hervor, dass dies nicht ihre ersten Gedichte sind!)
Dass sie Opitz zumindest später genau kannte, beweisen die Zitate in ihren Texten. Mir ist allerdings nicht klar, warum die Hypothese eines Lehrers in Opitzscher Poetik hier überhaupt zwingend genug ist, dass man sie ohne Beweis unterstellt: Wer wie sie im niederdeutschen Sprachgebiet aufwächst und, ausweislich einiger Auffälligkeiten ihrer Übersetzungen, offenbar holländische Literatur ohne Wörterbuch zu lesen versteht, wird auf das Rechte verfallen, nämlich z.B. den Alexandriner wie in der Vorlage streng nach Wortakzent alternieren zu lassen, selbst wenn die Kenntnis von der Opitzschen Reform vorerst nur aus zweiter Hand vorhanden gewesen sein mag. (Dass sie alte Formen im Sinne der neuen Schule selbstständig adaptieren kann, beweist sie später anhand alter deutscher und französischer Vorlagen.)
Wer unbedingt einen Lehrer vermuten möchte, ist außerdem um Kandidaten nicht verlegen: Michael Behm, sie nennt ihn selbst „Freund und Förderer der Poeten“ (er tritt später mit eigenen Gedichten hervor und nimmt an den Sitzungen der Königsberger Kürbisshütte teil), ist ab 1631 in Greifswald bevor er 1634 nach Rostock ging. (5) Im selben Jahr sieht man auch öfter seinen Wegbegleiter und Streitgefährten, den später berühmten Abraham Calow, in der Stadt (vielleicht mit Neuen Texten und Nachrichten aus Königsberg? (6). Dem Professor der Beredsamkeit Hermann Querin widmet sie ein sehr persönliches Gedicht. Gleich mehre (ehemalige) Dekane der Artistenfakultät, zu deren Aufgabenkern die Grundausbildung in Rhetorik, Poetik und Grammatik gehörte, finden sich im näheren Bekanntenkreis- Alexander Christian, Johann Schöner, Bartholo-mäus Batthus) oder Verwandtenkreis (Johann Tryglophorus, Moewius Völschow (7)(8) Ihr Onkel Joachim Völschow kehrt aus Wittenberg zurück, kurz nachdem August Buchner (9) dort nicht ohne kleinen Skandal zum Professor der Beredsamkeit berufen wurde. Der später hochberühmte Jurist David Mevius gehörte zu ihrem Umfeld, er heiratete schließlich ihre beste Freundin. In Holland hatte er bei Vossius und Heinsius studiert, kannte also gleich zwei Vorbilder der Opitzschen Versreform aus erster Hand.(10) Darüber hinaus versorgt sie sich selbst aus der Ferne mit Büchern.
Wer in diesem anregenden Umfeld nach der einzelnen Quelle ihrer Dichtkunst fahndet, traut der Selbststilisierung Gerhards gegen alle Fakten und muss sich fragen lassen, ob die Dichtung denn wirklich so ein Orden von Illuminaten sei, zu dem man nur durch Weihe Zugang erlangt. Nicht weit darauf folgen bei Jabłecki zwei wirklich bemerkenswerte Sätze: „Allen Gelegenheits-gedichten von Sibylla Schwarz liegt ein gemeinsames Merkmal zugrunde - sie sind im Einklang mit der Reform von Opitz in neuhochdeutscher Sprache verfasst. Und in diesem Sinne positioniert die Schwarz-Forschung die Gelegenheitsdichtung der Greifswalder Poetin und Opitzianerin als epigonal.“ Was bedeutet das? Der Satzbau erweckt den Eindruck, eine Grund-Folge-Beziehung zu etablieren: Dass Sibylla Schwarz ihre Gedichte auf Neuhochdeutsch schrieb, sei ein Beleg für ihre Epigonalität. Das scheint mir widersinnig, insofern es das Verdikt Epigonalität unzulässig auf eine riesige Zahl von Barockdichtern ausweitete. Also liegt der Bedeutungsschwerpunkt offenbar auf der Feststellung „im Einklang mit der Reform“. Diese Behauptung soll offenbar im zweiten Satz, unbeschadet der scheinbaren Grund-Folge-Beziehung durch die einfache Wiederholung der unbelegten Behauptung „belegt“ werden, „Im Einklang mit Opitz [ist sie] in diesem Sinne Opitzianerin“. Dieses Nichtargument wird dann mit einem Autoritätsargument verquickt: „positioniert die Schwarz-Forschung die Gelegenheitsdichtung … als epigonal.“ Auch das Autoritätsargument bleibt ohne Beleg (wo strenggenommen sogar mehrere Quellenbelege erforderlich wären). (11)
Wie weist er diese „Epigonalität“ ihres Werkes nun nach: Zunächst unterstreicht er die Bedeutung der von ihm in besonderer Weise untersuchten Gelegenheitsgedichte für das Werk der Sibylla Schwarz, indem er betont, das ca. ein Drittel ihres überlieferten Werkes aus solchen Texten bestehe. (Er nennt es etwas missverständlich den „Hauptteil ihres Werkes“.) (12)
Im Weiteren fährt er fort: „Die Abhängigkeit Schwarz’ von dem schlesischen Reformer in Bezug auf Reim und Metrik wird in der Anwendung des Alexandriners bemerkbar, als der geeignetsten Versform für die deutsche Dichtung. Seltener tritt bei Schwarz anstelle des Alexandriners die Liedform auf.“ Abgesehen davon, dass unklar bleibt, wer hier den Alexandriner für die geeignetste Versform der deutschen Dichtung hält (Opitz? Schwarz? Jabłecki? (13), gelingt diesem Satz das Kunststück, gleich auf drei verschiedene Weisen irreführend zu sein. Wer das Argument der Abhängigkeit in Bezug auf eine junge Frau für tragfähig hält, der bedenke, dass auch Gryphius, Greiffenberg, Gottsched, die gesamte Garde des dichtenden Barocks hier in den Ruch der Epigonalität gerät. Es ist natürlich so: Man schrieb damals nach den Vorbildern Opitz, Heinsius oder Buchner Alexandriner, wie man zwei Jahrhunderte später eben fünfhebige Jamben und heute gern umbrochene Prosa schreibt. Man kann ja durchaus der Meinung sein, dass Alexandriner Murks sind und sich dem allen verweigern. Dann mache man aber erstens nicht Sibylla Schwarz dafür haftbar und räume zweitens ehrlicherweise ein, dass man hier eine extravagante Haltung vertritt, welche von „der Germanistik“ gewiss nicht beglaubigt wird.
Allerdings sind Liedformen auch in keiner signifikanten Weise selten in den Texten der Dichterin. (14) Sie ziehen sich durch beide Bände, auch in die Verserzählung „Faunus“ oder das Drama „Susanna“ sind kunstvolle Liedformen eingewoben.
Drittens könnte, wer so rüde von den Versformen her Abhängigkeiten konstruiert, der Dichterin gerade von der Häufigkeit der Liedzeilen her einen Abhängigkeitsvorwurf stricken: Die Hegemonie des Alexandriners zum Beispiel bei Greiffenberg, die die große Mehrzahl ihrer Sonette in dieser Form verfasst, oder bei Gryphius, der seine Tragödien durchwegs aus Alexandrinern baut, findet sich so weder bei Opitz noch bei Schwarz, wo auch z.B. die Tragödie sich kürzerer Maße bedient. Und solche Versmaße fielen nach Jabłeckis schematischer Teilung in die Kategorie „liedhaft“. (Man läge aber damit auch wieder nicht ganz richtig: Bei Schwarz finden sich Sonette in „liedhaften“ Zeilen, wie in vierhebigen Trochäen sowie in dreihebigen Jamben. Opitz macht von diesem Sonetttyp keinen Gebrauch.) Offenbar gilt neben der Gleichung junge Frau= Abhängigkeit für Jabłecki auch die alte Schulgleichung Barock=Alexandriner=Opitz.
„Auch im Bereich der dispositio, also der Kunst folgerichtiger und überzeugender Anordnung des Materials, ist der Einfluss Opitz’ unverkennbar. In den Begräbnisgedichten etwa bleibt die durch die zeitgenössischen Poetiken vorgegebene dreiteilige Komposition erhalten: lamentatio, laudatio und consolatio. Die strukturelle Dreigliedrigkeit der Epicedien ist im 17. Jahrhundert keineswegs neu oder originell. Sie ist auf die Poetik des vorangegangenen Jahrhunderts zurückzuführen, die wiederum aus der antiken Lyrik von Horaz und Ovid schöpfte. Die Struktur versteht sich daher als ein gemeinsames Erscheinungsmerkmal und eine Determinante der Gattung schlechthin.“
Hier räumt der Autor zwar ein, dass diese Dreiteilung keineswegs von Opitz stammt, sondern gattungstypisch ist. Eine Dreiteilung, die in der Dichtung seit dem 16. und mindestens bis weit ins 19. Jahrhundert vorkommt und heute genauso noch in Beerdigungsreden verwendet wird, weil sie sich bis zu einem gewissen Grade aus der Sache ableiten lässt. Sie stellt also im Grunde gar kein Beispiel der Opitzabhängigkeit dar. Der Autor nimmt es dennoch für eines, unbeschadet der Tatsache, dass Sibylla Schwarz (sie lebte im 30-jährigen Krieg) wahrscheinlich von Kindesbeinen an viele Beerdigungsreden und -gedichte zur Kenntnis nahm.
Aus nicht ganz begreiflichen Gründen wählt Tomasz Jabłecki zum Beleg seiner schiefen These von der Opitzabhängigkeit durch traditionelles Lamentatio- Laudatio- Consolatio- Schema im Folgenden ein Gedicht, das dieses Schema gerade nicht realisiert. Zunächst werden einige Metaphern bekrittelt: „Die Autorin greift in diesem Epicedium auf erstarrte Metaphern zurück; im Laudatio-Teil nennt sie den Regenten ‚Schirm‘ und ‚Landes-Vater‘. Der in der Fürsten-Panegyrik häufig gebrauchte Topos vom ‚Landes-Vater’ umschließt die Metapher vom Staat als Haus, an dessen Spitze die fürstliche Vatergestalt steht- “ Wenn es in dem ganzen Text nur diese vier sind, die hergebracht wirken, dann wäre das erstaunlich! Solch Naserümpfen nach oberflächlichem Eindruck wird man sich sicherlich nur einem jungen Mädchen gegenüber leisten. Man lege bekannte Meisterstücke barocker Poesie, etwa Harsdörffers „Was ist die arge Welt“ oder Gryphius‘ „Es ist alles Eitel“ daneben und mache die Probe: Man trifft Metaphern geradezu biblischen Alters, die sich ebenso leicht dem Stereotypenverdacht aussetzen lassen. (Eher dürfte es vielen umgekehrt gehen: Während uns Gryphius‘ und Harsdörffers Gedichte durch Geläufigkeit sofort eingängig sind, wirken die Fügungen der Dichterin oft fremd oder gesucht.) So funktioniert eben der topologisch geprägte Diskurs des Barock. Man muss das nicht schätzen, aber man sollte es dann auch nicht der jungen Dichterin anlasten.
Wie er allerdings richtig feststellt, fehlt in seinem Beispiel die für solche Epicedien typische Consolatio. Dies wäre, vorausgesetzt, es handele sich hier um ein echtes Epicedium, doch eher ein Anlass festzustellen, dass die Autorin hier bereits im 17. Jahrhundert von einer Tradition abwiche, die noch für zwei weitere Jahrhunderte verbindlich blieb? Man muss sich aber mehr Mühe machen, denn der Text ist von vornherein kein typisches Epicedium, sondern der Textanlass ist zwittrig. Zwar wird im Text der Tod des Landesfürsten als Sprechanlass angezeigt, es handelt sich aber eher um eine Reflektion auf die Situation der Kunst, der Traueranlass wird nur in wenigen Zeilen des mehrseitigen Textes verhandelt. (15)
Ein gewisses Hinausgehen über die Opitzsche Vorlage kann man auch in der von ihm ebenfalls von ihm aufgerufenen Ode „Auf ihres Seeligsten und lezten Landes=Fürsten Tod Trauer=Gesang.“ beobachten. Während Jabłecki diesen Text wohl aufruft, weil sich die Dichterin hier selbst auf Opitz beruft, muss man konstatieren, dass sie mit dieser (bei ihr und ihren zeitgenössischen KollegInnen häufiger anzutreffenden) Figur über den Meister hinausgeht. Opitz erwähnt seine Meister im „Buch von der deutschen Poetrey“. Im Gedicht scheint ihm eher die Zunge herauszufallen, als dass er ein Vorbild darin verewigt. (16)
(In der Titelei verweist er mitunter auf seine Vorlagen.) Allenfalls Freunde erscheinen mitunter namentlich angeredet, sozusagen, obwohl sie dichten. Hier führt die Dichterin gemäß ihrer ungefestigteren Sprecherposition ein von ihm nicht verwendetes rhetorisches Element in ihren dichterischen Diskurs ein. Und sie beschränkt sich auch nicht auf ihn als Quelle sondern hat und nennt viele, hier z.B. Jacob Cats oder Anna Maria von Schürmann:
Gantz Holland weiß dir für zusagenVon seiner Bluhmen Tag und Nacht;Herrn Catzen magstu weiter fragen /Durch den sie mir bekant gemacht:Cleobulina wird wol bleiben /Von der viel kluge Federn schreiben.
Nachdem Jabłecki mit dieser Art Argumenten ihre Abhängigkeiten „nachwies“, kommt er zu dem Schluss: „Der Gebrauch von gängigen literarischen Topoi, die inhaltlichen Ähnlichkeiten zur Dichtung von Opitz, die Aneignung der neuen rhetorischen Muster und Normen und ihre praktische Umsetzung sind Merkmale, die den epigonalen Charakter ihrer Dichtung bestätigen“ und nennt sie eine „begeisterte Epigonin“. Die Dichterin mag sich zwar explizit in die Nachfolgerschaft von Opitz gesetzt haben, das taten auch Dichter von Fleming, Dach, über Hagedorn, Klaj bis Gottsched. Formulierungen wie „der begeisterte Epigone Fleming … Dach … Gottsched“ würde man allerdings allenfalls als spitzes Bonmot, keinesfalls aber als ernste Behauptung eines Fachbeitrags durchgehen lassen.
Es sei hier nicht verschwiegen, dass Tomasz Jabłecki, nachdem er die junge Frau harsch auf das seiner Meinung angemessene Plätzchen verwiesen hat, immerhin einräumt, dass die Dichterin einige neue Themen und Motive in die Dichtung einführte. Ganz klar sieht er ihre Innovationen rein auf der inhaltlichen Ebene, bedingt durch ihre Lebenswelt als Frau. Auch an seiner schiefen These von der Epigonalität bringt er am Schluss ein (versöhnliches?) Addendum an und spricht mit Meyer Sickendick von einer „künstlerischen Epigonalität“.
Hier sind aber in Bezug auf Sibylla Schwarz ein paar Dinge zu erinnern: Erstens las die Dichterin, anders als die übergroße Mehrheit der heutigen GermanistInnen, auch Catz und Heinsius im Original. Wer mehrere Quellen zur Verfügung hat, ist von einer Quelle nicht abhängig, man sollte eher von Aneignung sprechen. Anders als beim Begriff „Abhängigkeit“ tritt so die bewusste Entscheidung der Dichterin hervor. Dieser Gedanke vertieft sich, wenn man bedenkt, dass die Dichterin keine zehn Jahre nach Opitz erster Veröffentlichung schrieb. Wir wissen heute, wie breit sich seine Vorschläge durchsetzten. Diese Entwicklung war jedoch zu ihrer Zeit noch im Gange – und nicht allgemein absehbar. Schwarz schrieb in einer Zeit des Ringens zwischen hergebrachten und neuen Ansätzen. Wer nach 1630 dichtet, sieht sich mit verschiedenen Angeboten konfrontiert. Sibylla Schwarz hätte, banal aber nennenswert, zum Beispiel in der ihrerzeit populären und noch lebendigen Manier der ihr vertrauten Dichter Lobwasser und Nicolai fortfahren können. (17) Anna Ovena Hoyers verfasst, trotz ihrer Nähe zu Holland, von Opitz unbeeindruckt weiter ihre Lehrgedichte und Gesänge, Eleonora von Knesebeck wird noch Jahrzehnte später ohne Kenntnis der neuen Metrik schreiben. (18) Festzuhalten bleibt außerdem: In vielem war Opitz seinerzeit nicht neu. In vieler Hinsicht geben fassten seine Überlegungen lediglich zeitgenössische Entwicklungen zusammen und geben Überlegungen etwa Scaligers auf Deutsch. Friedrich Spee z.B. publizierte bereits vor Opitz streng nach Wortakzent alternierende Lieder (19), Paul Schede Melissus hatte schon Jahrzehnte zuvor deutsche Sonette verfasst, deutsche Alexandriner(sonette) gab es bei Schwabe von der Heyde nachweislich ab 1612 (20) und auch im Wittenberger Kreis schon vor Opitz Schrift (Köthener Gesellschaftsbuch). Heinrich Hudemann scheint den Alexandriner neuer Prägung selbstständig aus dem Holländischen übernommen zu haben und entwickelt ihn später weiter in Auseinandersetzung mit Opitz (21). Und Opitz war erst auf dem Weg, der Platzhirsch der neuen Dichtung zu werden, als der er heute erscheint. Wo er neu war, war er überdies anfangs nicht unumstritten. Schwabe von der Heyde oder Tobias Hübner z.B. scheinen sich eher am französischen Alexandriner Ronsards orientiert zu haben (insofern die erste Vershälfte nicht streng alternierend dem Wortakzent folgt.) (22) Besonders skeptisch scheint man Opitz in der Gegend um Wittenberg und Köthen gegenüberzustehen. Nicht einmal für eine Aufnahme in die fruchtbringende Gesellschaft scheint er ohne weiteres würdig und muss drei Jahre vor der Tür warten. (23)
Etwa mit dem Verslehreanhang der Grammatik von Johannes Clajus, die bis 1720 zehnmal nachgedruckt wurde, konkurriert besonders im mitteldeutschen Raum ein weiteres Angebot zur Erneuerung der deutschen Dichtung längere Zeit mit der Poeterey von Opitz. Lackmustest zur Rezeption dieses Werkes ist der Umgang mit der sapphischen Form, der Opitz als wenig geeignet für seine rationale Dichtungsauffassung skeptisch gegenüberstand. Clajus hatte vorgeschlagen, die für eine akzentuierende Metrik ungünstig stehende Doppelsenkung vorzuverlagern. Im 17. Jahrhundert gibt es daraufhin eine rege Produktion dieser später nicht mehr sonderlich prominenten Strophenform. (24) Und dies nicht nur im Mitteldeutschen Raum: Die Danziger Jonas Daniel Koschwitz, Adam (25) und Andreas Bythner schreiben solche Strophen in Abgrenzung zu Opitz (26) und veröffentlichen sie bei Rethen (27) (wo später auch Sibylla Schwarz veröffentlicht wird). Mit Titz, Albinus (1629) und Plavius (28) (1630) engagieren sich drei der Verfasser von Ehrengedichten auf Schwarz an dieser Baustelle in Frontstellung zu Opitz (29). „Jhr Sinn und jhr Verstandt / Jst zwar nicht minder klug / doch minder nuhr bekandt.“ - heutzutage. Aber auch wenn uns diese Namen teils entlegen anmuten, konnten sie sich ihrerzeit durchaus auf Augenhöhe mit Opitz sehen. Immerhin durfte sich Adam Bythner poeta laureatus nennen. (30) In ihrer Zeit, als Kenntnisse antiker Metrik zur akademischen Grundausbildung gehörten, dürften ihre Ansätze weithin einleuchtend erschienen sein.
Sibylla Schwarz rennt also nicht einer etablierten Norm hinterher, wie das der Vorwurf der Epigonalität impliziert, sondern bezieht Stellung in einem Literaturkampf. Wenn sie sich im Tableau der Möglichkeiten auf das Opitzsche Angebot fokussierte, lassen sich gute Gründe dafür anführen: Als Sprecherin des Niederdeutschen war ihr die von Opitz geforderte holländische Sprachprosodie besonders nahe. Opitzsche Metrik lässt sich im Gegensatz zu Clajus Angebot auch ohne Rechtfertigung durch Kenntnis griechisch-lateinischer Metrikgesetze, anders als die auf Ronsard fußenden Erneuerungsversuche ohne Kenntnis der französischen Sprache ausführen. Dazu ist die Metrik rational kodifiziert. Für jemanden wie Sibylla Schwarz, die mit ihrem dichterischen Selbstanspruch an Tabugrenzen rüttelte, kann es wichtig sein, die eigene Kunstfertigkeit ohne Appell an den Geschmack erweisen zu können.
Der gewaltige und andauernde Erfolg Opitz‘ verdeckt also hier nicht nur die Eigenständigkeit der frühen Entscheidung für seine ästhetischen Linie, er erschwert auch die Beurteilung seiner Durchsetzungsgeschichte: Der letztendliche Erfolg des Opitzschen Geschmacks hat einfach all diejenigen zeitgenössischen Bewegungen, die sich schlechter mit seinem Programm verbinden ließen, der Dekanonisierung anheimfallen lassen.
Entsprechend ihrer Bedürfnisse nimmt Schwarz Akzentverschiebungen vor: So lässt sich das stärkere Gewicht von Gelegenheitspoesie damit erklären, dass sie als Frau den Umstand, dass sie das dichterische Wort ergreift, besser durch angemessene Sprechanlässe abstützen musste. (Während sich etwa Hoyers und Greiffenberg dazu weitgehend auf religiöse Themen zurück-zogen.)
Man muss die Berufung auf Opitz bei Schwarz (und anderen DichterInnen) nicht nur als eine autoritative Rückversicherung betrachten, sondern auch als gezielte Verspolitik für die eigene Liga ernst nehmen.
Wer also die keine zehn Jahre nach seinem Auftreten gefällte Entscheidung der Dichterin für die Opitzsche Poetik als Abhängigkeit oder gar Epigonalität ausweist, stellt nicht Fakten klar, sondern er betreibt eine völlig neue Art von Literaturgeschichte: Er müsste nicht nur in Opitz einen Heinsius- oder von der Heyde- Epigonen sehen, sondern auch etwa Rilke und George zur Größe abhängiger Epigonen von Hofmannsthal herabschrumpfen, der zweifellos zehn Jahre vor den beiden bereits die neuen Schachzüge des französischen Symbolismus für die deutsche Lyrik adaptierte. (31)
Wo uns das eine oder andere Bild bei ihr doch allzu gewöhnlich erscheinen mag, (was bei der Lektüre barocker Texte ja nicht immer ausbleibt), sollten wir bedenken, dass sich die Geläufigkeit dieser Findungen, wie wir es auch beim Alexandriner an sich sahen, in vielen Fällen durch die breite Verwendung erst nach ihrem Tod eingestellt haben mag. Eine ähnliche Interferenz mit unserem heutigen anthologistischen Lektürewissen mag auch dafür verantwortlich sein, dass das alte Gerücht von der hauptsächlich religiösen Ausrichtung ihres Werkes hie und da neu kolportiert wurde. Zwar leuchtet der christliche Glaube als selbstverständlicher Teil der barocken Lebenswelt in manchem Text hindurch (32), genuin geistliche Texte gibt es jedoch gerade eine Hand voll. Das gilt im Vergleich mit Kollegen wie Gryphius und mehr noch für Autorinnen wie Greiffenberg. Besonders deutlich wird der Kontrast, wenn man andere Dichter aus dem heutigen Norddeutschland heranzieht, etwa Hudemann oder Rist. Wer abseits der urbanen Zentren schrieb, wie diese beiden, schien eher auf religiöse Themen verwiesen, Sibylla Schwarz in Greifswald konnte sich etwas größere Freiheiten nehmen. Nicht einmal der Umstand, dass biblische Stoffe in Gebrauch genommen werden, zeigt zuverlässig an, dass eine religiöse Thematik bei ihr den Schreibanlass abgibt. Das zeigt sich z.B. an ihrer Verwendung des Susanna-Stoffes (siehe nächster Teil). Wenn dieser christliche Horizont der Dichterin RezensentInnen dennoch besonders ins Auge stechen mag, kann das daran liegen, dass barocke Literatur in der Breite jenseits des Gesangbuchs heute am ehesten in Auswahlbänden rezipiert wird. Diese neigen dazu, den säkularen Gedichtbestand zu bevorzugen. Wer barocke DichterInnen in Original- oder Werkausgaben vergleichend konsultiert, wird schnell bemerken, wie weit der christliche Horizont bei ihr weiter zurücktritt, als es unbedingt die Regel ist.
Sich entziehen
Klaus Birnstiel, der die Werke von Sibylla Schwarz für den Wehrhahn Verlag herausgab, ist so klug, sich diesem Spiel um Einflüsse, Abhängigkeiten und Epigonalität möglichst zu entziehen. (33) Er tut es, indem er auf wichtige Aspekte der damals anders gearteten Literaturauffassung aufmerksam macht:
„Barocke Dichtung als eine Literatur nach eigenen Regeln zu begreifen ist jedenfalls der Schlüssel zu einem Werk wie demjenigen der Sibylla Schwarz. Muster- und Vorbildorientierung sowie Anlassgebundenheit sind nur zwei zentrale Aspekte eines Literatursystems, das wiederholt als heteronom beschrieben worden ist: bestimmt nicht von der Autonomie eines einzelnen Künstlersubjekts, sondern von als überzeitlich gültig wahrgenommenen Regeln und vielschichtigen gesellschaftlichen Erwartungen. Die frühbarocke Textpraxis von Sibylla Schwarz entsteht unter den Bedingungen eines Literatursystems, das nicht auf das originelle Ingenium der oder des Einzelnen rechnet, sondern das gekonnte Spiel mit etablierten literarischen Standards und Vorbildern honoriert.“
„Erst die moderne, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und damit über einhundert Jahre nach Sibylla Schwarz konstituierte Dichtungsauffassung prämiert den vorgeblich authentischen Ausdruck eines erlebenden Subjekts in origineller, als Personalstil kenntlicher Sprache.“
Mit ebenso souveränen Formulierungen warnt er vor biografischen Spekulationen, und dekretiert:
„An wen sich aber ihre Liebesgedichte richten, ob und in wie weit sich zwischen den Zeilen der lyrischen Anrufungen geliebter Gegenüber konkrete Konturen erkennen lassen, das alles sind müßige Fragen.“
Zudem sucht er die Dichterin vor späteren Vereinnahmungen zu bewahren. All dies sind sicherlich wichtige Erinnerungen: Wir sollten den großen Abstand zwischen ihrer und unserer Lebenswelt nicht aus den Augen verlieren.
Bemerkenswert ist aber, wie unsicher, trotz seiner Perspektive unvoreingenommener Übersicht, sein Urteil über die dichterische Leistung der Autorin ausfällt. Er stellt sich dazu hinter ein Diktum einer lokalen Kollegin, das seltsam ausdeutbar bleibt: „[Schwarz], deren Dichtungen mustergültig innerhalb der poetologischen Konventionen blieben, diese zugleich unterliefen, dadurch deren Grenzen erfassten und sie partiell überschritten‘, wie es Monika Schneikart pointiert formuliert hat.“ Blieb sie also mustergültig in den Konventionen oder nicht? Ist „mustergültig“ hier eine Wertung der Autorin Schneikart oder soll in dem Wort der Wertekanon der barocken Literatur kolportiert werden? Woran kann man eine Dichtung, die durch Mustergültigkeit Grenzen erfasst, von einer unterschieden, die nur einfach so mustergültig ist? Oder erfasst nicht viel mehr die Dichterin Grenzen und unterläuft sie (nicht)? Dies Schillern der hier gewählten (fremden) Worte steht in auffälligem Gegensatz zur ansonsten erfrischenden Klarheit von Birnstiels Ausführungen. Entgegen seiner Absicht, sich von der bisherigen Schwarzforschung zu distanzieren, ordnet sich das von ihm kolportierte Diktum trotz des Verzichts auf den belasteten Begriff „Epigonaliät“ zwanglos ein in den Sound der Urteile, die die germanistische Schwarzforschung von Anfang an begleiten. Als hätte man Scheu, sich auf das Werk einer jungen Frau zu tief einzulassen, changiert das Urteil von einem unschlüssigen Einerseits-andererseits bis hin zur Kombination aus Lobpreis plus Nackenschlag. Bei Tomasz Jabłecki: „In diesem Sinne wäre sie nicht als Vertreterin des Epigonentums zu verstehen, sondern ihre Dichtung sollte aufgrund der subjektiven Empfindungen, die in einigen Casualgedichten zum Vorschein kommen, der Kategorie der ‚Ästhetik der Epigonalität‘ im Sinne von künstlerischer Erweiterung eines rhetorischen Repertoires zugeordnet werden.“ Schon bei Ludwig Gisebrecht, dem ersten Germanisten, der sie näher betrachtet, hatte es geheißen: „sie besaß … die angeborene dichterische Begabung. - Ein spezifisches dichterisches Talent war sie jedoch nicht. Originalität ging ihr ab.“ Birnstiel spricht wiederum (an anderer Stelle 34) von einer Meisterschülerin des Martin Opitz.
Ein verborgener Widerspruch
Auch wenn ich den Wert von Birnstiels Arbeit als eine griffige Einführung in den Stand der Schwarzforschung nicht leugnen möchte: Bei genauem Hinsehen kommt die erfrischende Klarheit seiner Ausführungen mitunter durch Überspitzung zu Stande und sein Text verstrickt sich dadurch in Widersprüche.
Hatte er seine LeserInnen noch gerade vor Spekulationen und Mutmaßungen gewarnt, die nur die entstehende „(west-) deutsche germanistische Barock- und Frühneuzeitforschung“ zu korrigieren wisse, verstrickt er sich als Vertreter dieser Disziplin selbst in solche Mutmaßungen: „Wirkt das weitere Arrangement der Texte stellenweise zufällig, etwa wenn Trauer- und Hochzeitsgedichte für ein und dieselbe Person auf beide Bände verteilt werden, so zeichnet sich insgesamt doch ab, dass Gerlach darum bemüht war, die Texte nach Gesichtspunkten von Qualität und Vollkommenheit anzuordnen. Lassen sich die Überlegungen, die Gerlach bei der Anordnung der weiteren Texte leiteten, auch im Einzelnen nicht nachverfolgen, so ist doch klar, dass die Darbietung der Werke der Sibylla Schwarz alles andere als willkürlich erfolgt. Gerlachs Anordnung ist mithin nicht als eine dem Werk irgendwie äußerliche Zutat zu verstehen.“ Birnstiel räumt also zwar ein, dass die Anordnung zufällig wirke, kann ihren Sinn ebenfalls nicht nachvollziehen, mutmaßt aber „mithin“, dass sie einen bewahrenswerten tieferen Sinn hätte. Hätte er einfach gesagt: „Die Ordnung der Texte entbehrt zwar an vielen Stellen eines erkennbaren Sinnes, mangels einer besseren Anordnungsidee, behalten wir diese Reihenfolge hier bei“ wäre das verzeihlich gewesen, denn über die Bedeutung der Anordnung herrscht schon lange Rätselraten. Dähnerts erste Rezension zu diesem Buch aus einer Zeit, die laut Birnstiels Epochenzeitrechnung noch innerhalb des Geltungsbereichs von Gerlachs barockem Literaturparadigma liegt, sodass der Rezensent mithin noch zum von Gerlach intendierten Zielpublikum gehörte und den Sinn der Anordnung noch am ehesten durchschauen sollte, bemängelte die große Unordnung. Erika Greber sieht eine Art Doppelkonzert und Zwiegespräch homoerotisch orientierter Textlichkeit. Dagegen nimmt Monika Scheikart ähnlich wie Birnstiel an, die Gedichte seien nach dem zeitgenössischen Gelehrtengeschmack über ihren Wert absteigend geordnet, was nicht gut mit der Meinung Tomasz Jabłeckis zusammengeht, der ein Prinzip darin ausmachen will, dass von den (34) Gelegenheitsgedichten je die Hälfte in jedem Band steht. Gudrun Weiland wiederum sieht gerade im ostentativen Verzicht auf eines der geläufigen Ordnungsschemata umgekehrt einen Trick, die naive Autorschaft im Gegensatz zu männlichen Gelehrsamkeitsideal herauszustreichen.
Und auch Birnstiel hat insgeheim noch eine zweite Hypothese, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zu seiner obigen Feststellung steht, wenn er anmerkt, Gerlach habe eine „Inszenierung der Autorin in Szene gesetzt, die das selbstverständlich vorhandene persönlichbiographische Interesse an der Ausnahmeerscheinung geschickt bedient.“ (35) Wie dies wiederum zur Annahme Flemming Schocks passt, Gerlach habe sich in der Arbeit lediglich einer eingegangenen Verbindlichkeit notgedrungen so ehrenhaft als möglich zu entledigen gesucht (36) oder zu Angela Dionne Fergusons Vermutung, die Kapitelüberschriften etc. wären vom geheimnisvollen M. Z. beigesteuert (37), mag jeder selbst ermessen. (38)
Soll eine Erklärung der Gerlachschen Anordnung zum integralen Werkbestandteil stichhaltig mehr als eine bloße Spekulation bleiben, müssten mehrere Dinge sichergestellt sein. Erstens natürlich, dass sie sich nicht Zufällen wie allmählichem Manuskripteingang verdankt, wie ihn Gerlach selbst in seiner Vorrede einräumt:
Wie dan auch die Gedichte ins gemein / weil unwissend / wan und zu welcher Zeit ein jegliches insunderheit vohn der Seel. Jungfer geschriben worden / ohne einige Ordnung dahin gesezet werden müßen / daher du dich nicht wundern lassen wollest / wo etwan eines im Ersten Teil / oder sonsten ein vorgängiges dihr viel geschmakter / als das folgende vohrkommen möchte. So wirstu auch vihlleicht im Ersten Teil Grabschrifften etc. sehen der jenigen / deren Glückwündschungen / auf ihre Hochzeiten etc. Erst in disem Andern Teil gesezt sind / davohn wisse / daß man die Gedichte des Ersten Teils schon eine geraume Zeit vohrher / ehe man die Andere erhalten / abgeschribenund verfertiget gehabt hat / die hernach nicht wider ümgeschriben werden können.
Festzuhalten ist hier besonders, dass Gerlach gerade in derjenigen Hinsicht sein Scheitern einräumt, die Birnstiel als das zu bewahrende intendierte Prinzip seiner Ausgabe vorstellt. (39) Zweitens hätte man sicherzustellen, dass die Anordnung nicht aus zeitgebundenen Rücksichten entstand, nicht auf Zufälle wie familiäre Empfindlichkeiten reagiert, wie es bei der Ausrückung der Sonette in den Anhang den Anschein erweckt. Drittens und vor allem sind Gelehrten-geschmäcker auch im 17. Jahrhundert sicherlich verschieden und dass zufällig der seine die Ausgabe bestimmt, bliebe dem Werk so lange äußerlich, bis sichergestellt wäre, dass Sibylla Schwarz dieselbe oder zumindest eine ähnliche Anordnung getroffen hätte. Dem Vorbild der Opitz-Ausgaben folgend hätte das Werk eher mit „Lob der Verständigen und Tugendsamen Frauen“ (dazu in einem späteren teil mehr) beginnen können und die Gelegenheitsgedichte wären eher weiter nach hinten gerückt. Andere Ausgaben nach dem Gelehrtengeschmack der Zeit beginnen mit dem geistlichen Werk. Und dient es wirklich dem Interesse der Dichterin, dass die Widmungsgedichte so geordnet sind, dass zunächst die Leistungen Gerlachs gewürdigt werden, und erst dann die Dichterin auf den Plan treten darf? Ist es nicht genau diese Gepflogenheit, die zu Spekulationen wie der Hauslehrerlegende einladen? Und ob Gerlach die Verbreitung auf Gelehrte beschränkt sah, ist auch nicht ganz klar. Kleinere Formate wie das der Schwarz-Ausgabe verbreiteten sich im 17. Jahrhundert vor allem unter weniger gelehrten Zielgruppen, insbesondere Frauen. Zufälle des Manuskripteingangs, Rücksichten auf die Familie oder eine Anordnung nach unüberprüfbarer Willkür des Nachlassverwalters sollte man nicht zum integralen Werkbestandteil adeln, sondern als das bezeichnen, was sie sind: Aberrationen des Werkes, die wir nicht 400 Jahre später unkorrigiert perpetuieren sollten. (40) Unsere Bemühungen sollten vielmehr bei der Gestalt des überlieferten Werkes anknüpfen. (41)
Ein weiterer Widerspruch
Hatte es mit Bezug auf Sibylla Schwarz bei Birnstiel noch geheißen: „beruht das vormoderne Dichtungssystem auf einem Spiel der Bewirtschaftung akzeptierter Regeln, der Orientierung an Tradition und Vorbildern“ lesen wir über Gerlachs Anliegen bei der Herausgabe der Schwarz-Bände kurz darauf Folgendes: „Geschickt lavierend zwischen den poetischen und sozialen Normen eines von Männern bestimmten Dichtungssystems und der Bewirtschaftung des Neuigkeitswertes, den das Werk einer poetisch begabten, früh verstorbenen jungen Frau bot“ Das bedeutet: Gerlach habe also als Zeitgenosse einer Zeit, die Klaus Birnstiel uns gerade als eine solche vorgestellt hat, in der Neuerungswert nichts galt, nun doch auf einen solchen gesetzt? Was soll ihn dazu bewegen, wenn nicht eben jene Originalität der Schwarzschen Dichtung?
Opitz wird natürlich auch in seiner Zeit wegen seiner Neuartigkeit diskutiert, wenn Morhoff Sibylla Schwarz „Wunder ihrer Zeit nennt“, soll das Andersartige und Besondere an ihr in den Blick gerückt werden. Auch damals sorgte das Neue und Überraschende mindestens für Gesprächsstoff, lediglich der Korridor dessen, was noch als angemessen oder ziemlich empfunden wurde, war durch ein ausgefeiltes System teils kodifizierter, teils unausgesprochener Regeln enger.
Umgekehrt wird zwar seit dem späten 18. Jahrhundert subjektiver Ausdruck öffentlich stärker geschätzt, das hält aber nicht davon ab, unter dem neuen Literaturparadigma die einzelnen Werke ebenfalls an den Leistungen großer Vorgänger zu messen und hergebrachte Kunstmaßstäbe anzulegen und einzufordern. Werke, die allzu freigeistig die Regeln der Angemessenheit verletzten, werden auch in der Goethezeit noch bestenfalls angegriffen, ostentativ übersehen oder stillschweigend dekanonisiert. Abgesehen davon stellt die Erfindung des Labels „Weimarer Klassik“ den paradoxen Versuch dar, den neuen Zeitgeschmack als überzeitlich gültig zu kanonisieren. (Und diese Doppelbödigkeit hatte bereits das Opitzsche Programm.) Wenn wir seit der Spätaufklärung einen Paradigmenwechsel markieren, dann bezieht er sich eher auf die Art, wie über Literatur geredet wurde, die nicht unmittelbar darauf durchschlug, wie man Literatur las. Die Akzentverschiebung weg von Angemessenheit und Kunstfertigkeit hin zu etwas größerem Freiraum des persönlichen Ausdrucks vollzog sich allmählich über Jahrhunderte und wurde durch die neue Redeweise seit dem späten 18. Jahrhundert eher nachträglich eingeholt als inauguriert.
Die Wahrnehmung dieser Entwicklung als Epochenbruch ist in der deutschen Literaturgeschichte besonders drastisch, weil sie mit anderen Entwicklungen parallel lief. Die Entdeckung Shakespeares veränderte teilweise die Versnorm, indem der fünfhebige Jambus den Alexandriner beerbte. Diese Gleichzeitigkeit der Veränderungen ist ein Sonderfall, den wir weder aus England oder Italien (wo ähnliche Verse früher etabliert waren) noch aus Frankreich kennen (wo der Alexandriner bis weit ins 19. Jahrhundert einen Platz behaupten konnte (42). In den von Sibylla Schwarz geschätzten Liedformen ist ein ähnlicher Bruch aber nicht auszumachen.
Birnstiel hat deshalb nicht recht damit, die Aussage, dass Schwarz »mit 16 besser war als Goethe oder Rilke«, als Fehlurteil zu verwerfen, weil sie DichterInnen verschiedener Literaturparadigmen gewissermaßen wie Äpfel mit Birnen vergliche. Man konsultiere Goethes Gedichte der Frankfurter Zeit und man findet einen dichtenden Knaben, der offenbar unbeeindruckt von den seit längerem kursierenden neuen Angeboten eifrig Kasualpoesie in Alexandrinern verfertigt. In diesem Sinne war die Poesie der 16-jährigen Sibylla Schwarz wacher für die Entwicklungen ihrer Zeit und ausgefeilter in deren Gebrauch als die des jungen Goethe.
Epochenkategorien mögen als heuristische Werkzeuge ihren Wert haben, angesichts der Buntheit und Verschlungenheit in Wiederaufnahmen, Rück-, und Vorgriffe, siedeln sie mitunter nahe am Klischee. (43)
Wenn Birnstiel jedes barocke Dokument - wegen der literaturparadigmatorisch gegebenen Leidenschaft zur Stilisierung verdächtig macht, jeder These - als nachträglicher Projektion misstraut (44), führt das zwar dazu, dass er tatsächlich ein erfrischend folklorefreies Schwarzbild entwirft. (45) Solcherart in den Mitteln eines eventuellen Widerspruchs verunsichert, könnte man sich als LesendeR allerdings hinterrücks auch in eine subtile autoritative Erpressung verstrickt sehen, indem man sich gehalten fühlt, Birnstiels Expertise „(west-) deutsche[r] germanistische[r] Frühneuzeit- und Barockforschung“ blind zu trauen. (46) Das macht die dennoch bestehen bleibenden Unrichtigkeiten und Überspitzungen besonders misslich.
Seine Theorie der Literaturparadigmen hat noch einen zweiten Pferdefuß: Wenn wir davon ausgehen, dass es ein Literaturparadigma des Einflusses und der Nachahmung gäbe und eines der Originalität, sind wir gehalten, bei dem einen das eine und bei dem anderen das andere zu suchen und verstärken damit den Verfolgungseifer jener misslichen Einflussforschung, wiederholen also einen Fehler, der uns angesichts von Sibylla Schwarz` Jugend bereits zu unterlaufen neigt.
Die Dichterin und ihre ZeitgenossInnen wussten schließlich nicht, dass sie im Zeitalter des Barocks wirkten. Sie sahen sich als Teil der Erneuerung, die man mit der Renaissance verbindet, die deutschen Sprachgesellschaften etwa betrachteten ihre Funktion für ihre Sprache und das Überwinden von Standesgrenzen als keineswegs anders, als die der italienischen Renaissance und diese Anliegen fügen sich nahtlos ein auch in das Projekt der Aufklärung. (Primat des Könnens vor Stand, Ausmerzung des überbordenden Fremdwortgebrauchs, Ideal der sprachlichen Transparenz, Fürstenbildung etc.). Zwei der Hauptvertreter der französischen Klassik, Moliere und Corneille, lebten bereits, als Schwarz wirkte, als ihre Werke (zugegeben ein Dutzend Jahre zu spät) erschienen, war auch Racine geboren und Corneille mit ersten Stücken hervorgetreten. Es bereiteten sich also die Dinge vor, die Gottsched ein Jahrhundert später in Deutschland propagierte.
Man erwiese der Autorin einen Bärendienst, wenn man sie uns derart fernrückte, dass sie gerade noch den SpezialistInnen der Frühneuzeit- und Barockforschung erschließbar wäre. Selbst die Aufnahme in Lexika für „galante“ oder „gelehrte“ Frauen ist für Birnstiel bereits eine unangemessene Verzeichnung der Dichterin. Wer wie Birnstiel feinsinnig Einwände zu erheben weiß, dass Schwarz in einem solchen Werk auftaucht, dem wird es ebenfalls nicht schwerfallen, auch in seiner Bezeichnung der Dichterin als Teenagerin (47) oder Meisterschülerin ahistorische Projektionen zu wittern. (48)
1 Wenn ich über Bias schreibe, muss ich hier zuerst anzuzeigen, dass ich aus einer bestimmten Position schreibe. Als Verleger war ich erstens damit beschäftigt, alle Fassungen der entstehenden Schwarz-Ausgabe in mehrfachen Durchgängen zu durchlaufen. Daneben gehört es zu meiner Arbeit, die öffentliche Wahrnehmung der Dichterin zu verfolgen.
Dabei beobachtete ich, dass ihre Texte zwar oft warmherzig aufgenommen wurden, hin und wieder begegne ich aber auch eher reservierten Haltungen, die bis zu kaum verhehlter Missbilligung reichen können. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Literatur auf ein geteiltes Echo trifft. Warum sollte das bei Sibylla Schwarz anders sein? Wenn jedoch gezeigt würde, dass bestimmte Lektüren sich in Voreinstellungen verstrickten, die von der bisherigen Wahrnehmung nahegelegt oder vorbereitet wurden, könnte man der Dichterin dennoch einen Dienst erweisen.
Es schickt sich für mich als Verleger nicht, etwa missliebige Rezensionen anzugreifen. Ebenso möchte ich hier natürlich nicht in den Verdacht geraten, Belobigungskartelle zu errichten. Die zahlreichen Rezensionen, die sich auf die Sibylla Schwarz-Ausgaben unseres Verlages beziehen, müssen hier also ausgespart bleiben.
Aus der gewählten Themenstellung ergibt sich, dass ich vor allem LiteraturwissenschaftlerInnen bei ihrer Rezeption beobachte. LiteraturliebhaberInnen oder genuine JournalistInnen schreiben zwar gewiss nicht ohne-, sind jedoch zumindest weniger belastet von tradierten Vorurteilen.
Ich gehöre zu den wenigen, die über den Wissensstand des abschließenden 2. Bandes der durch Michael Gratz besorgten Gesamtausgabe der Schwarz-Werke bereits verfügen. Da ich weder mit meinem „Geheimwissen“ prahlen noch der Ausgabe vorgreifen möchte, verzichte ich (bis auf wenige jeweils dort angezeigte Ausnahmen) auf den Rückgriff auf Informationen, die ich nur dort finden konnte.
Besonders bedanken möchte ich mich bei dem Mönchengladbacher Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ralf Gnosa, der als hartnäckiger und kenntnisreicher Diskussionspartner mit seinen kritischen Nachfragen viel zu diesem Essay beitrug. Besonders seine genaue Kenntnis der Lebensläufe der TeilnehmerInnen des barocken Literaturbetriebs kam diesem Aufsatz sehr zugute.
2 Selbst nach der Durchforstung von Literaturdatenbanken könnte jedes Mal eine lokale oder aus einem anderen Gebiet stammende (etwa eine theologische) Textstelle als Vorläufer gemutmaßt werden.
3 Weitere Indizien finden sich im Kapitel „Haushalt“.
4 Sibylla Schwarz, Werke, Briefe, Dokumente 2, Taschenbuch, S. 182.
5 L.H. Fischer, „Gedichte Des Königsberger Dichterkreises Aus Heinrich Alberts Arien Und Musicalischer Kürbshütte (1638-1650)“ Niemeyer, Halle 1883, S.14.
6 Die Dichter waren ja teils schon in Königsberg und publizierten und wussten voneinander, bevor sich die Kürbishütte informell konstituierte. Heinrich Albert besaß auch seinen berühmten Garten bereits.
7 Dessen erste Frau wiederum die Tochter des Dichters Jakob Fabricius ist, der heute noch durch seinen Choral „Verzage nicht du Häuflein Klein“ lebendig ist.
8 Ob sie die Hochschullehrer Friedrich und Jakob Gerschow kannte, die beide in Holland waren, wissen wir nicht. Zu dieser Namensreihe vgl. „Ältere Universitätsmatrikeln 2 Universität Greifswald, Hg Dr. Ernst Friedländer Publikationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven“, Band 52, Hirzel Leipzig 1893.
9 Auf den sie sich namentlich bezieht, bevor seine Poetik noch publiziert war.
10 Vgl.: Christian von Bar, D. Effertz, Peter Dopffel „Deutsches internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert“, 1995.
11 Mir ist in der aktuellen Fachliteratur kein Text bekannt, der global den anlassbezogenen Texten der Dichterin die künstlerische Eigenständigkeit abspricht. (Die Wissenschaft hat übrigens herausgefunden, dass Germanisten, deren Nachname mit dem Anfangsbuchstaben J beginnt, besonders zu Vorurteilen neigen.)
12 Opitz selbst nahm nur vergleichsweise spärlich Gelegenheitsgedichte in seinen gedruckten Ausgaben auf und äußerte sich distanziert zu solchen Formen.
13 Opitz und Schwarz haben den Alexandriner nie für den schlechthin geeignetsten deutschen Vers gehalten, sondern nur als für bestimmte Gelegenheiten angemessen betrachtet, Jabłecki wird sich auch nicht selbst meinen, wie seine Ausführungen nahelegen.
14 Natürlich kann man sich eine Zählweise ausdenken, die zu diesem erwünschten Ergebnis führt, indem man z.B. unter Fortlassung der aus gemischten Gattungen bestehenden größeren Formen die Lieder und Alexandrinertexte einfach abzählt. Zahlenmäßig haben die Alexandrinertexte dann ein leichtes Übergewicht. Was den Liedern aber an Menge fehlt, machen sie an Länge wett. Und man versteht das sofort, wenn man bedenkt, dass zu den Alexandrinertexten nicht nur die Epigramme zählen, sondern dass Gerlach auch Fragmente bis hinab zu zweizeiligen Sentenzen als Einzeltexte aufnimmt.
15 Jhres Landesfürsten Tod / an M. S. G. als Er Sie in einem überschickten Gedichte die zehende Musen genennet. - https://www.zgedichte.de/gedichte/sibylla-schwarz/auf-ihres-landesfuersten-tod-an-m-s-g.html
16 Und man sage nicht, er sei eben der erste und hätte damit niemanden zu nennen: Im „Buch von der Poeterey“ stellt er ja reichlich Bezüge zu Vorgängern her.
17 Auch die Meistersingvereine werkeln ja weiter ihren Stiefel herunter.
18 Natürlich war Sibylla Schwarz nicht wie diese genötigt, sich im einsamen Kämmerlein dichterisch zu entwickeln, sondern konnte dies im Gespräch mit Ratgebern und Freunden – wie wir das normaler Weise auch bei jeder anderen Dichterin vermuten dürfen.
19 Und ist damit wiederum nicht der erste. Auch bei Theobald Hoeck gibt es schon saubere Jamben. Paul Rebhuhn baut ebenfalls unter Berücksichtigung des Wortakzents seine Dramen. (Seine „Susanna“, „Hochzeit zu Cana“.) Ihm folgen Johannes Tyrolff und andere. Johannes Carl Leo Cholevius „Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen“ 1854, S. 360.
20 Achim Aurnhammer, „Neues vom alten Ernst Schwabe von der Heyde, Drei Sonette auf die Krönung des Kaisers Matthias (1612)“, Daphnis 31 (2002).
21 Achim Aurnhammer: „Henrich Hudemanns Jonas-Epos (1625)“ in Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Der problematische Prophet: die biblische Jona-Figur in Exegese, Theologie, Literatur und Bildender Kunst. Berlin: de Gruyter, 2011.
22 Von Weckerlin zu schweigen, man lese bei den einschlägigen Spezialisten nach.
23 Zu seiner letztendlichen Aufnahme müssen sich erst Diederich von dem Werden und Friedrich von Schilling ins Zeug legen.
24 Horst J. Frank erstellt für sein „Handbuch der Strophenformen“ (Franke, Tübingen und Basel 1993) Statistiken: 6/7 der Beispiele für diese Form stammen danach aus dem 17. Jahrhundert.
25 Dieser ist in der Literatur überdies einschlägig für die etwas esoterische Norm, lateinische Lehnwörter konform der antiken Metrik zu verbauen.
26 Und dies bleibt natürlich nicht der einzige Unterschied zu Opitz: Adam Bythner bemüht sich zum Beispiel auch um das elegische Distichon in deutscher Sprache, das Opitz meinte, durch das Alexandrinerpaar entbehrlich gemacht zu haben.
27 Georg Daniel Coschwitz, der Vater des gleichnamigen späteren Leibarztes von Bogislav von Croy, den Sibylla Schwarz bedichtet und der ihr ein Ehrengedicht verfasst hatte, kümmert sich um die Drucklegung. Vgl. Veronika Marschall, Robert Seidel, „Martin Opitz, lateinische Werke“, Band 3. De Gruyter 2015, S. 566.
28 Wenn Titz Plavius mit dieser Form in Stellung bringt, dann ist diese keineswegs neu. Bekannt sind „Lobe mit Zimbeln, der ob allen Himmeln“ (von Clajus) oder „Lobet den Herrn und dankt ihm seine Gaben“ (von Ringwaldt, das heute noch im Gesangbuch steht). Neu ist bei Plavius die säkulare Verwendung der Strophenform für Kasualpoesie. (Dies sei ausdrücklich betont, insofern einige Literaturgeschichten des Barocks dieses Strophenmodell oft als nachopitzsche Weiterentwicklung seines Programms behandelt. Das gilt aber bestenfalls hier biografisch von Titz selber, der im kühlen norddeutschen Opitzstil beginnt und in Danzig dann anderen Ansätzen begegnet.) Zeesen und Harsdörffer folgen ihm. In dieser Zeit entsteht, (neben Arbeiten von Zeesen und Harsdörffer in dieser Form) auch Apelles von Löwensterns lange vielgesungenes Lied „Christ, Du Beistand Deiner Kreuzgemeine“, die heute bekannten Abendmalslieder “Dank sei Dir Vater für das ewge Leben“ und „Des sollt ihr Jesu Jünger nie vergessen“ fußen auf diesem Modell.
29 Außerdem werden für die Literatur dieser Zeit noch Daniel Schellwig und Andreas Tscherning (zumindest letzteren rechnet die Literatur gleichwohl dem Danziger Opitzlager zu) als Verfasser von Texten dieser Form genannt, was ich nicht prüfen konnte.
30 Auch über Andreas findet sich dieser Hinweis in der Literatur.
31 Dieser Vergleich wird manchem äußerst hinkend vorkommen: Wer von Nahem schaut, sieht die Unterschiede zwischen den drei Letztgenannten sofort. Es würden natürlich auch die Unterschiede zwischen Opitz und Schwarz bei näherem Hinsehen sofort offenkundig werden, wenn uns nicht die Dinge so ins Auge stächen, die uns der literaturgeschichtlichen Entrücktheit halber gemeinsam an ihnen fern liegen. Wir sind, was diese beiden betrifft, oft wohl eher in der Rolle jener jungen LiteraturinstiutsstudentInnen, die bei einem George-Gedicht abwinkten: „Das ist doch schon wieder sowas wie dieser Hölderlin letzte Woche“. Natürlich hatten sie auf ihre Weise recht mit der Beobachtung. Der hohe Ton, der scheinbar in die Abstraktion zielt, die ewigkeitlich objektivierende Sprecherposition, die ausgeprägte Rhythmik etc. machten ihnen diese Dichter ähnlich, während den gewohnheitsmäßigen LeserInnen älterer Verse solche Gemeinsamkeiten der Mittel anders als beim barocken Gestus kaum noch ins Auge fallen.
32 Dass es mit der Religiosität der Dichterin wohl nicht so weit her war, wie in der Fachliteratur oft nahegelegt, dafür argumentiert Michael Gratz anhand zeitgenössischer Quellen im Band Zwei der Ausgabe.
33 Da sein Aufsatz nicht in einem entlegenen Fachjournal erschien, sondern seine Ausgabe beschließt, hat dieser Text eine breitere Wirkung ausgeübt und ich bespreche seine Position deshalb hier ausführlicher.
34 Welt vom 20.2.2020.
35 Im oben genannten Weltartikel, scheint er weiteren Spekulationen nicht abgeneigt: „Vielleicht auch deshalb musste er nicht nur den Tod der Verfasserin, sondern auch noch das Ableben ihres Vaters abwarten, bevor die Ausgabe unternommen werden konnte.“
36 … indem er im Beginn der zweiten Vorrede eine Art Distanznahme Gerlachs sieht: „HJerbey hast du / unserm / in dem Ersten Teil getahnen / Versprechen nach / auch den Andern Teil der etc. Seel. Jungfer Sibyllen Schwärzin Deutscher Poëtischer Gedichten / wie solche so wohl / als die im Ersten Teil / auß Jhren / vohn der Vohrnehmen und Ansehlichen Freundschaft auf gebührlich Ansuchen / überschikten Handschriften / getreulich abgeschriben / und dem Druk untergeben/ dabey du ganz Dienstfreundlich angelanget wirst / du das jenige / so dihr dahrinnen nicht gefält / teils Jhren noch sehr Jungen und schwachen Jahren / teils Jhrem Weiblichen Geschlecht / teils auch den lustigen Einfällen / und der / Poëtischen Geistern zimlich=zugelassenen / Freiheit / wohlmeynend zuschreiben / und also / deinem Christentuhm gemäß / alles zuhm besten deuten wollest “ ( Siehe: „Polyhistorismus und Buntschriftstellerei, Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit“ Berlin 2012, S. 130).
37 Der Auszug aus dem ersten Schwarzbrief, den Gerlach überliefert beginnt: „Jüngstgemachtes / wohlbeneustes und schlechtes Gedichte hab ich selbst mit eigner Hand geschrieben / die Aufschrifft aber nicht darauf gemacht.“ Siehe: Women’s Writing and Writing Women in the Seventeenth Century: “An Examination of the Works of Sibylle Schwarz and Susanne Elisabeth Zeidler” by Angela Dionne Ferguson, (Dissertation) The University of Texas at Austin, December 2013.
38 Es mag sich bei diesem M.Z. übrigens nicht um einen Magister Z sondern vielleicht um Martin Zeiller gehandelt haben. Er wird in der zeitgenössischen Literatur als Herr Martin Zeiller angeredet, auf den Titelblättern einiger Veröffentlichungen zeichnet er als M.Z. (z.B. „Intinirarii gemaniae Nov.-antiquae Compendium“ 1662) Sibylla redete von ihm also nicht anders als er es gewohnt wäre. Die von Zacharias Hermann 1683 postum aus dem Briefnachlass des Gelehrten herausgegebene „Epistolische Schatzkammer aus siebenhundertundsechs Sendschreiben“ zeigt sich genau über Pommern informiert und belegt so rege Kontakte des Gelehrten in diese Region. Durch seinen Aufenthalt in Wittenberg und Nürnberg bietet er sich auf der Suche nach einem Vermittler neuerer Poesie zwanglos an. Nachweislich war der ebenfalls vielgereiste Hauslehrer mit Gerlach gut bekannt, Gerlach schreibt z.B. ein Widmungsgedicht für dessen „Handbuch von allerley nützlichen Erinnerungen …“, 1655. Von ihm lässt sich auch eine Linie nach Altdorf ziehen, wo der erste Nachdruck eines Schwarz-Gedichtes stattfindet: „Zeiller“ bezog 1628 „mit seinen 2 Schützlingen“ die dortige Universität. (siehe: Walter Brunner „Martin Zeiller, 1581- 1661 ein Gelehrtenleben“, Steiermärkisches Landesarchiv 1989) Der Onkel von Joachim von Sandrart, der den Kupferstich von Sibylla stach, schuf die grafischen Vorlagen für Zeiller (und war wiederum bis 1637 Hauslehrer des großen Bruders von Sibylle Merian, siehe „Daniela Nieden „Matthäus Merian der Jüngere (1621-1687)“ Göttingen 2002).
39 Zumindest hätte man die Beweggründe für Gerlachs Schachzug argumentieren müssen, uns in Bezug auf Manuskripteingang oder wünschenswerte Anordnung anzuflunkern. Dies wäre aber wohl kaum möglich, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, eine Spekulation durch ein weitere abzusichern.
40 Selbst die bekannten Druckfehler werden perpetuiert, indem die von Gerlach gegebene Druckfehlerliste nicht eingearbeitet, sondern außen vor gelassen wird. Mir leuchtet es nicht ganz ein, hier wiederum somit Gerlachs Intentionen zu übergehen, deren Bedeutung Birnstiel gerade herausgestrichen hatte.
41 „Nun dürffte Momus wohl von disem binden sagen“, dass diese Überlegungen hier vielleicht sehr pro domo vom Herausgeber der Konkurrenzausgabe gesprochen sind, dies verliehe ihnen ungebührlich etwas Willkürliches, das ihnen nicht eignet: Eben weil es so ist, haben wir uns ja zu einem andersartigen Vorgehen entschlossen.
42 Und auch heute noch greifen Dichter, z.B. Michel Houellebecq, prominent auf ihn zurück.
43 Solche Basics stehen in merklichem Widerspruch zur Tatsache, dass er sich eigentlich, ausweislich unkommentiert verwendeter Fremdworte wie Prosopopeia, Missive und Supplication, offenbar an eine vorgebildete LeserInnenschaft wendet? Auch die Übersetzung der im Buch abgedruckten Widmungsgedichte hätte sicherlich den Wert der Ausgabe für den im Neulatein weniger kundigen Leser erhöht.
44 … die er nicht selbst vertritt.
45 Während etwa das Nachwort Gudrun Weilands in ihrer dennoch empfehlenswerten Auswahlausgabe „Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden“ hier und da alten Ballast mitschleppt.
46 Zumal wenn er seiner Autorität auch noch die „profilierteste Sibylla- Schwarz-Forscherin“ (Einschätzung: Klaus Birnstiel) an die Seite stellt.
47 Welt vom 24.2. Und man wende nicht ein, dass in Zeitungen Verkürzung erforderlich sei, das gilt noch mehr für Buchtitel. Ein frühes Erwachsenwerden entspricht der Zeit: Sibylla soll mit 17 den väterlichen Haushalt führen, ihre zwei Jahre jüngere Freundin geht zur Heirat nach Stralsund. Die Entwicklungsfreiräume Kindheit und Jugend sind noch nicht etabliert: „Nach unserem Verständnis wird Kindheit ‚als besonderer sozialer Status wahrgenommen und als Freiraum begriffen‘, ein Freiraum, den eine Gesellschaft ihren körperlich, geistig und seelisch noch nicht voll entwickelten Individuen gewährt und in dem sie spielend und lernend Erfahrungen sammeln sollen und können mit dem Ziel, später eine eigenständige Rolle im jeweiligen sozialen Bezugsrahmen wahrzunehmen. Dieser Freiraum wird geschaffen, er wird institutionell organisiert … Aber dieses Verständnis von Kindheit ist historisch betrachtet noch recht jung. Erst seit dem 17. Jahrhundert hat sich diese Betrachtungsweise und diese Einschätzung kindlicher Existenz angebahnt, und etwa ab dieser Zeit spricht man von der ‚Entdeckung der Kindheit‘.“ Bernd Heinmüller „Die mehrfache Entdeckung der Kindheit“ in Jugend/Beruf/Gesellschaft, Berichte und Informationen der BAG/JAW, Bonn, Heft 3/94.
48 Es ist ja möglich, dass die frühneuhochdeutsche Germanistik einen legitimen Profilierungsbedarf im Konzert der Fächer hat, es mag taktisch sogar klug sein, diesen mithilfe von Sibylla Schwarz zu befriedigen; wo man sie selber für diesen Zweck vereinnahmt, möchte man sich aber vielleicht nicht als denjenigen inszenieren, der die Dichterin tapfer vor solcher Vereinnahmung beschützt.