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Anne Carson: Decreation

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Dirk Uwe Hansen

alles soll gewagt werden


Anne Carsons „Decreation“ ist ein Buch, über das man ein Buch schreiben sollte. Ein Buch, das zugleich eines über das Gesamtwerk dieser in Deutschland noch immer viel zu wenig gelesenen Dichterin (und Philologin und Übersetzerin und Essayistin) werden müsste – falls also jemand auf der Suche nach einem Dissertationsprojekt diese Besprechung liest ...
Ein Kapitel des Buches, das dann hoffentlich dazu führen wird, dass Carson die ihr gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird (ja, ich gebe gern zu, dass Carson spätestens seit ihrer Sapphoübersetzung „If not, Winter“ zu meinen literarischen Heldinnen gehört,) wäre dann sicher der enormen Vielfalt literarischer Formen gewidmet, die diese Autorin souverän beherrscht. Gedichte, Essays und Dramatisches finden sich in „Decreation“ versammelt, darunter auch Texte, die zum Teil schon andernorts veröffentlicht sind (was die deutsche Ausgabe unverständlicherweise verschweigt), hier aber eine neue Einheit dadurch bilden, dass Texte unterschiedlicher Art einander nicht nur ergänzen und dieselben Themen umspielen, sondern sich miteinander verzahnen als gäbe es keine Grenzen zwischen den Textsorten. So findet sich der Schlaf als Moment des Innehaltens, als Pause, nach der es verschiedene Arten des Weitermachens gibt, immer wieder in den Gedichten, die den Anfang des Bandes machen („Stationen“), wird dann als Thema des folgenden Essays („Jedes Abgehen ein Anfang. Ein Lob des Schlafs“) aufgenommen, der wiederum mit einem Gedicht („Ode an den Schlaf“) endet, das die „Schlussfolgerungen“ zu diesem Essay darlegt. Aber mehr noch: Ist es in den „Stationen“ immer wieder die pflegebedürftige Mutter (auch dieses Motiv verdient sicher ein Kapitel in dem Buch, das zu schreiben wäre), um die die Gedichte kreisen, so beginnt und endet „Jedes Abgehen ein Anfang“ mit dem demenzkranken Vater.

„ ...
Ohne die große schwarze Küche und die Kochstelle wo
du dir Bröckchen
aus den Armen und Beinen deines Vaters schnappst
nur um zu sehen wie sie einen Satz bilden
der dich – von Freude übermannt weinst du – retten wird
wenn du dich an ihn erinnern kannst
... “

Noch mehr solcher Verzahnungen lassen sich für die Texte des Bandes finden; es lohnt sich, ihren Spuren nachzugehen.

Natürlich wäre ein Buch über Anne Carson unvollständig, enthielte es nicht auch ein Kapitel über Carson und die griechische Literatur. Homer, Sappho und Longinus, der Autor des Traktates „Über das Erhabene“, sind die drei Autoren, mit denen Carson sich in „Decreation“ immer wieder auseinandersetzt. Ihr Umgang mit diesen Autoren ist dabei so souverän wie ihr Umgang mit den verschiedenen Textsorten: Vertraut, ohne je vertraulich zu werden, und frei von jedem gelehrten Auftrumpfen, schildert sie, wie Homer seinen Figuren verschiedene Arten des Schlafes zuschreibt, deutet Sapphos berühmtes Fragment 31 neu und im Kontext der Suche dreier Frauen (Sappho, Marguerite Porete und Simone Weil) nach dem Göttlichen oder beschreibt mit geradezu komplizenhafter Hellsichtigkeit Longinus‘ Arbeitsweise.
Doch Carsons Kosmos ist noch größer und umfasst neben der Literatur (ein Kapitel über Carson und Virginia Woolf wäre auch möglich) auch den Film und die bildende Kunst. Auf der Suche nach der paradoxen Gleichung von Erhabenheit und Selbstauflösung, die die Texte von „Decreation“ durchzieht gelingt es ihr dabei, Longinus und Antonioni zusammenzubringen – wieder in einem reflektierenden und einem erzählenden, Rhapsodie genannten, Text, gefolgt von einem Zyklus von Gedichten („Schaum (Essay mit Rhapsodie). Vom Erhabenen bei Longinus und Antonioni“).

MIA MOGLIE (LONGINUS‘ ROTE WÜSTE)

Eine Frau, ins Netz gegangen – an so was wollen Filme glauben.

„Zum Beispiel Sappho“, wie Longinus sagt.

grüner

Mit dem Netz in ihrem Inneren hat sie auch irgendwie das Erhabene in sich.

„Als könnten sich diese verbinden zu einem Körper.“

als

Ihr Körper vibriert, ihr ist immer kalt, da ist so ein mechanisches Geräusch,

kalt, ihr ist auch heiß, sie hat sich ein Thermometer

Gras

unter den Arm gesteckt und vergessen, sie dreht sich an der Wand, schimmert,

entgeistert: deine Beute. „Wundert dich das nicht?“

und

Wie in einem Windstoß kauert sie sich beim Sex an den Körper des Mannes.

„Denn sie hat Angst.“

tot


Es gäbe noch mehr zu loben. Etwa das titelgebende Kapitel „Decreation“, in dem Carson zunächst in den vier Teilen eines dreiteiligen Essays Sapphos Fragment 31 ausgerechnet von der letzten bei Longinus überlieferten Zeile „Aber alles soll gewagt werden, weil sogar eine Person in Armut...“ (deren Echtheit in der Forschung – vorsichtig formuliert – stark umstritten ist) neu deutet und es dann, als Beschreibung der Liebe als eine spirituelle Form der Selbstaufgabe im „rotierenden Dreieck“ in eine Reihe stellt mit den Schriften von  Marguerite Porete und Simone Weil. Es schließt sich ein Opernlibretto, ebenfalls mit dem Titel „Decreation“, an, das dieses Thema erneut durchspielt, diesmal aber ausgehend von dem bei Homer beschriebenen Liebesdreieck Aphrodite – Ares – Hephaistos, in dessen späteren Teilen Porete und Weil ein Stimme gegeben wird, die zumindest Porete lange versagt geblieben ist. Ein Wagnis ist dieses Kapitel in der Tat, eines, das zu einem meisterhaften Ergebnis führt.
Meisterhaft (ich kann es nicht anders sagen) ist auch die Übersetzung Anja Utlers. Utler ist dabei zugleich demütig der Vorlage gegenüber und, wo es nötig ist, wagemutig genug um dem amerikanischen Original eine deutsche Entsprechung zu geben, die sich, wie Carsons Text auch, durch einen sehr persönlichen, dabei aber stets präzisen und immer unprätentiösen Ton auszeichnet. Es ist schade, dass nicht wenigstens die Gedichte des Bandes zweisprachig abgedruckt werden (seltsamerweise werden in den Anmerkungen die von Carson zitierten Gedichte im englischen Original angegeben, nicht aber Carsons eigene). Hier zwei Strophen aus „IN KOPENHAGEN IM KREIS SCHWIMMEND“ als Kostprobe:


The palace thief, the palace thief

overturned his dear ones leaf by leaf.

For his eyes loved faint things.


Dark swallow you.


The palace vices, the palace vices

are obvious as salt prices.

Poor blue boys went looking for a stark market.


Dark swallow you do.


Im Palast der Dieb, im Palast der Dieb

bringt alle ins Kippen, die er liebt.

Denn seine Augen schätzen das Schwache.


Schwalbenschwanz wirst.


Des Palastes Laster, des Palastes Laster

fallen ins Auge wie von Latten ein Klafter.

Arm Hänschen sucht nach dem starken Markt.


Schwalbenschwanz wirst du.


Ein großartiges Buch in großartiger Übersetzung also, doch eines stört: Carson zitiert natürlich die griechischen Autoren in eigener Übersetzung und fügt sie so elegant in ihren Text ein. Die deutsche Fassung greift an diesen Stellen auf bereits vorliegende Übersetzungen zurück; und dadurch entsteht ein schiefer Ton - „So there he lay much-enduring goodly Odysseus“ klingt dem englischsprachigen Leser sicher vertrauter als Steinmanns „Also schlummerte dort der viel erduldende, hehre Odysseus“ uns. Häufig ändert Utler daher den Wortlaut dieser Übersetzungen „mit Blick auf den englischen Text“ (und sie tut gut daran: Man lese nur nach, wie es ihr gelingt im Rückgriff auf Carsons Übersetzung Andrea Bagordos Wiedergabe der zweiten und dritten Strophe von Sapphos Liebesgedicht ihre ursprünglichen Schönheit wiederzugeben!) Für eine zweite Auflage von „Decreation“ wünsche ich mir daher, dass wir die zitierten Autoren in Utlers Übersetzung der carsonschen Übersetzung zu lesen bekommen (sollte dafür eine Interlinearversion der griechischen Texte hilfreich sein, würde ich sie gern zur Verfügung stellen...).



Anne Carson: Decreation. Gedichte, Oper, Essays. Aus dem Amerikanischen von Anja Utler. Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2014. 252 Seiten. 24,99 Euro.

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