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Andreas Rentz: Entwöhnung

Montags=Text
Foto: Cosima Weiske
Andreas Rentz

Entwöhnung

Liebe Anwesende,

zuallererst möchte ich mich bei euch bedanken, dass ihr, teilweise auch von sehr weit her, vereinzelt sogar aus China, gekommen seid, um gemeinsam mit mir von meinen Eltern Abschied zu nehmen. Es bedeutet mir ungemein viel, dass ihr alle da seid, und ich bin sicher, meine Eltern, wo auch immer sie sind, freut das genauso. Ich habe eine Weile gebraucht, um mir passende Worte für meine Trauerrede zu überlegen. So etwas habe ich ja nie zuvor getan. Bislang hat mich niemand verlassen, das war das erste Mal für mich. Es fiel mir sehr schwer und ich bin bei jedem einzelnen Wort in Tränen ausgebrochen. Es war ein langer Prozess, diese Worte zu finden und zusammenzurücken. Das ist sicher leicht nachzuvollziehen, dass der Schreibprozess durch das ständige Weinen verzögert wird. (Lachen) Meine Online-Recherche brachte mich bei der Suche nach angemessenen Trauerreden nämlich nicht allzu weit; die präsentierten Vorschläge fand ich alle viel zu künstlich. Als wären sie von einem Traueralgorithmus produziert worden. Ich war aber auf der Suche nach was Echtem, was Wahrem, was Natürlichem – nach richtigen Emotionen. Und ich wusste, die nur in mir selbst finden zu können. Die in Worte zu fassen, hat allerdings nicht nur viel Zeit, sondern auch Kraft beansprucht.
        Tja, und nun? Jetzt stehe ich hier, halte meine fertige Rede und kämpfe mit den Tränen. Allerdings habe ich mir fest vorgenommen, sie hier vorzutragen, ohne zu weinen. Ich möchte diese Rede in einem Zug halten. So viel nur vorab. Nun möchte ich über meine Eltern sprechen, oder genauer: über meine Beziehung zu ihnen und die Gefühle, die ich für sie empfunden habe. Meine Eltern hießen Mama und Papa, aber das wisst ihr sicherlich alle. (Lachen) Kennengelernt habe ich sie bei meiner Geburt. (Lachen) Zumindest glaube ich das, denn meine Erinnerungen an meine Geburt sind etwas schwammig. (Lachen) Na ja, und achtzehn Jahre später haben sie mich verlassen. Jetzt bin ich wieder allein.
       Manchmal frage ich mich, ob ich nicht immer schon alleine war. Zumindest in den letzten zwei Jahren habe ich mich das gefragt. Als unser Verhältnis nicht mehr das beste war. Oder zumindest nicht mehr so gut wie früher. Denn das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der wir uns sehr nahestanden. In sehr deutlichen Bildern habe ich vor mir, wie ich mit meinen Eltern im Sommer regelmäßig im Schwimmbad war. Wobei wir, sogar im Sommer, ziemlich oft auch einfach vor dem Fernseher saßen. (Lachen) Aber wir haben dabei immer gemeinsam Familiensendungen angeschaut. (Lachen) Na ja, was wir im Fernsehen gesehen haben, ist sicher nicht so spannend wie das, was wir wirklich gemeinsam erlebt haben. (Lachen) Also wenn wir im Schwimmbad waren, saß ich immer auf einer Badematratze, auf der mich mein Vater durch das Becken trug, ehe er mich dann packte und in hohem Bogen ins Wasser warf. Ich schrie und lachte jedes Mal dabei. Und auch mein Vater lächelte dabei immer auf seine typische Art, wie ich sie immer schon kannte. Ich bin meistens nur mit einem Elternteil ins Wasser gegangen, weil der jeweils andere auf unsere Sachen aufpassen musste. Ich habe beide immer regelrecht angefleht, gemeinsam mit mir ins Wasser zu gehen. Und manchmal ließen sie sich von mir dann dazu hinreißen, die Sachen unbeaufsichtigt zu lassen, und gingen dann tatsächlich mit mir schwimmen. Wenn das geschah, wenn wir zu dritt ins Becken gingen und miteinander spielten, uns hinterherjagten oder mich meine Eltern ins Wasser warfen, war das für mich immer der absolute Höhepunkt als Kind.
        Außerdem erinnere ich mich daran, wie wir jeden Freitag oder Samstag Abend zusammen ein Brettspiel spielten. Meistens habe ich mich durchgesetzt, „Mensch, ärgere dich nicht“ zu spielen, weil mir das am meisten Spaß machte. Ich glaube, dass sich meine Eltern durch dieses doch recht primitive Spiel etwas unterfordert fühlten. Aber sie spielten es trotzdem, weil sie mit mir Zeit verbringen wollten. Ich erinnere mich auch daran, dass ich als Kleinkind immer weinte, wenn ich verloren habe, weshalb meine Eltern mich immer gewinnen ließen. Erst als ich aufs Gymnasium kam, wollte ich das nicht mehr und pochte auf mein Recht, zu verlieren. (Lachen)
        Das war aber nicht alles. Es gibt noch andere schöne Bilder, die mir ständig in meinem Kopf herumspuken. Ich erinnere mich nämlich auch noch, wie meine Mutter mir eine Schüssel mit den Resten der Schokoladencreme vorsetzte, wenn sie Kuchen backte. Die pure Creme durfte ich dann auskratzen. Sie bereitete immer extra viel Schokoladencreme zu, damit genug für den Kuchen da war, aber auch für mich. Den fertigen Kuchen aß dann auch meistens ich. (Lachen) Manchmal habe ich mein Gesicht direkt in den Topf  gesteckt und ihn ohne Löffel ausgeschleckt. Meine Mutter lachte dann immer über die vielen Schokoladenflecken in meinem Gesicht, die sie mir dann abwischte … Oder Moment. Nein, ganz so war das nicht. Sie hat mir nicht das Gesicht geputzt. Das war ich selbst. Ich glaube, sie hat dabei überhaupt nicht mit mir kommuniziert, wenn ich den Topf ausgekratzt habe. Das war eher so eine stille Freude, die wir miteinander teilten. Also sie gab mir den Topf … Oder vielmehr: Sie überließ mir den Topf. Ich nahm ihn mir einfach. Und dann hat sie sich darüber gefreut, dass ich mich darüber gefreut habe. Glaube ich zumindest. Oder … Oder Moment: Ist das überhaupt so passiert? Ist das wirklich meine Erinnerung? Oder stammt diese Erinnerung nicht doch aus einer Fernsehsendung meiner Kindheit? Oder war das mit dem Schwimmbad aus dem Fernsehen? Oder das alles? Ich bin mir gerade nicht mehr so sicher …
           Na ja, ist ja auch egal. Also, worauf ich hinaus will: Ich hatte als Kind ein verdammt gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Ich hatte sie ausgesprochen lieb. Und ich war mir sicher, dass sie mich auch lieb hatten. Nur änderte sich unser Verhältnis auf eine Weise, dass ich daran zu zweifeln begann, ob und wie lieb sie mich wirklich hatten. Das klingt nun wirklich dramatisch, aber das war eben so. Ich bin mir auch jetzt noch nicht ganz sicher, ob sie mich wirklich jemals lieb hatten. Gehasst haben sie mich aber auch nicht. Ganz sicher nicht. Und ich sie auch nicht. Niemals.
      Bei meiner Online-Recherche nach gelungenen Trauerreden bin ich manchmal auch in Chatgruppen geraten, in denen sich Profile gegenseitig trösteten, die Verluste zu verkraften hatten. Ich erzählte da auch, wie sich mein Verhältnis zu meinen Eltern verschlechtert hat. Dass sie immer kälter zu mir wurden, dass ich sie nicht wiedererkannte, dass sie nicht mehr dieselben waren, dass ich enttäuscht von ihnen war. Die Profile versendeten immer lächelnde Emojis und versicherten mir, das sei alles ganz normal. Jeder mache das durch, sagten sie. Ich sei zwar schon erwachsen, aber noch jung und verstehe diese Dinge noch nicht ganz. Als Kind erblicke man in seinen Eltern immer Superhelden, sagten sie, die sie ja gar nicht wären. Sie seien ja auch nur Menschen, sagten sie, mit Fehlern und Schwächen. Und wenn man das als Heranwachsender endlich erkennt, wirke das immer desillusionierend und entfremdend. Ich müsse jedoch nur etwas Zeit verstreichen lassen, sagten sie. Dann würde ich verstehen und ein neues, anderes, aber gutes Verhältnis zu meinen Eltern aufbauen. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich es da nicht auch mit Traueralgorithmen zu tun hatte. (Lachen) Einige von ihnen fragten mich direkt, ob meine Eltern mich misshandelt hätten, weil ich so negativ über sie sprach. Ich zweifle ja an vielem, was mich und meine Eltern betrifft, daran, dass sie mich lieb hätten, daran, dass sie mich immer versorgen und beschützen würden, ja manchmal sogar daran, dass sie überhaupt richtige Menschen wären. Aber definitiv zweifle ich nicht daran, dass sie mir niemals wehgetan haben und niemals wehtun würden.
        Manchmal drängt sich mir zwar ein Bild in den Sinn, wie mein Vater mich als Kleinkind schlägt. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das vielleicht nur geträumt habe. Oder im Fernsehen gesehen habe. Aber vielleicht ist das auch wirklich geschehen und hat meinem Vater hernach leid getan. Denn er hat das danach definitiv nie wieder getan. Vielleicht war es nur ein Aussetzer, eine Art Fehler in seiner Eltern-Matrix, wenn ihr versteht. Er hat seinen Irrtum reflektiert, eingesehen und nie mehr wieder körperliche Gewalt angewandt. Meine ganze Kindheit hindurch war er ausgesprochen nett zu mir und lächelte mich die ganze Zeit auf seine typische Weise an. Aber um ehrlich zu sein, habe ich mir in den vergangenen Jahren manchmal sogar gewünscht, meine Eltern würden mich verletzen – nur damit ich sicher sein kann, dass sie nicht so emotional erkaltet wären, wie sie auf mich wirkten. Natürlich hatte ich diesen Wunsch nicht ernsthaft, aber so ein Gedanke ging mir manchmal schon durch den Kopf, wenn ich ehrlich bin.
        Ja, so versandete unser Verhältnis in den letzten zwei Jahren mehr und mehr. Wir redeten nicht mehr miteinander. Ich habe angefangen, mich um mich selbst zu kümmern, mir selbst das Essen zuzubereiten, es alleine in meinem Zimmer zu essen, mich dort selbst zu beschäftigen, alleine fernzusehen oder mich mit Freunden zu treffen, während meine Eltern einfach im Zimmer rumhockten, schwiegen und ihren eigenen Kram machten. Vor einiger Zeit eskalierte die Situation zwischen meinem Vater und mir schließlich. Wir saßen am Küchentisch und ich aß Eintopf. Ich konfrontierte ihn mit meinen Zweifeln und Enttäuschungen. Fragte ihn, ob er mich noch lieb hätte – ohne dass er antwortete. Er saß einfach da und lächelte mich an. Wie er immer lächelte, seit ich ihn kenne.
       Ich verlor die Geduld, fing an zu weinen, zu schreien, auf den Tisch zu hauen, auf ihn zu springen und auf ihn einzuprügeln. Er wehrte sich nicht. Auch nicht, als er vom Stuhl fiel und auf dem Boden aufschlug. Auch dann nicht, als ich mich auf ihn stürzte und an ihm herumzerrte. So lange, bis ich seine Kleidung zerriss, seine Haut durchdrang und mir schließlich meine Hand an diversen Kabeln und Drähten aufkratzte. Als ich mit blutiger Hand erschrocken zurückwich, sah ich nur, wie mein Vater regungslos dalag und aus seinem Bauch ein einziger bunter Kabelsalat herausragte. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Ich verstand nicht, woher dieses Kupfergeflecht auftauchte. Ich erwartete ja Fleisch und Blut. Durch einen Kurzschluss in seiner Magengegend fing er schließlich Feuer, das ihn ganz umfasste. Ich griff nach einem Feuerlöscher und erstickte den Brand in wenigen Minuten. Zurück blieb nur ein Haufen verkohlter Kunststoffe und Metalldrähte. Auch sein ewiges Lächeln, das ich seit meiner Kindheit kannte, war damit verschwunden.
      Was hätte ich nun tun sollen? Ich war verwirrt. Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Erinnerungen, Zukunftsvorstellungen und verschiedene Assoziationen ohne sinnvollen Zusam-menhang. Ich wollte meine Mutter um Rat fragen, die im Wohnzimmer saß. Ich begab mich zu ihr und erntete auf meine Hilfeschreie wie gewohnt nur Schweigen. Aber ich riss mich zusammen und wollte keinen weiteren Streit anfangen. Ich atmete tief durch, setzte mich zu meiner Mutter, nahm ihre Hand und streichelte sie sanft. Da bemerkte ich ihren Ehering, betrachtete ihn genauer und erkannte eine Gravur. Anstelle des erwarteten Ehegelübdes las ich: „Erziehungsroboter Hera 1.5, TÜV-geprüft.“
       Intuitiv ließ ich die Hand meiner Mutter fallen, die wie ein schwerer Stein auf den Tisch prallte und ein lautes Geräusch machte. Ich blickte abwechselnd auf sie und auf das Gesicht meiner Mutter, das mit Mimik sparte wie eh und je. Auf meine Ansprechversuche reagierte sie nicht. Als ich ihre Hand vorsichtig betastete, durchfuhr mein Körper ein einziger Kälteschauer. Woher hatte sie diesen Ring und was hatte er zu bedeuten? Meine Mutter schien eine Berühmtheit zu sein, denn als ich auf meinem Smartphone nach Erziehungsrobotern der Marke Hera recherchierte, stieß ich auf zahllose Bilder und Videos von ihr. Aufnahmen, in denen sie als treu sorgende Hausfrau und Mutter zu sehen war – so wie ich sie auch immer kannte, nur dass sie mit anderen Kindern abgebildet war. Oder auf denen sie auf irgendwelchen Messen präsentiert wurde. Hatte sie ein Doppelleben? Hatte ich Halbgeschwister, von denen ich nichts wusste? Oder war sie nebenberuflich Model? Oder Schauspielerin? Für Werbespots, in denen eine glückliche Familie präsentiert wurde? Online-Videos, auf denen sie zu sehen war, wie irgendwelche Teenager sie anzünden oder in Stücke hauen, haben bei mir einen Schreireflex ausgelöst. Allerdings konnte das nicht meine Mutter gewesen sein. Sie saß ja neben mir. Ich fragte sie, was das Ganze zu bedeuten hätte, doch sie antwortete nicht.
         Mein Vater lag derweil immer noch verkohlt in der Küche, weshalb ich die Polizei rief. Was Besseres fiel mir nicht ein. Ich informierte sie auch über den Ehering meiner Mutter und die Online-Clips, die ich entdeckt habe. Eine elektronische Stimme erklärte mir am Telefon schließlich, es handele sich dabei nicht um ihren Zuständigkeitsbereich, weil ich kein Verbrechen begangen hätte. Erziehungsroboter der Marke Hera schalteten sich nach sechzehn Jahren automatisch ab, hieß es. Mord liege daher keiner vor. Und was ich mit meinem gegenständlichen Besitz anstelle, befinde sich ganz allein in meiner Verantwortung.
    Meine Eltern sind zwar nicht tot, aber weg – und werden nie wieder zurückkehren. Das harmonische Verhältnis, das wir in meiner Kindheit hatten, ebenso wenig. Es fällt mir wirklich schwer, doch bleibt mir nichts anderes übrig, als dieses Schicksal zu akzeptieren, die wundervollen Erinnerungen an meine Eltern und unsere gemeinsame Zeit in meinem Herzen zu bewahren und beide angemessen zu bestatten. Hier auf dem Wertstoffhof. Im Kreis ihrer Angehörigen: Smartphones, Laptops, HD-Fernsehern, Lachkonserven und allen anderen, die ihr euch hier auf meinen Wunsch hin versammelt habt. Für eure Anwesenheit und dafür, dass ihr euch meine Rede geduldig angehört habt, möchte ich euch danken, auch wenn sie manchmal vielleicht etwas kitschig war. (Lachen)


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