Yu-Sheng Tsou: der Schatten in der südwestlichen Ecke
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Yu-Sheng Tsou
奧: der Schatten in der südwestlichen
Ecke
— Notiz
zu Ling Yü
Wir durchschreiten die
Korridore in der Dämmerstunde. // Das Räucherwerk für unsere Ahnen strömt aus den Zimmern / wie verrottete
Seile, verweilt / in der Luft. Die Asche fällt herab: die Zeichen / entfliehen
spurlos
Im Haus aller Dinge. Um ein Ritual zu
vollenden, kehren wir ins Haus aller Dinge zurück. Wegen eines Rituals erinnern
wir uns plötzlich,
dass wir immer noch in dem Haus sind, in dem sich alle Dinge versammeln.
Lebende Dinge, leblose Dinge. Erkennbare Dinge, bald erkennbare Dinge.
Dauerhafte Dinge, z.B. die Griffe eines Werkzeuges. Vergängliche, doch
kraftvolle Dinge, z.B. in schwülen Sommernächten des Südens die große Harmonie, angeführt vom Froschquaken.
Mütterliche Dinge, z.B. die Nacht, die sich am Tage zusammenzieht zum Schatten
in der südwestlichen Ecke unseres Hauses; begrenzt, doch dicht und kompakt. Wir
füttern sie mit Dingen, die auch wir essen werden; sie schluckt diese Dinge
gern und scheidet nicht aus. Sie schluckt die Dinge, die wir ihr geben, und
scheidet niemals aus; wenn sie diese für sie unnötige Nahrung hinunterschluckt, ist sie eine
endlose Einbahnstraße. Somit
verweilt auch der Tod in unserem Haus. Sie sitzt am Tage still in ihrer Ecke,
zieht sich zusammen und dehnt sich aus; das ist ihr Atem. Nachts wird sie
gigantisch, bis wir die Lampe erfanden. Dann starren wir im Lampenschein die
Dinge an, die wir lieben, versichern uns ihrer Unveränderlichkeit; die Dinge,
die wir nicht mehr schätzen, werfen wir in ihre Nacht hinein und vergessen sie.
Am Tage sammeln wir die Dinge, die wir brauchen. Wir sagen, sie öffnet sich nachts, wird zu einer
Zweibahnstraße. Daher nennen wir ihre Nacht das Nähren, Erneuern und Hegen. Wir
nehmen ihr Schwarz; kleben die Asche zusammen, gewinnen aus der
zusammengeklebten Asche das Tuschschwarz, schaffen Zeichen, schreiben; wir
ordnen am Tage ihr Schwarz, ihre Zweibahnstraße. Obwohl in all den
Augenblicken, da wir hinblicken, niemals ein Ding aus ihren zerstreuten kleinen
Teilen zurückgekehrt ist. Wir sehen Lichtstrahlen, auch die Lichtstrahlen
fallen in diese kleinen Schwarzen hinein. Wir sehen die Einbahnstraße der
Dinge. Wir glauben an die Zweibahnstraße der Nacht, an das Nähren und Hegen der
Nacht. Wir ordnen am Tage Ding und Ding und kleine Stücke ihres Schwarzes.
Ihren Rocksaum, ihren Mund, ihren Atem, die Zeichen, die sich an ihr versammeln, die wir nicht geschrieben haben und
schreiben werden.
氧 Sauerstoff, 碳
Kohlenstoff, 氫
Wasserstoff, 氮
Stickstoff. 瓩 Kilowatt.
醯
Acyl, 胺
Amine. 氯 Chlor, 鈾
Uran, 熵
Entropie. Lebende Dinge. Lebende Dinge arbeiten. Lebende Dinge arbeiten,
erfahren und
phantasieren. Lebende Dinge arbeiten, erfahren, phantasieren, desinfizieren
Dinge, schälen Dinge ab und hinterlassen Spuren von Dingen. Im Spiegel /
steht die Dunkelheit früh auf / trägt den ersten Lippenstift auf, wischt ihn
wieder ab / kaum noch Zeit, den ersten Bus zu erreichen / im Theater / setzt
sie sich hin, schminkt sich neu / die Dunkelheit liebt schweres Make-up / ... / kaum noch Zeit zum
Proben. Als ob / alle Dinge / geschehen / und wieder abgewischt werden
Im Haus aller Dinge die Stellen der
Dinge im Gedächtnis behalten; dann die Dinge verschieben, somit einige Dinge
hervorbringen, die Löcher
und Spalten heißen. Gestrichelte Linien hervorbringen, Durchgänge hervorbringen, das untere Ende eines
herabhängenden Seils hervorbringen. Verlorene Dinge hervorbringen, die sich nie
wieder bewegen werden. Stotternde Sätze
hervorbringen.
Die seit dem zwanzigsten Jahrhundert hohlen Punkte hervorbringen, in deren
Poren vielrankige Herzen wachsen。 Das mütterliche Ding hockt in der südwestlichen
Ecke, sich zusammenziehend und ausdehnend, erhalten viele Dinge, die ihr entsprechen
und sie begleiten. Dinge sammeln, Dinge bewahren, Dinge verlieren. Nachts Licht
anzünden, geliebte Dinge anstarren, verworfene Dinge ignorieren.
an einer Ecke / seine Münder öffnend,
Müll / gebiert
stets die Zeit. Vom Anfang ausgehend — dieses Nichts / wurde
konstruiert / zu einem gigantischen Ding
*奧,
die südwestliche Ecke des Raumes ist die Position, wo die die Ahnen
verkörpernde Person 尸 im
Ritual würdevoll sitzen wird. Laozi K. 62: „Der Weg ist die dunkelste,
aber führende Stelle 奧 im Haus aller Dinge."
**Die fett-gedrückten Sätze stammen
aus Gedichten von der taiwanischen Dichterin Ling Yü 零雨
(geb. 1952 in Neu-Taipeh, Taiwan): „Wir durchschreiten die Korridore ...
spurlos", aus ihren dem Ossip Mandelstam gewidmeten Reihengedichten „Wörter
und Zeichen" Nr. 2; Einige Kalküle über die Heimat, 2006. „Im
Spiegel ... wieder abgewischt werden", aus dem Gedichtzyklus „Namen, die
von der Landkarte verschwinden", „Longchang" Nr. 4, über Wang Shourens 王守仁 (1472-1529)
Erleuchtung in Longchang; Namen, die von der Landkarte verschwinden,
1992. „Vom Anfang ausgehend ... einem gigantischen Ding", aus „Ich und
mein Zug und Du" Nr. 5; Ich bin unterwegs zu dir, 2010.
Yu-Sheng
Tsou (geb. 1987 in Ilan, Taiwan) übt derzeit in München
Poesie, beobachtet die Beobachtung des Unbeobachtbaren, promoviert an der LMU
zum Thema der eso-terisch buddhistischen Ritualgedanken. Der Grobe
Kommentar zum Kalender der Größten Entfaltung (Miaoli, 2014) ist sein
Lyrik-Debüt auf Chinesisch, und die sich vereinende deckung (ELIF
Verlag, 2021) sein deutsches Debüt.
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