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Yu-Sheng Tsou: Das Daneben-Sein

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Yu-Sheng Tsou

Das Daneben-Sein


Drei Jahre lang wohnte ich in einer 2er WG mit meinem deutschen Vermieter. Er, schätzte ich, konnte etwa sechzig Jahre alt sein, ledig, kochte selten für sich etwas Warmes zum Abendessen, schlief oft in der Nacht im Wohnzimmer, das ich nie benutzte, ein vor dem Fernseher.

Im zweiten oder dritten Monat des WG-Lebens trafen wir die folgende Vereinbarung: Wenn ich im Begriff war ins Bett zu gehen und ihn vor dem Fernseher schlafen sah, durfte ich ihn ein Mal wecken; dann würde er sich seinem freien Willen nach entscheiden, ob er ins eigene Bett in seinem Schlafzimmer ging. In den ersten Wochen dieser Vereinbarung hatte ich versucht, ihn siezend wachzurufen: „Wachen Sie auf, Herr Zxx!”

Es war aber so wie die Geschichte in der Kauṣītaki Upaniṣad — Ein König führte seine Schüler an einen tief Schlafenden, veranlasste sie, mit all den in den Kanons überlieferten geheimen, wahren Namen des Ichs im Ich ihn wachzurufen: „Ātman! Brahman! Der Strahlende! Pudgala!” Schlafen bleibend reagierte er nicht auf diese heiligen Namen; dann berührte ihn der König ganz sanft an seinem Arm, und er stand auf. „So ist das Geheimnis des Ichs,” so macht die Kauṣītaki Upaniṣad ihre Konklusion.

Daher hatte ich begonnen, zu wagen, ihn leicht am Arm zu berühren, dann wurde er mit schläfrigen Augen wach. Öfter drehte er sich dann auf dem Sofa um, sein Gesicht gegen den Fernseher. Öfter waren die Sendungen in der Tiefnacht Dokumentationsfilme über die Historie. In vielen Nächten schlief mein Vermieter wieder ein inmitten der Schallwellen des Nationalsozialismus, des Anti-Nationalsozialismus und der Reflexion über den Nationalsozialismus. Eine Art Hypnopädie?

*

These 1:
Nie wurden die wichtigsten Worte ausgedrückt; auch wenn sie wohl ein Mal ausgedrückt würden, würden sie sich mit all den anderen Worten vermischen. Sie verfügen über keine strahlende Marke, durch die wir sie unterscheiden können.

Da die wichtigsten Worte nie erschienen sind, genießen wir stets die Freiheiten, uns zu verhalten und uns auszudrücken. Die wichtigsten Worte, die sprachliche Form der groß-geschriebenen Wahrheit, wenn sie existieren würden, wären von ihrer Eigennatur aus Imperativ.

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These 2:
Ein noch lebender Mensch ist, was er/sie nicht ist, und ist nicht, was er/sie ist.

Aus diesem Grund ist ein Mensch imstande, die Intervenierung einer Interpretation zu erfahren, damit er/sie den Sinn entweder hinnimmt oder aufhebt, der er/sie nicht ist.

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These 3:
Ein abgeschlossenes Werk ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist.

Aus diesem Grund ist ein Werk imstande, die Intervenierung einer Interpretation zu tragen, sodass es zahlreiche Male am Ort, wo es ist, als den erscheinenden, einander verdeckenden Sinn betrachtet wird.

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Nach seinem Abschluss ist ein Werk niemals es an sich. Es ist nicht seine Wörter und Sätze, trotzdem sind seine Wörter und Sätze notwendig; damit manche seiner Wörter und Sätze betont werden oder dem Vergessen übergeben werden, erscheint der Sinn gegenüber einem Beobachter — ein Denkbares, welches nie so wichtig ist, dass es zum absoluten Imperativ wird; eine Kette von Wörtern, die weder undenkbar noch nie gegeben ist. Der Sinn erscheint so, wie der Priester in der Messe zuerst gegenüber dem Altar operiert, dann sich umdreht und gegenüber den Anhängern operiert — Er versammelt die weltlichen Dinge, und nichts, woran er handelt, besteht im nicht Weltlichen. Wo ein Werk ist, dort verdecken die Dinge die Dinge —

„Und glaube nicht, daß ich, weil ich von einer Dunkelheit oder Wolke spreche, eine Wolke meine, die aus Dunst geballt ist, wie er in der Luft schwebt, oder eine Dunkelheit, wie sie zur Nachtzeit bei dir zu Hause herrscht, wenn deine Kerze gelöscht ist. Denn eine solche Dunkelheit und Wolke kannst du mit der Vorstellungskraft und dem Verstand selbst am hellsten Sommertag vor deinem geistigen Auge sehen, nicht anders als du dir umgekehrt in der dunkelsten Winternacht ein helles, leuchtendes Licht vorstellen kannst. Solch ein Irrtum sei ferne von dir; so meine ich es nicht. Wenn ich nämlich "Dunkelheit" sage, so meine ich einen Mangel an Wissen; so wie dir alles, was du nicht weißt oder vergessen hast, dunkel erscheint, weil du es nicht mit deinem geistigen Auge siehst. Aus diesem Grund wird die Wolke nicht eine Wolke der Luft, sondern eine Wolke des Nichtwissens genannt” (The Cloud of Unknowing, Kap. 4; ins Deutsche von Wolfgang Riehle, absichtlich abgebrochen.)

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So wie, wenn die Oberfläche eines Tischs auf Augenhöhe [6] betrachtet wird, man das Häufen der Spuren des eigenen Lebens gewahrt. So wie die Geräusche plötzlich zu einer momentanen Versammlung werden, da, auf der Kreuzung, die ich tagtäglich überqueren muss. Zwischen einem Ausdruck und dem anderen bekommt ein Mystiker ein Stimmloses, aus dem er missverstehend ein Unsprechbares herausnehmen wollte. In und auf all den Teilen der Kontingenz wurde ein Werk abgeschlossen, das im nächsten Moment in den Hintergrund der Kontingenz zurückkehrt, wo es sich verbirgt.

Ein Werk, und ein anderes Werk — wenn zwei Löcher auf einer Oberfläche unterschieden werden wollen, besteht eine Methode darin, jeweilige Dinge zu beschreiben, die sie umgeben und damit zu Konturen werden. Sind es die Wörter, die Sätze und die Kette der Phrasen, die an dieses Loch grenzen?

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Woran grenzt ein Werk?

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— An die Kontingenz.

Ein Befehl, der von einem äußerlichen Anderen herkommt, kann ganz einfach die Aktionen, die Gedanken und die Worte eines Menschen in des Fleisches pure Aktionen, pur mentale Aktionen und pure Stimme transformieren.

In dieser Hinsicht sind die Kunst und das Ritual von Religion hoch isomorph. Aufseiten der Kunst bewegt sich die Sicht von Detail zu Detail; sie bewegt nie irgendeinen Teil, trotzdem taucht aus den Details eine Art Kompakte Konfiguration auf. Aufseiten eines religiösen Rituals befiehlt einem der Imperativ, gedankenlos und überlegungslos die Gegenstände zu operieren, bis ein Befehl des Reflektierens als Signal der Vollendung des Rituals gilt, der den Ablauf des Rituals einpackt als ein kompaktes Ereignis am Ende.

Die Kunst und das religiöse Ritual weichen aber vor ihrem Anfang und nach ihrem Ende aufgrund dessen voneinander ab, dass sie unterschiedliche Strategien in Bezug auf die Kontingenz der Welt haben. Das religiöse Ritual verdeckt mit der Notwendigkeit die Kontingenz; es bildet aus der Wirklichkeit das Sosein eines Moments, obwohl es in diesem Sosein noch an der Zukunft mangelt, nach der sich das Ritual sehnt. Deswegen muss sich das Ritual in seiner magischen Denkweise bemühen, zu dem Sosein zu werden, das das Sosein der zu wollenden Zukunft enthält. Dagegen fängt die Kunst mit ihrer Darstellung der Kontingenz an — Die Dinge müssen nicht so geschehen — und wird ein Topos gegenüber der Kontingenz (Ein Topos bedeutet einen bestimmten Ort in der Szenerie); in dieser Hinsicht offenbart an ihrem Ende die Kunst die Position ihrer Künstler*innen innerhalb der Welt: Mindestens im Auge einer Person geschahen die Dinge in dieser Weise.

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— An die Wirklichkeit, die als die Welt an sich verkannt wird.

Die Wirklichkeit: die Kon-ditionen: die Versammlung der anwesenden, gültigen Sätze: der saṃskāra, der etwas Konkretes bedeutet, das aus all dem Machen entsteht. Aus dieser Perspektive sei die Wirklichkeit selbst ein anderes Werk: Die Wirklichkeit sei der Gegenstand der Rhetorik.

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— An die Welt, die als die Wirklichkeit verkannt wird.

Die Welt ist kein Werk, außer wenn sie in ihrem unglücklichen Zustand zu einem Gesamtkunstwerk einer totalitaristischen Macht würde; indem all der mögliche Sinn aus jeglichem Teil geschält würde, würden all die Teile in die Signifikanten transformiert werden, die sich auf jene schälende Macht beziehen würden.

Als Buddha im Narrativ des Vimalakīrti Nirdeśa mit seinem rechten Großzeh die Erde berührte, wodurch er für eine kurze Weile diese Welt in seinen reinen Staat transformierte, und erklärte, dass dieser unsichtbare, reine Staat — er sei unsichtbar gewesen, denn er sei nicht in einer geeigneten Weise beobachtet worden — das Ding sei, das er mit seinen drei Äonen fertiggestellt habe, ist diese Welt in diesem Narrativ so erschienen, dass sie fast ein Gesamtkunstwerk war. Muss ein religiöses Dokument von dieser Art Mythos erzählen, so bekennt es mit dieser Form des Wunschausdrückens, dass diese Welt eigentlich kein Werk ist.

Ist die Welt noch nicht formatiert, ist sie noch nicht denkbar; ist die Welt in einer Formatierung, ist sie nicht mehr eine Welt: Die Welt ist kein Gegenstand, dem man sich annähern kann.

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—An den Menschen, der es beobachtet, und den Menschen, der es gerade abschloss.

Wer ist, was er/sie nicht ist, und nicht ist, was er/sie ist, nähert sich einem Anderen an, das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist; Er/Sie vernimmt manchmal den Imperativ, der nicht ihm/ihr gestellt wurde.

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Pāramitā — Der Mensch ist ein Werk — das Abzuschließende — erreicht das Jenseits all der Daneben-sein-barkeit.


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