Wolfram Malte Fues: Ego reloaded. Das KünstlerInnen-Ich
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Wolfram Malte Fues
Ego reloaded. Das KünstlerInnen-Ich
wird
aktuell bestimmt durch drei Kategorien: zwei affektive und eine spontane.
Begegnet
Ego in seinem engeren oder weiteren gesellschaftlichen Umfeld einer Widrigkeit,
einem Widerspruch, einem Widerstand in einem Diskurs, einer Darstellung, einer
Handlung, die sein Selbstbild und/oder sein Selbstverständnis angreifen, sagt
es (sich) nicht: Das ist eine Herausforderung, die meine psychischen, sozialen,
ökonomischen Ressourcen antastet. Damit muss ich es aufnehmen. Die muss ich
parieren. Hoffentlich habe ich Erfolg. Vielleicht nicht. Aber ich muss es
versuchen. Ego sagt vielmehr: Ich bin verletzt. Was mir geschieht, veranlasst mich
nicht zu reflexiver und/oder praktischer Selbst-Verteidigung, sondern einzig
zur Empfindung unmittelbarer Aggression, deren Schmerz ich ebenso unmittelbar
konstatiere. Daran halte ich (mich) fest. Ego ersetzt demnach die Entgegnung
durch die Betroffenheit, das Argument durch den Vorwurf. An die Stelle der
politischen Konfrontation tritt die moralische Denunziation. Alter (der/die
Andere/n) argumentiert aus der Sicht Egos nicht falsch oder handelt unrichtig oder
verfolgt Absichten, die denjenigen Egos zuwiderlaufen, nein: Alter und seine
Sache sind böse weil verletzend (woraus zwangslos folgt, dass Ego weil verletzt
und seine Sache gut sind). Alter muss seine Bosheit einsehen und einräumen, um
sich Egos Selbstsicht unmittelbar und unbedingt anzuschließen, oder es bleibt
böse.
Soviel zur ersten Kategorie. Nun
zur zweiten. Jedes Ego, das im Kunst/Kultur-Segment heutzutage etwas auf sich
hält, wird irgendwie von irgendwoher von irgendjemandem diskriminiert. (Beispielsweise
neuerdings die Transfrauen von den Lesben.) Discrimen
bedeutet im Lateinischen das
Scheidende, die Scheidelinie, die Scheidewand, zugleich Abstand, Entfernung, Unterschied, aber
auch die Entscheidung und den Entscheidungskampf. Der Begriff
verzeichnet demnach ursprünglich auch unsere
Gegenwarts-Gesellschaft bis ins Detail durchstrukturierende Andersheit, ihre
Bedingung und ihre mögliche Folge. Alter ist nicht identisch mit Ego; dieser
Unterschied gibt Ego den Raum für seine Individualität. Alter erhebt jedoch in
seinem Dasein als Ego denselben Anspruch; das führt unter Umständen gleicher
oder ähnlicher Wünsche und Zielsetzungen zu Interessen-Kollisionen, die in der
Modellierung gesellschaftlicher Allgemeinheit ausgeglichen werden müssen. Gelingt
das nicht, kann es zu Kämpfen kommen und letztendlich zum Entscheidungskampf.
Der lässt sich nur vermeiden, wenn alle betroffenen Individuen die grundsätzliche
Doppelbedeutung von discrimen begreifen
und akzeptieren. Das KünstlerInnen-Ego verlegt sich jedoch je länger je
einseitiger darauf, nur die zweite Seite zu sehen, zu fürchten und anzuklagen. Unterscheidung
gilt a priori mindestens als Anlass zur Unterdrückung. Selbst wenn Alter den Unterschied
zwischen ihm und Ego aus seiner Perspektive nur zu formulieren und zu
artikulieren sucht, wittert Ego darin sofort Herabsetzung, Geringschätzung,
Missachtung, weil Alter das, was Ego eigentlich ist und darstellt, gewiss
verfehlen wird, weil es Ego verkennen, demütigen, erniedrigen will. Auch hier:
Moral tritt an die Stelle der Politik, Bereitschaft zur Gekränktheit an die
Stelle der Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Hier besonders deutlich, denn
wir kommen zur dritten Kategorie
wer oder was ist Ego denn nun
eigentlich? Wer oder was will es sein? Worauf erhebt es Anspruch? Auf
Mich-selbst-Sein. Auf Ich, ganz und gar und völlig einfach. Auf Ich = Ich. Ich
bin wer ich bin (manchmal mit dem Zusatz: Und darauf bin ich stolz). Das will
ich sein. Schlechthin.
Als Moses auf dem Berg Horeb Gott
nach seinem Namen fragt, erhält er in der gängigen deutschen Übersetzung zur
Antwort: Ich bin der ich bin. (II. Buch Mosis, Kap. 3, Vers 14) Allerdings
bedeutet hajah im Hebräischen nicht
nur sein, sondern auch werden, geschehen, sich ereignen, da-sein.
Dieses Ich ist, was es wird, in diesem Werden zugegen und in sich jeder Feststellung
entziehender Offenheit stets gegenwärtig. Die genaueste Übersetzung würde also etwa
lauten: ‚Ich bin der, der da sein wird‘. In der Zeit und über der Zeit.
Wird das KünstlerInnen-Ich, dessen
soziopolitisches Verhalten wir hier beobachten, gefragt: Wer bist du? So
antwortet es jedes Mal: Wer ich bin. Hier und jetzt. Stets so vollkommen einmalig
und unvergleichlich, wie Ich augenblicklich gebraucht wird.
Andernorts mit anderer Formulierung anderen Inhalts, aber in gleicher
Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit. Ich ist überall einzigartiger (eigentlich
einziger) Zeuge seiner Zeit, wie die Zeiten sich auch gestalten und verhalten
mögen. Ich bin, wer zur Stelle sein wird. Jederzeit. Und darauf ist Ego stolz.
Entschieden sehr merkwürdig, dieses
KünstlerInnen-Ich, nicht wahr? Der Anschein verliert sich und nimmt den
Charakter der Notwendigkeit an, wenn man Ego mit den politökonomischen
Bedingungen seiner Existenz in Beziehung setzt.
In der bürgerlichen Gesellschaft
mit noch embryonaler kapitalistischer Ökonomie sind Kunst und Kultur im Rahmen
des bürgerlichen Weltverständnisses nicht nur frei, sondern zur Produktion von
Freiheit geradezu gedrängt. Zur Befreiung von überkommenen Denksystemen und
Verhaltensmustern sowie zur Freisetzung zukünftig notwendiger. In der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bleibt diese Freiheit als Freiraum
erhalten. Seine Existenz hängt zwar nun davon ab, dass die Rechnungen bezahlt
und die Gewinne eingezogen werden, aber wenn diese Bedingungen erfüllt sind,
wird er real. Die Opernhäuser und Konzertsäle der Gründerzeit bezeugen es. In
der sich nach dem Ersten Weltkrieg etablierenden kapitalistisch-bürgerlichen
Gesellschaft werden Kunst und Kultur auf ihre Renditeträchtigkeit geprüft und
die meistversprechenden Teilgebiete dem Waren-Prinzip unterworfen. Adornos
bittere Invektiven gegen die Kulturindustrie bezeugen es. In der mit dem Ende
des Realen Sozialismus beziehungsweise der Systemkonkurrenz anbrechenden kapitalistisch-bürgerlichen
Gesellschaft, in der die beiden konträren Systeme sich nicht mehr bloß aufeinander
beziehen, sondern ineinander verschränken, durchdringt das Waren-Prinzip Kunst
und Kultur bis in die kleinste Zelle. Der Markt-Mechanismus, seine Bedingungen
und seine Dynamik herrschen ohne jede Einschränkung.
Will Ego mit seinen Produkten
seinen Lebensunterhalt bestreiten, muss es sie auf diesem Kunst-Kultur-Markt
gewinnbringend absetzen. Soll Ego das gelingen, muss es sich zuerst auf einem
anderen Markt bewähren, der dem eigentlichen vorausgesetzt, aber einbeschrieben
ist.
Auf dem Kunst-Kultur-Markt nimmt
das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ununterbrochen zu. Während
die Nachfrage allgemein stagniert, allenfalls in einzelnen Bereichen noch hier
und da wächst, erweitert sich das Angebot geradezu exponentiell. Wer also auf
dem Markt Erfolg haben will, muss zuerst dafür sorgen, dass die AgentInnen der
Nachfrage ihn wahrnehmen und beachten. Der Name des allgemeinen Äquivalents,
der Währung, mit der dieser Marktzugang erworben wird, lautet: Aufmerksamkeit.
Sie muss man erregen und gewinnen und erhalten. Und womit erwirbt Ego diese
Aufmerksamkeit? Mit sich. Mit: Ich bin wer ich bin. Und wer bin ich? Eine
unerschöpfliche Quelle überraschender, verblüffender, aufregender, manchmal
sogar schockierender Einfälle, übersprudelnd von Ideen, Visionen, Projekten,
die, mit dem nötigen Kapital versehen, marktbeherrschend würden und mehr als
nur zufrieden stellenden Gewinn abwürfen. Symbolischen ganz gewiss. In gewissen
Grenzen sogar finanziellen. Ich bin, wo ich da sein werde: dort, wo man bereit
ist, von mir Gebrauch zu machen. So wäre ich, so möchte ich sein. So könnte ich
sein, wenn nicht immer irgendwo irgendjemand wäre, der mir in und während
meiner Selbst-Präsentation widerspricht, der ihrer Entfaltung redend und
handelnd Widerstand leistet, so dass ich mich Aggressionen ausgesetzt finde,
die mich verletzen und damit meine Aktionsfähigkeit einschränken. So könnte ich
sein, würde ich im Kampf um Aufmerk-samkeit nicht immer wieder von missgünstigen
KonkurrentInnen diskriminiert, unterdrückt, mit Gegen-Bildern und
Gegen-Projekten beiseite gedrängt, ausgegrenzt. Erst Wahrnehmung und Förderung
durch das nachfragende Kapital wird beides beseitigen und Ego im Vollbesitz
seiner Produktivität zeigen.
Ob jenes Kapital dieses Spiel
durchschaut? Zweifellos. Aber es verschafft ihm die Souveränität über den Markt
und dient somit seinen Interessen. Weshalb sollte es daran irgendetwas ändern?
Ob das KünstlerInnen-Ich dieses Spiel durchschaut? Gewiss oft. Aber welche
Folgerungen soll es daraus ziehen? Den Entschluss zur reflektierenden
Modulation des ‚Ich bin wer ich bin‘? Die Gefahr läuft, sich in den
Spiegelsälen der Selbst-Gestaltung betrachtend und beobachtend zu verlieren und
auf die mitlaufende Frage ‚Wer bin ich denn nun‘ gelassen zu antworten: ‚Wer
ich gewesen sein werde‘? Die das ‚Ich bin wer ich bin‘ in ihren Räumen die
ernsten Spiele der Selbst-Kritik und Selbst-Ironie lehrte, um die damit
entfesselte produktive Einbildungskraft auf das Spiel mit diesen Spielen zu
lenken, also auf Fiktion in allen ihren möglichen Formen? Ego, das sich hierauf
einließe, würfe sich selbst aus dem Rennen und Ringen um Aufmerksamkeit. Es
brächte Verwirrung, Irritation, Störung in die diesen Markt beherrschende
Präsentations-Strenge, die alles bannt, was sich dem Anspruch, authentisch zu
sein, nicht fügt. Es hielte sich und sein Angebot dort zurück, wo es sich
rückhaltlos zu geben hat, es setzte auf ‚suspense‘ statt wie gefordert auf
‚surprise‘.
Ich bin wer ich bin. Jetzt und
hier. Ganz und gar und erschöpfend. Wer ich sein werde? Wer ich bin. Dann und
dort. Ganz und gar und erschöpfend. Völlig derselbe/dieselbe und darin ein
völlig anderer/eine völlig andere. Ein heute vergessenes Buch eines heute
vergessenen Denkers beginnt mit den Worten: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst.“ Als ob ‚Ich bin‘ und ‚Ich habe‘ nicht eins und dasselbe
wären. „Es können Kräfte, von denen die Kunst bedingt ist, aussterben z.B. die
Lust am Lügen, am Undeutlichen Symbolischen usw.“ (Friedrich Nietzsche) Er
könnte Recht bekommen.