William Faulkner: Vers, alt und immerwerdend: Eine Wallfahrt
William Faulkner, der große Romancier, hat auch Lyrik geschrieben - hier sein Essay von 1924 über seinen Zugang zur Poesie, übersetzt von Günter Plessow:
VERSE, OLD AND NASCENT: A PILGRIMAGE
VERS, ALT UND IMMERWERDEND: EINE WALLFAHRT
At the age of sixteen, I discovered Swinburne. Or rather, Swinburne discovered me, springing from some tortured under-growth of my adolescence, like a highwayman, making me his slave. My mental life at that period was so completely and smoothly veneered with surface insincerity—obviously necessary to me at that time, to support intact my personal integrity—that I cannot tell to this day exactly to what depth he stirred me, just how deeply the foot-prints of his passage are left in my mind. It seems to me now that I found him nothing but a flexible vessel into which I might put my own vague emotional shapes without breaking them. It was years later that I found in him much more than bright and bitter sound, more than a satisfying tinsel of blood and death and gold and the inevitable sea. True, I dipped into Shelley and Keats—who doesn’t, at that age?—but they did not move me.
Als ich sechzehn war, entdeckte ich Swinburne.¹ Oder vielmehr: Swinburne entdeckte mich, fuhr aus dem verquälten Unterholz meiner Pubertät wie ein Straßenräuber und machte mich zum Sklaven. Mental war mein Leben zu dieser Zeit so völlig und glatt furniert mit gefälschten Oberflächen—offenbar nötig für mich zu dieser Zeit, um die Integrität meiner persona intakt zu halten—daß ich bis heute nicht genau sagen kann, bis in welche Tiefe er mich beunruhigte, wie tief denn die Fußspuren sind, die er in meinem Inneren hinterlassen hat. Es scheint mir jetzt, daß ich ihn für nichts als einen flexiblen Behälter hielt, in den ich meine eigenen vagen Gefühlsgebilde stecken konnte, ohne daß sie zerbrachen. Es dauerte Jahre, bis ich bei ihm viel mehr fand als hellen und bitteren Klang, mehr als einen befriedigenden Flitterglanz von Blut und Tod und Gold und der unvermeidlichen See. Gewiß, ich nippte von Shelley² und Keats³—wer nicht in diesem Alter—aber sie bewegten mich eben nicht.
I do not think it was assurance so much, merely complacence and a youthful morbidity, which counteracted them and left me cold. I was not interested in verse for verse’s sake then. I read and employed verse, firstly, for the purpose of furthering various philanderings in which I was engaged, secondly, to complete a youthful gesture I was then making, of being “different” in a small town. Later, my interest in fornication waning, I turned in-evitably to verse, finding therein an emotional conterpart far more satisfactory for two reasons: (1) No partner was required (2) It was so much simpler just to close a book, and take a walk. I do not mean by this that I ever found anything sexual in Swinburne: there is no sex in Swinburne. The mathematician, surely; and eroticism just as there is eroticism in form and color and move-ment wherever found. But not that tortured sex in—say—D. H. Lawrence.
Ich denke, es war weniger Gewißheit als bloße Selbstgefälligkeit und eine jugendliche Morbidität, die mich gegen sie einnahmen und mich kalt ließen. Ich war damals nicht interessiert am Vers um des Verses willen. Ich las und verwandte Verse erstens, um verschiedene Liebschaften zu fördern, in die ich verstrickt war, zweitens, um einen ju-gendlichen Gestus zu komplettieren, den ich mir damals zulegte, um „anders“ zu sein in einer kleinen Stadt. Später, als mein Interesse an Hurerei nachließ, war meine Hinwendung zum Vers unvermeidlich, weil ich darin ein emotionales Gegenstück fand, das aus zwei Gründen weit befriedigender war: (1) Ein Partner war nicht erforderlich, (2) es war so viel einfacher, ein Buch einfach zuzuklappen und einen Spaziergang zu machen. Damit meine ich nicht, daß ich je etwas Sexuelles bei Swinburne fand: es gibt keinen Sex bei Swinburne. Den Mathematiker, sicher; und Erotik insofern, als Erotik überall in Form und Farbe und Bewegung zu finden ist. Nicht aber jener gequälte Sex wie—etwa—bei D. H. Lawrence.⁴
It is a time-honored custom to read Omar to one’s mistress as an accompaniment to consummation—a sort of stringèd obligate among the sighs. I found that verse could be employed not only to temporarily blind the spirit to the ungraceful posturings of the flesh, but also to speed inward the whole affair. Ah, women, with their hungry snatching little souls! With a man it is—quite often—art for art’s sake; with a woman it is always art for the artist’s sake.
Es gibt eine Zeit, die den Brauch honoriert, seiner Herzensdame Omar⁵ vorzulesen als Begleitmusik zum Hochgefühl—eine Art Seufzer mit obligatem Saiteninstrument. Ich entdeckte, daß Verse nicht nur eingesetzt werden konnten, um den Geist zeitweilig blind zu machen für die plumpen Posen des Fleisches, sondern auch um die ganze Affaire zu beschleunigen. Ah, Frauen mit ihren hungrig schnappenden kleinen Seelen! Beim Mann ist es—sehr oft—Kunst um der Kunst willen; bei einer Frau ist es immer Kunst um des Künstlers willen.
Whatever it was that I found in Swinburne, it completely sat-isfied me and filled my inner life. I cannot understand now how I could have regarded the others with such dull complacency. Surely, if one be moved at all by Swinburne he must inevitably find in Swinburne’s forerunners some kinship. Perhaps it is that Swinburne, having taken his heritage and elaborated it to the despair of any would-be poet, has coarsened it to tickle the dullest of palates as well as the most discriminating, as used water can be drunk by both hogs and gods.
Was immer ich fand bei Swinburne, es befriedigte mich völlig und füllte mich aus. Heute kann ich nicht verstehen, wie ich die anderen mit so dumpfer Selbstgefälligkeit betrachtet haben kann. Gewiß, wer überhaupt von Swinburne bewegt ist, der muß sich unvermeidlich von Swinburnes Vorläufern angesprochen fühlen. Vielleicht ist es so, daß Swinburne, der sein Erbe übernommen und zur Verzweiflung jedes Möchtegernpoeten bis ins Letzte ausgefeilt hat, es vergröberte, um sowohl den stumpfsten Gaumen zu kitzeln als auch den geschärftesten, so wie schmutziges Wasser von Schweinen und von Göttern getrunken werden kann.
Therefore, I believe I came as near as possible to approaching poetry with an unprejudiced mind. I was subject to the usual proselyting of an elder person, but the strings were pulled so casually as scarcely to influence my point of view. I had no opinions at that time, the opinions I later formed were all factitious and were discarded. I approached Poetry unawed, as if to say; “Now, let’s see what you have.” Having used verse, I would now allow verse to use me if it could.
Deshalb, glaube ich, kam ich einem vorurteilslosen Herangehen an Dichtung so nah wie möglich. Ich wurde wie üblich zum Proselyten eines Älteren, aber die Bande waren so locker, daß sie meine Sichtweise kaum beeinflußten. Meinungen hatte ich zu der Zeit keine, und die Meinungen, die ich später bildete, waren aufgesetzt und von kurzer Dauer. Ich ging unbedenklich an Dichtung heran, so als sagte ich: „Nun laßt mal sehen, was ihr habt;“ als gestattete ich dem Vers, nachdem ich ihn gebraucht hatte, nun, von mir Gebrauch zu machen, wenn er könne.
When the co-ordinated chaos of the war was replaced by the unco-ordinated chaos of peace I took seriously to reading verse. With no background whatever I joined the pack belling loudly after contemporary poets. I could not always tell what it was all about but “This is the stuff,” I told myself, believing, like so many, that if one cried loudly enough to be heard above the din, and so convinced others that one was “in the know,” one would be automatically accoladed. I joined an emotional B.P.O.E.
Als das koordinierte Chaos des Krieges abgelöst wurde durch das unkoordinierte Chaos des Friedens, fand ich ernstlich Gefallen daran, Verse zu lesen. Ohne jedweden Hintergrund gesellte ich mich der Meute zu, die laut nach zeitgenössischen Dichtern kläffte. Nicht immer konnte ich sagen, worum es ging, aber ich sagte mir: „Das ist Sache“ und glaubte wie so viele, daß man, wenn man nur laut genug schrie, um den Lärm zu übertönen, und so andere davon überzeugte, daß man „darum wisse“, automatisch nobilitiert werde. Ich trat einem Wohltätigkeitsorden für Gefühle bei.
The Beauty—spiritual and physical—of the South lies in the factor that God has done so much for it and man so little. I have this for which to thank whatever gods may be: that having fixed my roots in this soil all contact, saving by the printed word, with contemporary poets is impossible.
Die—spirituelle und physische—Schönheit des Südens liegt in der Tatsache, daß Gott so viel für ihn getan hat und der Mensch so wenig. Dafür habe ich welchen Göttern auch immer zu danken: mir, der in diesem Boden fest verwurzelt ist, ist jeder Kontakt, außer durch das gedruckte Wort, mit zeitgenössischen Dichtern unmöglich.
That page is closed to me forever. I read Robison and Frost with pleasure, and Aldington; Conrad Aiken’s minor music still echoes in my heart; but beyond these, that period might have never been. I no longer try to read the others at all.
Diese Seite ist mir auf ewig verschlossen. Robi[n]son⁶ und Frost⁷ lese ich mit Vergnügen, und Aldington⁸; Conrad Aikens⁹ Musik in Moll findet noch ein Echo in meinem Herzen; aber die Zeit nach ihnen ist so gut wie nie gewesen. Die anderen nehme ich überhaupt nicht mehr zur Kenntnis.
It was “The Shropshire Lad” which closed the period. I found a paper-bound copy in a bookshop and when I opened it I discovered there the secret after which the moderns course howling like curs on an old trail in a dark wood, giving off, it is true, an occasional note clear with beauty, but curs just the same. Here was the reason for being born into a fantastic world: discovering the splendor of fortitude, the beauty of being of the soil like a tree about which fools might howl and which winds of disillusion and death and despair might strip, leaving it bleak, without bitterness; beautiful in sadness.
Es war “The Shropshire Lad”,¹⁰ der diese Periode abschloß. Ich fand einen Pappband in einem Buchladen, und als ich ihn aufschlug, entdeckte ich darin das Geheimnis, dem die Modernen hinterherheulen wie Köter auf einer kalten Spur im dunklen Wald, wobei sie, das ist wahr, gelegentlich einen reinen Ton von Schönheit von sich geben, aber gleichwohl Köter bleiben. Hier lag der Grund dafür, in eine phantastische Welt hineingeboren zu sein: die Herrlichkeit der Stärke zu entdecken, die Schönheit, aus dem Boden zu stammen wie ein Baum, den Narren umheulen und den Winde der Desillusionierung, des Todes, der Verzweiflung entlauben und öde zurücklassen mögen, ohne Bitterkeit; schön in Traurigkeit.
From this point the road is obvious. Shakespeare I read, and Spencer, and the Elizabethans, and Shelley and Keats. I read “Thou still unravished bride of quietness” and found a still water withal strong and potent, quiet with its own strength, and satisfy-ing as bread. That beautiful awareness, so sure of its own power that it is not necessary to create the illusion of force by frenzy and motion. Take the Odes to a Nightingale, to a Grecian Urn, “Music to hear,” etc.; here is the spiritual beauty which the moderns strive vainly for with trickery, and yet beneath it one knows are entrails; masculinity.
Von diesem Punkt an ist der Weg deutlich. Shakespeare¹¹ las ich und Spencer¹² und die Elisabethaner¹³ und Shelley und Keats. Ich las „Du immer unberührte Braut der Stille“¹⁴ und fand ein Wasser, still und zugleich stark und wirksam, ruhig kraft eigener Stärke und sättigend wie Brot. Jenes schöne Gewahrwerden, so sicher seiner eigenen Kraft, daß es nicht nötig ist, die Illusion durch wahnhafte Bewegtheit zuwege zu bringen. Nehmen wir die Oden an eine Nachtigal, an eine griechische Urne¹⁵, „Musik zu hören“¹⁶ u.a.; hier ist die spirituelle Schönheit, nach der die Modernen trickreich vergebens streben, und unter ihr erkennt man Leiblichkeit; Maskulinität.
Occasionally I see modern verse in magazines. In four years I have found but one cause for interest; a tendency among them to revert to formal rhymes and conventional forms again. Have they, too, seen the writing on the wall? Can one still hope? Or is this age, this decade, impossible for the creation of poetry? Is there nowhere among us a Keats in embryo, someone who will tune his lute to the beauty of the world? Life is not different from what it was when Shelley drove like a swallow southward from the unbearable English winter; living may be different, but not life. Time changes us, but Time’s self does not change. Here is the same air, the same sunlight in which Shelley dreamed of golden men and women immortal in a silver world and in which young John Keats wrote “Endymion” trying to gain enough silver to marry Fannie Brawne and set up an apothecary’s shop. Is not there among us someone who can write something beautiful and passionate and sad instead of saddening?
Gelegentlich sehe ich moderne Verse in Zeitschriften. In vier Jahren habe ich dort nur einmal etwas gefunden, das mein Interesse weckte; eine Tendenz unter ihnen, sich formalen Rhythmen und konventionellen Formen wieder zuzuwenden. Haben auch sie die Menetekel an der Wand gelesen? Kann man noch hoffen? Oder ist diese Zeit, diese Dekade unfähig, Dichtung zu schaffen? Ist da nirgendwo unter uns der Embryo eines Keats, jemand, der seine Laute auf die Schönheit der Welt stimmen will? Leben ist nicht verschieden von dem, was es war, als es Shelley wie eine Schwalbe aus dem unerträglichen englischen Winter südwärts zog; Lebensstil mag sich ändern, aber Leben nicht. Zeit wandelt uns, aber Zeit selbst wandelt sich nicht. Hier ist dieselbe Luft, derselbe Sonnenschein, in dem Shelley von goldenen Männern und Frauen träumte, unsterblich in silberner Welt, und in dem der junge John Keats „Endymion“ schrieb, um genug Silber zu ergattern, um Fannie Brawne zu heiraten und eine Apotheke einzurichten. Gibt es denn keinen unter uns, der etwas Schönes, Leidenschaftliches, Trauriges schreiben kann, anstatt uns in Trauer zu stürzen?
William Faulkner.
Oxford, Mississippi.
October, 1924.
Günter Plessow, 2009
¹ Algernon Charles Swinburne (1837-1909), u.a. Poems and Ballads
² Percy Bysshe Shelley (1792-1822), u.a. Ode to the West Wind
³ John Keats (1795-1821), u.a. Endymion (1818), (The Fall of) Hyperion (1820)
⁴ D(avid) H(erbert) Lawrence (1885-1930), u.a. Love Poems and Others (1913), Amores (1916)
⁵ Omar Khayyám´ (Omar the Tentmaker, 11. Jh.), 'The Rubáiyat', persisches Gedicht, das in der freien englische Übersetzung Edward FitzGeralds (1. Fassung 1859) sehr populär wurde.
⁶ Edwin Arlington Robinson (1869-1935)
⁷ Robert Lee Frost (1874-1963)
⁸ Richard Aldington (1892-1962), u.a. Images (1910-1915)
⁹ Conrad Aiken (1859-1963)
¹⁰ Alfred Edward Housman (1859-1936), The Shropshire Lad (1896)
¹¹ William Shakespeare (1564-1616); s.u.
¹² Edmund Spencer (1552-1599), u.a. The Fairy Queen (1590), Amoretti (1595)
¹³ neben Spencer und Shakespeare u.a. Christopher Marlowe (1564-1593), Philip Sidney (1554-1586), Samuel Daniel (1562-1619), Michael Drayton (1563-1631)
¹⁴ Thou still unravished bride of quietness……Beginn der Ode on a Grecian Urn
¹⁵ John Keats, Ode to a Nightingale, Ode on a Grecian Urn
¹⁶ William Shakespeare, Sonnet 8: Music to hear… (1609)